Archiv

documenta 14
"So etwas gab es in Griechenland noch nie zuvor"

Mit der documenta 14 in Athen habe die griechische zeitgenössische Kunst plötzlich die internationale Bühne betreten, sagte die Leiterin des Athener documenta-Büros, Marina Fokidis, im Dlf. Sie hatte die "Kunsthalle Athena" zum Klimax der griechischen Finanzkrise initiiert, begleitet von der Wut auf Deutschlands Spardiktat - denn: "Künstler werden stärker in Zeiten der Krise".

Marina Fokidis im Gespräch mit Barbara Schäfer |
    Ausstellung von Andreas Angelidakis bei der documenta 14 in Athen: graue Blöcke sind in einem Raum gestapelt
    Graue Blöcke: der griechische Künstler Andreas Angelidakis bei der documenta 14 in Athen (dpa / Alexia Angelopoulou)
    Barbara Schäfer: Marina Fokidis, Gründerin des Athener Magazins South as a state of mind, welche Idee steckte hinter dieser Namensgebung?
    Marina Fokidis: Vielen Dank für diese Frage, die Idee war zu diesem Zeitpunkt, 2012, etwas auszudrücken, was in Griechenland vor sich ging, in Europa und im Allgemeinen. Unsere Beobachtungen dazu gingen über einige Jahre, normalerweise verbindet man mit dem Begriff des Südens, so wie wir es wahrnahmen, die südliche Hemisphäre. In der südlichen Hemisphäre wiederum gibt es viele Länder, die eine koloniale und postkoloniale Geschichte vereint. Der Diskurs darüber, dort fällt auch der Begriff Neo‑Kolonialismus, ist redundant. Wenn man sich damit beschäftigt, denkt man, der Kolonialismus hätte nie aufgehört. Das ist der Hintergrund.
    Zu dieser Zeit, 2012, wurde Griechenland in den Medien zunehmend als "der Süden", also der Süden Europas, dargestellt. Als Konnotation war das an sich nicht verkehrt, aber wir wollten herausfinden, warum das so zunahm. Denn zuvor war Griechenland immer als Land mit östlichen Qualitäten oder als die Wiege der westlichen Zivilisation bezeichnet worden.
    Und dann waren wir plötzlich Teil der PIGS, falls Sie sich erinnern, das sind Portugal, Italien, Griechenland und Spanien. Und PIGS bedeutet ja auch Schwein, ein Tier.
    So näherten wir uns an für das Magazin South as a state of Mind, was wir dort diskutieren wollten, war auch eine Anerkennung dieses Teils von Europa.
    "Wenn Süden ein Geisteszustand ist, ist Westen auch einer"
    Da gibt es so spezifische Bewertungen, Stereotype, wie zum Beispiel: Im Süden schreien die Menschen laut herum, sie sind verdorben, sie mögen nicht viel arbeiten. Viele Charakteristiken, die scheinbar auch mit dem Wetter zu tun haben: Die Sonne scheint, die Menschen verbringen einen großen Teil des Lebens draußen. Für uns im Süden aber ist das Draußensein ein sozialer Brauch, das bedeutet Kommunikation, nicht nur, Spaß zu haben.
    All das spielte für die Gründung von South as a state of mind eine Rolle: die Aneignung der Aufklärung, der westlichen Zivilisation, die Idee des antiken Griechenlands - wir sehen das auf der documenta 14 in der Neuen Galerie nochmal in der Person von Johann Winkelmann, der Griechenland verehrte und malte, bevor er es je betreten hat.
    Wir meinten, das Territorium, das Land, die Landschaft könnten ein Geisteszustand des Südens sein. Und daraus folgt: Wenn der Süden ein Geisteszustand ist, dann ist der Westen auch einer.
    Wir wollten eine Alternative anbieten zu den Stereotypen, die zur Geschichte, zur Moderne, zur Gesellschaft und Wirtschaft des Südens existieren.
    Stellen wir doch all die vorherrschenden Charakteristiken von Griechenland infrage, die einmal von Winkelmann, von der Presse, von wem auch immer geschaffen wurden, und drehen sie um zu Tugenden.
    In der allerersten Ausgabe des Magazins stellten wir die These auf, dass weniger zu arbeiten eben auch bedeuten kann, sich des Konsumdenkens zu erwehren. Das heißt ja nicht nur, dass man weniger Leistung bringt.
    Wir haben die Stereotypen herausgefordert. Territorium nach dem philosophischen Ansatz von Deleuze bedeutet auch De-Territorialisierung, Enträumlichung. Das Territorium definiert nicht notwendigerweise die Menschen, die dort leben. Andersherum: Die Menschen definieren das Territorium, auf dem sie leben.
    Wenn wir von der Europäischen Union sprechen, die eine große Idee ist vor allem für den Frieden, dann fragt man sofort: Wer sind die Menschen Europas? Da gibt es so viele Kulturen. Und das bringt mich zurück zu dem griechischen Wort "polis". Polis ist ein Staat, eine Stadt, eine Gemeinschaft der Bürger, und nicht umgekehrt etwas eigenes - ohne Menschen gültiges.
    Bild von Marina Fokidis, Kuratorin der documenta 14 in Athen
    Die griechische Kuratorin Marina Fokidis, geboren in Thessaloniki, leitet das documenta-Büro in Athen. Sie initiierte in der griechischen Hauptstadt die alternative Kunsthalle Athena, die als experimentelle Plattform begann. 2012 gründete sie das essayistische Magazin "South as a state of mind", das für die documenta 14 in vier Extra-Ausgaben erschienen ist.

    Die erfahrene Ausstellungsmacherin und Kunstautorin war 2000 bis 2008 Co-Direktorin von Oxymoron, einer Non-Profit-Organisation, die sich für die Förderung zeitgenössischer bildender Kunst in Griechenland international einsetzte. 2013 bis 2015 war sie Stipendiatin an der Akademie Schloss Solitude in Stuttgart.
    "Die meisten Kunstmagazine funktionieren nur mit Anzeigen"
    Schäfer: Die Autoren der ersten Ausgabe im Jahr 2012, waren das griechische Autorinnen und Autoren oder internationale? Und in welcher Weise wurde es ein Kunstmagazin?
    Fokidis: Es war unser Vorhaben, mit vielen schreibenden Kollegen auf der ganzen Welt zusammenzuarbeiten. Sie waren international und teils auch sehr bekannt. Auch in den vier documenta-Ausgaben, die jetzt erschienen sind, sind viele der Autorinnen und Autoren vertreten, Intellektuelle, Kritiker, Künstler, die wir auch in den ersten Ausgaben drin hatten.
    Dass es ein Kunstmagazin wird, war auch eine Herausforderung, die wir bewusst gesucht haben. Wir wollten nicht die Magazine kopieren, die mit Kunstkritiken und Ausstellungsberichten operieren, davon gibt es ja genug. Die meisten funktionieren ja nur mit großen Werbeanzeigen der Kunstveranstalter und Kunsthäuser. Und wir wollten Werbung vermeiden. Also haben wir die Möglichkeit der ursprünglichen, sachdienlichen und wesentlichen Form der Zeitschrift diskutiert, die sich direkt für die Arbeit der Künstler interessiert. Das ging von der Kunsthalle Athena aus, eine Stiftung, die wir auch in Griechenland deutsch "Kunsthalle" aussprechen. Sie ist im Moment geschlossen, weil das Gebäude nur im Sommer benutzbar war, später gar nicht mehr. Die Zeitschrift wurde also die Verlängerung der Kunsthalle Athena in anderer Form - eine Plattform für den Kunstdiskurs.
    Schäfer: Da schließt dann meine nächste Frage an, warum wird "Kunsthalle" in Athen deutsch gesprochen?
    Fokidis: Das kann ich erklären. Die Biennalen in der Welt sind inzwischen ein Genre der Kunstausstellung und ein stehender Begriff. Dieser kommt aber von bi-anual, dem alle zwei Jahre stattfindenden. Das hat sich weltweit durchgesetzt.
    Ebenso durchgesetzt hat sich "Kunsthalle" als Begriff in vielen südlichen Ländern. Was wir in der Kunst außerhalb Deutschlands damit meinen, ist etwas, das der deutschen Erfindung des Kunstvereins ähnlich ist. Aber das Wort ist schon so schwer auszusprechen für Nicht-Deutsche. Kunsthalle steht für ein flexibles Kunstzentrum, das nicht unbedingt eine Sammlung haben muss und öffentlichkeitsnah arbeiten kann. Das bedeutet vor allem, es ist keine private Stiftung und kein kommerzielles Haus.
    "Mangel an Orten für zeitgenössische Kunst"
    Nachdem wir die Kunsthalle Athena gegründet haben, ist auch eine Kunsthalle in Portugal entstanden und eine in São Paulo. Wir haben unsere in Athen während der großen Krise aufgemacht, 2010. Meine Kollegen und ich arbeiteten damals in verschiedenen Kunsthallen dieser Welt, Adam Szymczyk zum Beispiel in der Kunsthalle Basel, Beatrix Ruf in der Kunsthalle Zürich, die offensichtlich etwas anders organisiert sind.
    Eine Ausstellungsbesucherin betrachtet am 23. Juni 2013 die Installation "The Shop" des Künstlers Andreas Angelidakis. Die Ausstellung "This must be the place" in der inzwischen abgerissenen "Kunsthalle Athene" in Athen zeigte  im Sommer 2013 künstlerische Positionen zur Krise in Europa und Performances zur "politischen Rede". AFP PHOTO / LOUISA GOULIAMAKI
    Die Schau "This must be the place" in der "Kunsthalle Athene" zeigte im Sommer 2013 künstlerische Positionen zur Krise. Inzwischen ist sie abgerissen. (AFP / Louisa Goulimaki)
    Aber in Griechenland gab es einen Mangel an Orten für zeitgenössische Kunst. Keine Sammlung, kein Museum, nur private Sammler und Galeristen. Also, es gab private Stiftungen, die von Einzelpersonen-Sammlern geführt werden. Es gab ein Museum für zeitgenössische Kunst, das Gebäude aber war ohne Dach, es gab kaum Öffnungszeiten. Und dazu noch einige städtische Kunstmuseen, die kaum Veranstaltungsprogramme haben und die ebenso kaum geöffnet waren.
    Also sagten wir uns damals, lasst uns eine einzige Ausstellung machen, um die Kunsthalle Athena zu eröffnen. Lasst uns ein Kunsthallennetzwerk aufmachen, das jüngere Künstler präsentiert, flexibel ist, keine Sammlung anlegt.
    2008 und 2009 waren schlimme Jahre, aber 2010 zog die Krise nochmal mächtig an, und die Rivalität zwischen Deutschland und Griechenland nahm stark zu. Und da haben das Team und ich gedacht: Warum nicht gerade jetzt mit einem positiv besetzten deutschen Begriff an die Öffentlichkeit gehen! Kunsthalle Athena - ein deutsches und ein griechisches Wort.
    Warum es die Kunsthalle Athena nicht mehr gibt
    Schäfer: Die deutsche Idee des Kunstvereins beruht auf der Grundlage von Mitgliedern, die Kunst vermittelt bekommen möchten. Hat die Kunsthalle Athena Mitglieder?
    Fokidis: Nein, aber es kamen aber 3.000 bis 4.000 Leute zur Eröffnung und wir wurden augenblicklich Mitglied des internationalen Kunsthallennetzwerks. Damit konnten wir weitermachen. Wir bekamen überhaupt keine öffentlichen Gelder. Zu der Zeit bekamen ja nicht einmal Krankenhäuser öffentliche Mittel. Wir haben das Mitgliedermodell versucht. Aber in Griechenland funktioniert das nicht so gut. Alle sind die private Kunstszene gewohnt und wollen ihren Namen lesen, wenn sie etwas fördern. Auch wenn sie nur eine geringe Summe investieren, wollen sie ihren Namen lesen. Da haben wir gesagt, das Wichtigste ist es, unabhängig zu bleiben. Unabhängigkeit ist eine Währung, am Ende - um mit Adam Szymczyk zu sprechen - ist Liebe die stärkere Währung als der Euro.
    So ist es immer noch besser einen Künstler einzuladen nach Athen und ihm zu sagen, es gibt kaum oder kein Geld, aber wir interessieren uns sehr für euch. Wir arbeiten hart dran, diese Zusammenarbeit mit den anderen Kunsthallen zu erhalten. Es gibt schon Leute, die sagen, sie würden gern Mitglied zu diesen Bedingungen werden.
    Schäfer: Was passierte mit dem Gebäude für die Kunsthalle Athena, warum gibt es das nicht mehr?
    Fokidis: Das Gebäude war eine Ruine, eine tolle Plattform oder Bühne für Kunst. Doch dann entschieden sich die Besitzer, es zu verkaufen, wonach es renoviert werden sollte. Wir sind aber in Verhandlungen über ein neues Gebäude in Athen.
    Schäfer: Kunsthalle Athena, haben wir erfahren, ist nicht nur ein Ort, ein Gebäude, sondern auch ein Magazin, das South as a state of mind heißt. Zur documenta 14 in diesem Jahr wurde es in vier Ausgaben veröffentlicht, herausgegeben von documenta-Leiter Adam Szymczyk und der Kunst‑Autorin Quinn Latimer. Wie häufig erschien das Magazin davor schon?
    Fokidis: Wir publizieren zweimal jährlich. Und in dem Rhythmus wollen wir auch weiter machen, unabhängig, ohne documenta gGmbH.
    "Es gab Kollaborationen, wo man nie dran geglaubt hatte"
    Schäfer: Die Krise und die Kunst: Die erste Nummer von South erschien 2012, inmitten der Krise. Was passierte eigentlich mit der Kunstszene in Griechenland und der in Athen, als die Krise anzog?
    Fokidis: Die Kunst in ganz Griechenland ist betroffen.
    Das ist sehr ernst, normalerweise sagt man, der Himmel sei das Limit nach oben, aber wir Griechen verstehen nicht, wohin das alles führt. Wir sind auch immer noch nicht bereit, in die Opferrolle zu schlüpfen. Es gibt sicher noch schlimmere Orte auf der Welt, noch aussichtslosere Situationen. Aber eines der schlimmsten Dinge ist der Bruch. Der Bruch mit den bislang geltenden Regeln. Beispielsweise für die Steuer in Griechenland, das ist nicht sehr klug von der Regierung. Ich muss mehr Steuern abgeben, als ich im ganzen Jahr verdiene. Ein Beispiel: Wenn du ein altes Auto fährst, 15 oder 16 Jahre alt, das viel PS hat, dann musst du dafür jetzt so viel Steuern zahlen wie für ein neues Auto. Das ist alles verrückt für viele Griechen, von einem Moment auf den anderen musst du so viel Steuern zahlen, dass es dein Einkommen übersteigt. Überlegen Sie sich, was das mit den Menschen macht.
    Zurück zur Kunst: In der griechischen Kunst waren wir das immer gewohnt, es gab noch nie eine geordnete Subvention oder Unterstützung. Damit konnten wir umgehen. Aber wir alle haben nicht mit der jahrelangen Krise gerechnet, wir sind davon ausgegangen, dass es nach ein paar Jahren wieder aufwärts geht.
    Was passierte in der Kunstwelt? In einer Krise arbeiten Künstler häufiger zusammen, sie produzieren viel. Sie sind sehr sensibilisiert, was die Lage angeht. Es gab Kollaborationen da, wo man nie dran geglaubt hatte, dass es sie geben könnte. Soweit ich das übersehen kann, ist die Kunstproduktion in Griechenland von 2009 bis heute unvergleichbar groß und kreativ. Es war eine sehr energische Antwort, eine alternative Sichtweise.
    Not macht performativ
    Schäfer: Vielleicht eine naive Frage, aber haben denn Künstler in Griechenland Geld für Farben, Video und andere Materialien, um Kunst herzustellen?
    Fokidis: Überhaupt nicht. Hatten sie zuvor auch nicht. Deswegen suchen die Arbeiten der griechischen Kunst auch Alternativen, sie werden performativer. Eine Menge Plattformen werden gegründet, wo Künstler ihre Arbeiten zeigen, natürlich immer unkommerziell.
    Absperrband hängt am 01.06.2017 in Kassel (Hessen) am Aufgang zum documenta-Kunstwerk "The Parthenon of Books" der argentinischen Künstlerin Marta Minujín.
    Marta Minujíns "Parthenon der Bücher" auf der documenta 14. Es ist dem griechischen Athene-Tempel Parthenon nachempfunden, ist aber mit verbotenen Büchern aus aller Welt verkleidet. (picture alliance / dpa - Uwe Zucchi)
    Schäfer: Vielleicht ist es in diesem Zusammenhang wichtig zu ergänzen, dass die Sammlung griechischer zeitgenössischer Kunst, genannt EMST, auf der documenta 14 im Fridericianum sehr exponiert ausgestellt wird, in Athen aber gab es bislang keinen Raum, sie zu zeigen.
    Fokidis: Ich will erklären, was es damit auf sich hat: Es gibt ein Gebäude in Athen, das Nationale Museum für Zeitgenössische Kunst, das für die Sammlung EMST gebaut wurde. Das EMST sammelt seit 2000 griechische und internationale Kunst von der Nachkriegszeit bis in die Gegenwart. Und die Idee von Adam Szymczyk und seinem Team war, einen Austausch herzustellen. Der bestand darin, dass die documenta mit Finanzmitteln aushalf, um das Nationalmuseum eröffnen zu können. Das ist nun der Hauptveranstaltungsort der documenta 14 in Athen. Das Fridericianum wiederum ist der Hauptveranstaltungsort der documenta in Kassel, also besteht der Austausch darin, die Sammlung EMST in Kassel erstmalig zu zeigen. Das ist eine sehr teure Operation, dieser Austausch. Und die documenta14 hat all das bezahlt. Das war ein richtig großer Anstoß. Und um das noch mal klar zu machen: Das Problem war nicht das fehlende Gebäude, sondern es fehlt das Geld, es zu betreiben. Keine Elektrizität, keine Funktionsbereitstellung. Ich hoffe sehr, dass sich das bald ändert.
    Bereits 200.000 documenta-Besucher in Athen
    Schäfer: Wie reagieren die Griechen auf das deutsche Hilfsgeld in diesem Fall?
    Fokidis: Auf der einen Seite wundervoll. Es gab bereits 200.000 documenta-Besucher in Athen. Das ist ein riesiger Erfolg, so etwas gab es in Griechenland noch nie zuvor. Das hat die ganze Kunstwelt angekurbelt, nicht nur die Besucher. Jetzt hat gerade jeder kleine Kunstort richtig internationales Publikum und Aufmerksamkeit. Das Ergebnis davon können wir noch gar nicht absehen.
    Auf der anderen Seite, der Anti-Seite, gibt es diejenigen, die mit Fake Stories Karriere machen. Ich habe vor kurzem einen Artikel gelesen, sogar mit Zitat von Ex-Finanzministers Yanis Varoufakis, der sagt, die griechischen Institutionen hätten für die ganze EMST-Operation fast draufzahlen müssen. Kleine Überraschung! Da wird es eine offizielle Antwort geben, auf jeden Fall ist das nicht wahr. Da fragt man sich schon, warum die Menschen Feindlichkeit und Verleumdung erfinden, um sich einen Vorteil zu verschaffen.
    Schäfer: Das lassen wir mal so stehen. Hat denn die griechische Kunst einen Stellenwert auf dem internationalen Kunstmarkt?
    Fokidis: Heute, realistischerweise: Nein. Es gibt großartige Künstler, und die werden sich durchsetzen.
    "Museen und Ministerium haben keine Strategie"
    Schäfer: Die documenta hilft dabei.
    Fokidis: Ja, aber darauf sind wir nicht konzentriert, es geht nicht um Kunst für einen Markt. Aber natürlich, das hilft. Sowie das Magazin South geholfen hat, die Kunsthalle Athena geholfen hat. Das Problem ist, die nationalen Museen und das Kulturministerium haben keine Strategie, um griechische Kunst international bekannt zu machen. Es geht ihnen immer nur um auf den Ort konzentrierte Kunst. Für das Überregionale, Internationale interessieren sie sich nicht.
    Ein anderes Problem, das daraus resultiert, ist, dass griechische Sammler mit sehr viel Geld immer nur nach internationaler Kunst geschaut haben, nie nach griechischer. Sie haben ein bisschen mitgeholfen, aber nicht so sehr, wie es ihnen möglich wäre, griechische Kunst international bekannt zu machen.
    Gestern zum Beispiel war ich hier auf einem Dinner der Sindika Dokolo African Collection of Contemporary Art aus Angola. Was diese Stiftung und der im Kongo geborene Kunstsammler Sindika Dokolo auf die Beine stellt, welche Mittel er zusammenbringt, um Kunst in und aus Angola zu kaufen und sie auszustellen, ist absolut erstaunlich.
    In Griechenland also das genaue Gegenteil, diese Art von Sammlern gab es dort gar nicht, zumindest bis heute nicht.
    Und so gibt es eben kaum bekannte Künstler aus Griechenland auf dem Markt, natürlich der vor kurzem verstorbene Jannis Kounellis, aber der lebte nicht in Griechenland.
    documenta in Athen: "Es wird viel davon bleiben"
    Schäfer: Zwei Fragen noch: Sie, Marina Fokidis, sind ursprünglich aus Thessaloniki, auch wenn Sie heute in Athen leben. Ich dachte immer, Thessaloniki sei der Ort der zeitgenössischen Kunst in Griechenland. Dort gibt es seit 2007 die Biennale, ein staatliches Museum für zeitgenössische Kunst, eine Internationale Kunstmesse seit 2016, kurzum viel Interesse für zeitgenössische Kunst. Stehlen sich Athen und die documenta im Moment Kunstkenntnis aus Thessaloniki?
    Fokidis: Nein, wahrlich nicht. Im Gegenteil. Griechenland ist so klein. Ich bin aus Thessaloniki, mein Herz schlägt für Thessaloniki, ich war 2011 selbst Kuratorin auf der 3. Biennale dort auf Vorschlag der damaligen Tate‑Direktorin Jessica Morgan. Und es gibt dort die überaus wichtige Costakis-Sammlung der russischen Avantgarde! Aber eines ist richtig. Thessaloniki ist so viel kleiner als Athen, die Institutionen konnten geöffnet bleiben und betrieben werden, ob Kunst oder Film. Viel einfacher als in der Hauptstadt. Aber all das, auch die Costakis-Sammlung, haben im Moment Schwierigkeiten und leiden an Geldmangel. Auch dafür sind die documenta‑Aufmerksamkeit und das Motto "Von Athen lernen" wichtig.
    Schäfer: Nach zwei Monaten documenta 14 in Athen, was ist Ihre Bilanz?
    Fokidis: Ich denke, es war eine gute Geste. Es wird viel bleiben. Ich beobachte, dass die Leute zu verstehen beginnen, dass es nicht um eine deutsch-griechische Auseinandersetzung um Geld geht, sondern dass es ein größeres, globales Problem gibt. Und dass das Geld, das die documenta gebracht hat, auch eine direkte Spende von Bürger zu Bürger ist, auf gleicher Höhe. Auch gerade nachdem in Kassel die documenta eröffnet hat, wird deutlich, dass dort keine Regierung dahinter steht, die uns kolonisieren will. Es wird deutlich, dass es sich um Menschen handelt, die mit ihrem Steuergeld uns etwas bieten wollen, die wir keine Steuern zahlen und zahlen können, keinen Wohlfahrtsstaat auf Basis von Steuergeldern haben. Und das ist nicht als Einbahnstraße gemeint, sondern hin wie her, es ist Geben und Nehmen. In der Ausstellung gibt es so viel, was ohne die Existenz von Athen nicht denkbar wäre. Es wird viel davon bleiben. Starke Netzwerke zwischen Menschen, Institutionen, Künstlern und Kunstwerken. In Deutschland gibt es ja zum Beispiel das Museum Global, für Sammlungen des 20. Jahrhunderts in globaler Perspektive, das ist eine solide Sache.
    Künstler werden stärker in Zeiten der Krise
    Schäfer: Haben denn die Künstler in Athen wirklich mehr produziert durch die documenta-Stimmung? Wird es sichtbare Kunst oder auch eine neue Kunstszene dadurch geben?
    Fokidis: Ich habe vor langer Zeit ein wunderbares Kunstwerk des irischen Künstlers Phil Collins gesehen, nicht der Musiker, der Künstler. Das heißt Holiday in Someone Else's Misery.
    Was ich daraus schließe: Künstler werden stärker in Zeiten der Krise. Sie haben eine alternative Stimme und sie sind kreativ. Und jetzt sind die griechischen Künstler, die griechischen Besucher, das Publikum der Ausstellungen dieser unter den schwierigen Bedingungen entstandenen Kunst ausgesetzt. An Orten, die sie vorher nicht kannten.
    Dabei entsteht nicht gleich "die griechische Kunst", wie man das vielleicht von der britischen Kunst sagt. Ich will das nicht gleichstellen. Aber: die griechische Kunst betritt die internationale Bühne.
    documenta 14 - Gedanken zur Kunst. Marina Fokidis im Gespräch mit Barbara Schäfer. Aus dem Englischen von Barbara Schäfer. Mit Christina Puciata. Technik: Markus Braun. Regie: Barbara Schäfer. Redaktion: Barbara Schäfer. Erstsendung: 25.6.2017

    Marina Fokidis über die Zerstörung des Parthenon
    In der documenta-Ausgabe des Magazins veröffentlichte Marina Fokidis folgenden Artikel im Zusammenhang mit dem zentralen Parthenon‑Kunstwerk von Marta Minujín auf dem Friedrichsplatz in Kassel:
    "Zur Zeit seines berüchtigten 'Aufrufs' des Jahres 1944, in dem er die Zerstörung des Parthenons forderte, war der Dichter und Künstler Georgos Vassiliou Makris (1923–1968) eine unbekannte Randfigur der Künstlerszene Athens. Seine radikale Idee, eine der in Griechenland am höchsten geschätzten und symbolischsten historisch bedeutsamen Stätten zerstören zu wollen, schien eine völlig unpatriotische und unmoralische Geste zu sein; dennoch fesselte sie das Interesse einiger Intellektueller, die in ihr möglicherweise einen rettenden Akt angesichts der Tyrannei der Geschichte und des Absolutismus der Ideologie sahen.
    Makris' 'Aufruf' war weder ein Manifest im engen Sinne noch eine detaillierte Anweisung für einen Akt der Gewalt. Es handelte sich vielmehr um einen performativen Text, der dem Wunsch Ausdruck verlieh, sich von den geheiligten Urformen zu befreien, die schon so oft im Konflikt politischer Absichten in Dienst genommen worden waren. Der Parthenon war natürlich zuallererst selbst Sinnbild für die Neukonstituierung Griechenlands, indem er wie das Land unter den Auswirkungen der Armut und den Kriegsfolgen litt und so einen Brennpunkt der nationalen Moral bildete. Ebenso symbolisierte er die Entwicklung der griechischen Tourismusindustrie, wenn er als Ausrede für all die Ungerechtigkeiten herhalten musste, die in ihrem Schatten geschahen. Makris schien sich gegen die Leere einer Bewunderung zu wenden, die diesem historischen Denkmal galt; während die politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Zerstörung Athens zu Füßen des Parthenons sich unaufhaltsam fortsetzte, blieb er selbst auf gewisse Weise unangetastet.
    Makris’ kritische Geste erfolgte nur wenige Jahre, nachdem Apostolos Santas und Manolis Glezos am 31. Mai 1941 die Hakenkreuzfahne vom Parthenon entfernt hatten, um durch diese Tat ihren griechischen Mitbürgern im Kampf gegen die deutschen Besatzer Mut zu machen. Nach seinem Gefängnisaufenthalt wurde Glezos zum Symbol des Widerstands in Griechenland, und es folgte eine lange politische Karriere als Vorsitzender der kommunistischen EDA und der sozialistischen PASOK. Im Gegensatz zu ihm sprachen über Makris nur einige wenige.
    'Er hatte keine Wohnung, keine Arbeit und keinen akademischen Titel, er erhielt keine Auszeichnungen, und es gab kein Verzeichnis seiner Werke in einer Gesellschaft, die der Idee des Besitzes, der Macht und der angemaßten Titel verfallen war', schreibt der Dichter Gonatas in der Einführung zu der einzigen Ausgabe von Makris’ Schriften, die 1986, lange nach seinem Tod, veröffentlicht wurde. Am 31. Januar 1968 sprang Makris von der Dachterrasse seines Wohnhauses. Man sagt, er hätte der Concierge, als sie sah, dass er nach oben ging und ihn fragte, ob er etwas benötige, geantwortet: 'Nein, keine Sorge, ich bin gleich wieder unten.'"
    Marina Fokidis: South as a state of mind, Ausgabe 6. Nachzulesen auch hier.