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Doku über "Bild"-Zeitung
Männerwelt ohne Selbstzweifel

Einen authentischen Einblick in den Redaktionsalltag von "Bild" verspricht eine neue Doku-Serie von Amazon. "Bild.Macht.Deutschland?" bietet tatsächlich viele Einsichten in ein Medium voll journalistischer Hybris - aber nur wenig kritische Einordnung, findet Michael Borgers.

Von Michael Borgers | 17.12.2020
"Bild"-Chefredakteur Julian Reichelt macht ein Selfie mit Joshua Wong, Demokratie-Aktivist der Proteste in Hongkong, bei dessen Eintreffen zur Bild100-Party mit Persönlichkeiten aus Politik, Gesellschaft und Sport.
Immer unter Strom: "Bild"-Chefredakteur Julian Reichelt mit dem Hongkonger Demokratie-Aktivisten Joshua Wong (picture alliance/dpa/Michael Kappeler)
Starke Bilder, schnelle Schnitte, spannungsvolle Musik: Das ist die Grundstimmung der Dokumentation von Sekunde eins an. Im O-Ton: "Erstmals durfte ein Kamerateam exklusiv ein Jahr die Arbeit der ‚Bild‘-Macher dokumentieren. Dann kam das Virus, die Pandemie."
Reichelt als Instinkt-Journalist, der auch mal laut wird
Corona - das Thema, das auch die Doku-Reihe mit dem Titel "Bild. Macht. Deutschland?" im Griff hat. Mit dem Konflikt, einer Art Leitthema, das zeigt, wie die Zeitung und ihre Macher sich damit auseinandersetzen, arbeiten – und polarisieren, wie dieser Ausschnitt zeigt:
"Er gilt als Star-Virologe und in der Corona-Krise als wichtiger Berater der Kanzlerin: Professor Christian Drosten." Und dann: Vorhang auf für Julian Reichelt. Der Chefredakteur der "Bild" kommt an seinem Schreibtisch zu Wort: "Es gibt in der Bundesregierung massiven Unmut darüber, politische Entscheidungen getroffen zu haben auf der Grundlage dieser Studie von Professor Drosten. Und das habe ich erfahren."
Christian Drosten, Direktor des Instituts für Virologie der Charité
"Bild" gegen Christian Drosten: Ende der Deutungshoheit
In einer Kampagne diskreditierte die "Bild" die Forschung des Virologen Christian Drosten. Doch diejenigen, die sich die "Bild" als Opfer aussuche, seien nicht mehr wehrlos, kommentiert Stefan Fries.
Wahrscheinlich am Telefon, seinem Smartphone, das er in den nächsten gut 350 Minuten dieser Dokumentation gefühlt nur aus der Hand nehmen wird, um eine Zigarette zu rauchen oder etwas zu essen. Reichelt ist immer unter Strom, ein Instinkt-Journalist, der viel lacht, oft über seinen eigenen Zynismus, der auch mal laut wird:
"Wenn ihr das Gefühl habt, irgendwo funktioniert was nicht: Es wird im Moment niemand neben euch stehen und es fixen für euch. Das fixen wir entweder selber oder wir gucken uns in drei, vier Monaten an und sagen: Hm, von 'ner halben Million Auflage, die weg ist, ist gar keiner wiedergekommen. Und dann müssen wir nicht mehr darüber reden, wo die 500 Reporter sind. Weil dann haben wir keine 500 Reporter mehr."
Nachrichten von den Mächtigen aufs Handy
Aber noch sind sie da, die Reporterinnen und Reporter, und wie: immer unterwegs. Ob in Sachen Corona – oder in Sachsen-Anhalt, wo sie dem mutmaßlichen Kindesmörder im Fall "Maddie" auf der Spur sind.
Und unter allen, die unterwegs sind, ragt einer besonders heraus: Paul Ronzheimer, Reichelts Vize und Mann für alles besonders Wichtige bei "Bild". Ronzheimer kennt und trifft die Mächtigen, bekommt von ihnen Nachrichten aufs Handy, ist unterwegs mit Stahlhelm im Ukraine-Krieg oder mit Sonnenbrille im Flüchtlingslager Moria, wo er einem afghanischen Jungen erklärt, dass er schon fünfmal in Kabul gewesen sei: "I was in Kabul. I know Kabul. Five times Kabul!" Die Doku ist nah dran in solchen Situationen, zeigt in wackligen Bildern, wie Ronzheimer durch das Zeltlager geht, umringt von Kindern.
"Bild"-Agenda beim Thema Kindesmissbrauch
Das Fragezeichen im Titel wird im Laufe der Doku immer mehr zum Ausrufezeichen: "Bild" MACHT Deutschland! Wenn sie will, wie beispielsweise der Abschnitt über das Thema Kindesmissbrauch zeigt.
"Wir sind diejenigen, die darauf aufmerksam machen werden und aufmerksam sein werden, dass da, wo möglich, die Höchststrafe verhängt wird. Und nicht irgendeine Psychologen-Arschgeige sagt, der wird das schon nicht wieder machen, da reicht 'ne Bewährungsstrafe", fordert Reichelt da – eine in Rechtswissenschaft und Politik durchaus umstrittene Sicht.
"Bild"-Chefredakteur Julian Reichelt; im Hintergrund das Logo der Bildzeitung.
Getötete Kinder: "Bild"-Chef verteidigt Berichterstattung
In Solingen soll eine Mutter fünf ihrer Kinder getötet haben. Die Bild-Zeitung veröffentlichte daraufhin private Nachrichten des elfjährigen Bruders. Im Interview sieht "Bild"-Chefredakteur Julian Reichelt darin kein Problem.
Aber, so wie auch sonst, wenn der Chef etwas der Redaktionsrunde sagt, beginnt die "Bild", sogleich entsprechend zu berichten. Und wenig später kündigt die Bundesregierung – offensichtlich auch wegen des medialen Drucks – an, die Gesetze zu verschärfen. Reichelt kann das als persönlichen Erfolg feiern.
Beim Streit mit Christian Drosten zeigt sich allerdings, wohin diese journalistische Hybris, stets alles besser zu wissen als Experten, nicht selten aus dem Bauch heraus, auch führen kann. "Bild" wird vorgeworfen, eine Kampagne gegen den Virologen zu führen. Und die öffentliche Kritik an der Redaktion erreicht eine, so scheint es, neue Lautstärke, hier als O-Ton eingespielt aus einem Podcast von Kabarettist Florian Schröder: "Und es ist der Untergang der guten Form von Boulevardjournalismus."
Bei Drosten ist die Redaktion gespalten
Die Doku zeigt ausführlich, wie sehr der Streit um die Drosten-Berichterstattung auch die Redaktion spaltet, wie sich ihre Mitglieder gegenüber Freunden und Familie rechtfertigen müssen, für "Bild" zu arbeiten. Kritisch äußern dürfen sich an dieser Stelle außerdem noch einige Bundespolitiker.
Darüber hinaus bleibt der Eindruck einer Produktion, die Drehbuch und Inszenierung der "Bild" folgt, hier besonders der von Julian Reichelt – und wie er die Welt sah: "Das Bild‘-Logo ist links. Das ist auch das Einzige, was hier links ist!"
Die "Bild"-Redaktion, das lernen die Zuschauerinnen und Zuschauer, will zwar eigentlich weiblicher werden, ist aber doch noch weitgehend eine Männerwelt, die mit der Politik per Du ist und keine Selbstzweifel kennt. Und die - jetzt auch mit Live-Bewegtbildern im Internet -, laut berichtet, weil sie eben Boulevard macht.
Kein Wort über die Rügen vom Presserat
Ein Mitarbeiter sagt: "Wir gehen mit der Marching-Band durch die Fußgängerzone. Und wir schlagen eine Bresche in die Mauer rein. Und hinter uns marschieren dann fiedelnd die 'Süddeutsche' und mit der Harfe kommt die 'FAZ' dann noch hinterher."
Doch wie genau die Redaktion marschiert, wie sie regelmäßig gegen Persönlichkeitsrechte und andere Regeln verstößt und wie sie dafür vom Presserat gerügt wird - so wie im Fall der Berichterstattung über die Drosten-Studie, wo inzwischen klar ist, dass diese nicht "grob falsch" gewesen ist, wie durch "Bild" unterstellt: Über all das verliert die Doku kein Wort. Noch mehr Perspektive von außen, etwa durch andere Journalistinnen oder Medienwissenschaftler, statt so viel Innensicht hätte am Ende gutgetan.