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Keine Aufzeichnung von Strafprozessen
Der steinige Weg zu mehr Objektivität im Gerichtssaal

Strafprozesse dürfen in Deutschland bislang nicht per Video oder Tonspur aufgezeichnet werden. Richter und Anwältinnen können lediglich Notizen anfertigen – eine Praxis, die in der EU als überholt gilt und die die Ampel-Koalition ändern will.

Von Peggy Fiebig | 06.02.2022
Blick auf das Justiz-Symbol auf dem Ärmel eines Justiz-Mitarbeiters in Düsseldorf. Im Hintergrund: Blick in den Saal.
Wenn Verteidigung und Gericht sich unterschiedlich an Aussagen von Zeugen erinnern, sind Konflikte vorprogrammiert. Eine Ton- oder Videoaufzeichnung könnte das Problem womöglich lösen. (picture alliance/dpa | Federico Gambarini)
„Die Verhandlung wird fortgesetzt, die Prozessbeteiligten in den Saal 500 eintreten."

Aufruf in einem Strafprozess beim Landgericht Berlin. Kurz danach schließen sich die schweren Türen. Ab jetzt sind keine Tonaufnahmen mehr möglich. Nicht für Journalisten, nicht für Rechtsanwälte. Und auch nicht für die Richter und Staatsanwälte. Denn in Deutschland gibt es, von sehr, sehr wenigen Ausnahmen abgesehen, keine Aufzeichnung von Strafprozessen. Nicht in Ton, nicht in Bild, auch nicht schriftlich. Seit 1964 sieht das Gesetz ein Verbot von Ton- und Filmaufnahmen zum Zwecke der öffentlichen Vorführung oder Veröffentlichung vor. Von den bestehenden Möglichkeiten, Prozesse für nichtöffentliche Zwecke aufzuzeichnen, machen Gerichte in nur sehr, sehr wenigen Fällen Gebrauch. Anders als in vielen anderen Ländern.

„Also man kann sagen, europaweit, EU-weit auf jeden Fall und aber auch darüber hinaus sogar, ist es üblich, dass Strafprozesse dokumentiert werden, das heißt Aussagen von Zeugen, Sachverständigen und was sonst im Gerichtssaal gesprochen wird, wird aufgezeichnet“, sagt die Berliner Rechtsanwältin Margarete von Galen.

„In den meisten Ländern wird digital das Wort aufgezeichnet, es gibt Länder, die haben auch eine visuelle Aufzeichnung. Insgesamt muss man sagen, dass mit wenigen Ausnahmen überall woanders der Standard der ist, dass aufgezeichnet wird."

Die Juristin spricht sich, wie viele ihrer anwaltlichen Kolleginnen und Kollegen, seit langem dafür aus, dass Deutschland dem Beispiel anderer Staaten folgt und auch die Aufzeichnung von Strafprozessen gesetzlich vorsieht. Es ist eine Diskussion, die seit Jahren schwelt. Denn bisher gibt es in Strafverfahren hierzulande weder ein Protokoll im herkömmlichen Sinn noch eine Ton- oder gar eine Videoaufzeichnung.

„Was gesagt worden ist in der Hauptverhandlung, ergibt sich aus dem Protokoll nicht“

Bei amtsgerichtlichen Verfahren wird ein sogenanntes Inhaltsprotokoll geführt, in dem die Aussagen zusammengefasst werden. Bei den Land- und Oberlandesgerichten – dort also, wo es um schwere und schwerste Straftaten geht – gibt es nicht einmal das. Die Richter verlassen sich bei ihren Urteilen auf ihre Notizen, denn das gesetzlich vorgesehene Protokoll bleibt hier wortkarg. Im Wesentlichen wird nur die Einhaltung der Formalia dokumentiert, erklärt Stefan Caspari, der am Landgericht Magdeburg einer Strafkammer vorsitzt.

„Was gesagt worden ist in der Hauptverhandlung, ergibt sich aus dem Protokoll nicht. Weder was an Fragen gestellt wurde noch was an Antworten gegeben wurde darauf. Da steht nur drin, wenn zum Beispiel ein Zeuge eine Aussage macht. Das kann durchaus sein, als Extremfall, der Zeuge wird morgens um neun reingerufen, wird bis zwölf Uhr vernommen, und im Protokoll steht drinnen, also, dass er seine Personalien angegeben hat und dann steht da, der Zeuge sagt zur Sache aus. Punkt. Und das ist alles, was von den drei Stunden, die er etwas erzählt hat, im Protokoll drinsteht, mehr nicht."

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In der Regel macht sich Caspari keine ausführlichen Notizen, denn als Vorsitzender Richter muss er die Verhandlung leiten. Den wesentlichen Inhalt der Aussagen schreiben in seinen Verhandlungen einer oder bei umfangreichen Verfahren auch beide der anderen Berufsrichter mit. Allerdings nicht wortwörtlich, sondern dem Sinn nach, so Caspari. Und nur das, was für das Verfahren von Bedeutung ist.

„Was natürlich immer ein gewisses Risiko ist, weil man möglicherweise am zweiten Tag, wenn ein Zeuge etwas aussagt, noch nicht weiß, was nach den Erkenntnissen des 20. Hauptverhandlungstages von Bedeutung gewesen ist."
Für Strafrichter ist das eine Herausforderung. Vor allem bei langen und komplizierten Prozessen.

„Das ist dann einfach eine Sache der Übung, der Erfahrung, das dann irgendwie hinzubekommen."
Justizbeamte und Journalisten warten im Landgericht Magdeburg auf den Beginn des Prozesses gegen den mutmaßlichen Attentäter von Halle.
Justizbeamte und Journalisten warten im Landgericht Magdeburg auf den Beginn eines Prozesses. (picture alliance/Hendrik Schmidt/dpa-Zentralbild/Pool/dpa)

Das Problem: Irrt sich ein Richter hier, kann das erhebliche Auswirkungen für den Angeklagten beziehungsweise die Angeklagte haben. Denn Fehler können nicht korrigiert werden: Während der Verhandlung selbst sieht naturgemäß nur das Gericht die eigenen Notizen. Und ein Urteil, dass nach Ansicht von Verteidigung oder Anklage auf falsch wiedergegebenen Aussagen beruht, kann auch nicht mehr angefochten werden. Eine technische Aufzeichnung der gesamten Verhandlung könnte die Situation womöglich verbessern, nicht nur für die Gerichte. Strafverteidiger fordern sie deshalb seit langem. Zum Beispiel der Regensburger Strafverteidiger Jan Bockemühl:

„Bis dato ist es ja so, dass auf Grund der fehlenden Dokumentation gerade vor den Landgerichten und den Oberlandesgerichten, dass sämtliche Verfahrensbeteiligten ihre eigenen Wahrnehmungen aufzeichnen durch eigene schriftliche Aufzeichnungen."

Was tun bei unterschiedlicher Erinnerung an die Aussage eines Zeugen?

Konflikte seien deshalb vorprogrammiert, wenn Verteidigung und Gericht sich unterschiedlich an Aussagen von Zeugen oder Sachverständigen erinnerten. Gäbe es eine Ton- oder Videoaufzeichnung, gäbe es auch einen objektiven Nachweis dafür, was tatsächlich in der Verhandlung passiert ist. Die Verfahrensbeteiligten könnten, so sagt Bockemühl, „sich auf das Wahrnehmen konzentrieren und nicht mehr auf das Mitschreiben. Also Multitasking wäre dann nicht mehr in dem Maße jedenfalls gefordert, wie es derzeit der Fall ist."

Ideal wäre eine Aufzeichnung in Ton und Bild, sagt Bockemühl.

„Am sinnvollsten ist es natürlich immer, wenn man einen Vorgang komplett mit allen Sinnen wahrnehmen kann, und das wäre dann die Videodokumentation, wo ich dann Ton- und Bildaufnahmen habe, um nach Möglichkeit das Beweismittel auch komplett auszuschöpfen."

Die Pläne der Ampel-Koalition

Durch die neue Regierungskoalition kommt jetzt aber Bewegung in die Sache. Die Ampel-Regierung will eine Änderung voranbringen. Beim diesjährigen Neujahrsempfang des Deutschen Anwaltvereins kündigte Justizminister Marco Buschmann von der FDP an, „endlich auch eine vollständige inhaltliche Dokumentation der strafgerichtlichen Hauptverhandlung, das wollen wir möglich machen und auch rechtlich regeln. Wir werden auch einen Gesetzentwurf schon bald vorlegen."
Marco Buschmann (FDP) ist Bundesjustizminister
Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) (picture alliance/dpa/Kay Nietfeld)
Die FDP-Fraktion und auch jene von Bündnis90/Die Grünen hatten bereits in der vorigen Legislaturperiode Initiativen gestartet, um den Gerichten zu ermöglichen, Strafprozesse zumindest bei schweren und schwersten Straftaten aufzuzeichnen. Seinerzeit scheiterten die Vorstöße an den Mehrheitsverhältnissen im Bundestag. Jetzt, unter geänderten Vorzeichen, soll daran angeknüpft werden. Außerdem sollen die Ergebnisse einer Expertengruppe in die Diskussion miteinfließen, die noch unter Schwarz-Rot vom Bundesjustizministerium eingesetzt wurde und im vergangenen Jahr ihre Arbeit beendet hatte. Die darin versammelten Richter, Staatsanwälte, Rechtsanwälte und Ministeriumsvertreter bewerten die Notwendigkeit von technischen Prozessaufzeichnungen allerdings unterschiedlich, heißt es im Abschlussbericht der Kommission. Sie böten Chancen, seien aber auch mit Risiken verbunden.
Olaf Arnoldi ist Richter am Kammergericht Berlin und war einer der Sachverständigen in der Expertengruppe. Nach anfänglicher Skepsis sieht er mittlerweile eine Einführung einer technischen Aufnahme von Prozessen pragmatisch.

„Die politische Praxis läuft darauf hinaus, es steht im Koalitionsvertrag drin, dieses Projekt wird kommen, so oder so. Und jetzt geht es einfach um die Frage, wie kann man ein solches Projekt praxisgerecht vorbereiten und letztlich durchführen."

Nicht wenige Richter fürchten Mehrarbeit statt Entlastung

Viele seiner Kolleginnen und Kollegen stünden dem Projekt aber nach wie vor kritisch gegenüber, berichtet Arnoldi. Sie befürchten, dass damit nicht weniger, sondern mehr Arbeit auf die Richter zukommt und sich angesichts der ohnehin bestehenden Überlastung der Justiz Prozesse weiter verlängern. Zum Beispiel:

„Wenn ich mir vielleicht eine Zeugenaussage im Nachhinein noch einmal vor Augen führen will, muss ich bei einer Audio-Video-Dokumentation regelmäßig sehr viel mehr Zeit einkalkulieren als bei einer verschrifteten Zeugenaussage. Das kennen wir alle, über einen geschriebenen Text sind wir sehr viel schneller drüber als bei einem Videogerät. Das dauert, dauert, dauert, zieht sich, zieht sich, zieht sich."

Die Angst vor Missbrauch von Aufzeichnungen

Viele Detailfragen aus der Praxis seien noch zu klären, warnt Olaf Arnoldi. Wie soll damit umgegangen werden, wenn die Aufnahmetechnik versagt? Müssen dann die entsprechenden Verhandlungsteile wiederholt werden, vielleicht sogar traumatisierte Opfer noch einmal aussagen? Wie kann möglicher Missbrauch verhindert werden? Denn schließlich kommt es auch jetzt schon vor – wenn auch sehr selten -, dass Auszüge aus Strafakten ihren Weg in die Öffentlichkeit finden. Wird man dann künftig Videos von Aussagen oder Plädoyers im Internet finden, wie es zum Beispiel Mitglieder der Expertenkommission befürchten? Diese Probleme, sagt Richter Arnoldi, werden sich sicher lösen lassen. Aber „das ist eine Riesenaufgabe. Und bevor ein solches System wasserdicht und praxistauglich funktioniert, wird einiges Wasser die Spree runtergehen."

Deshalb will Justizminister Marco Buschmann auch nicht gleich allen Land- und Oberlandesgerichten aufgeben, Strafverhandlungen künftig aufzunehmen. Angedacht ist, dass vorab einige Pilotgerichte ausgewählt werden, bei denen dann erste Erfahrungen mit der Technik,  aber auch mit den Auswirkungen auf den tatsächlichen Verlauf von Prozessen gesammelt werden sollen, heißt es aus dem Ministerium. Margarete von Galen, die Strafverteidigerin aus Berlin und frühere Präsidentin der Europäischen Anwaltskammer CCBE, sieht dabei auch wachsenden Handlungsdruck aus Brüssel. Denn hier beobachtet man die Rechtsstrukturen in den Mitgliedstaaten sorgfältig. Und für Neumitglieder hat die Europäische Kommission bisher eine Dokumentation von Prozessen gefordert, erinnert van Galen.

„Also ich würde sagen, wenn Deutschland heute die Aufnahme in die EU beantragen würde, würde selbstverständlich das Justizsystem untersucht. Und die von der Kommission beauftragten Experten würden feststellen, dass bei uns eine Aufzeichnung der Hauptverhandlung bei schweren und schwersten Straftaten fehlt und mit Sicherheit Deutschland aufgeben, dieses Defizit innerhalb von – das sind dann meistens so zwei, drei Jahre – zu beheben."

Ton- oder Bildaufnahmen von Prozessen, insbesondere Strafprozessen, haben aber nicht nur Bedeutung für Juristen, auch Historiker sind an Dokumentationen von wichtigen Gerichtsverfahren interessiert.

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Es war der erste derartige Prozess weltweit, ein Prozess um Staatsfolter in Syrien, der am 13. Januar 2022 in Koblenz zu Ende ging. Das Oberlandesgericht verurteilte Anwar R., einen früheren syrischen Geheimdienstmitarbeiter, zu einer lebenslangen Haftstrafe. Er war, davon ist das Gericht überzeugt, als Mittäter unter anderem für Folter, zahlreiche Morde, gefährliche Körperverletzung und sexualisierte Gewalt in einem syrischen Geheimdienstgefängnis verantwortlich. Mit Spannung hatten Menschenrechtler die Entscheidung erwartet.
Prozess um Staatsfolter in Syrien - der Angeklagte Anwar R. (verpixelt).
Prozess um Staatsfolter in Syrien - der Angeklagte Anwar R. (verpixelt) (picture alliance/dpa/dpa Pool)
„Also das Koblenzer Verfahren war ja insofern besonders“, sagt der Berliner Professor Florian Jeßberger, der an der Humboldt-Universität unter anderem juristische Zeitgeschichte lehrt.

„Da ging es ja um ganz spezielle Konstellationen, nämlich Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die in Syrien begangen werden. Also Verbrechen, die von besonderer Schwere sind. Und die auch gerade vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte in Deutschland von besonderem Interesse sind."

Weil das Verfahren von so großer, auch historischer Bedeutung ist, hatten 23 deutsche und internationale Wissenschaftler, Institutionen und Menschenrechtsorganisationen beim Gericht angeregt, den Prozess aufzuzeichnen. Florian Jeßberger war einer von ihnen. Doch das Gericht lehnte ab.

„Deswegen, so hat uns die Senatsvorsitzende mitgeteilt, weil nach Auffassung des Senats die Voraussetzungen der gesetzlichen Regelung nicht erfüllt waren."

Nur selten Ausnahmen vom Nichtaufzeichnungsgebot  

Von dem ehernen Grundsatz, dass Strafprozesse in Deutschland nicht aufgezeichnet werden, gibt es nur sehr wenige Ausnahmen. Eine steht im Gerichtsverfassungsgesetz. Danach kann die Tonaufnahme einer Verhandlung und auch die Urteilsverkündung zu wissenschaftlichen und historischen Zwecken von dem Gericht zugelassen werden, wenn es sich – so heißt es im Gesetz – um "ein Verfahren von herausragender zeitgeschichtlicher Bedeutung für die Bundesrepublik Deutschland handelt". Das Oberlandesgericht Koblenz sah das jedoch im Koblenzer Fall nicht als gegeben an.

„Deswegen, weil der Senat zwar mit uns der Auffassung ist, dass dieses Verfahren von herausgehobener historischer Bedeutung für Syrien ist, aber nicht, und anders als wir, der Auffassung war, dass eben auch für Deutschland, für die Bundesrepublik Deutschland eine solche besondere historische Bedeutung des Verfahrens angenommen werden konnte. Und deswegen ist im Ergebnis eine Aufzeichnung unterblieben."

Es war bereits der zweite vergebliche Anlauf. Bereits in einem früheren Stadium des Verfahrens wurde eine Dokumentation abgelehnt – seinerzeit noch mit der Begründung, dass möglicherweise Zeugen in ihrer Aussage beeinflusst werden könnten, wenn ein Tonband mitläuft. Von diesem Prozess wird also für die wissenschaftliche Auswertung im Wesentlichen nur das Urteil und seine schriftliche Begründung bleiben. Sehr schade, findet Florian Jeßberger:

„Ja, also die Bedeutung gerade der gesamten Hauptverhandlung, des Verlaufs der Hauptverhandlung, der Aussagen der Zeuginnen und Zeugen und der Prozessbeteiligten kann eben gerade vor dem Hintergrund der wissenschaftlichen und der historischen Verarbeitung eines solchen Prozesses eine große Rolle spielen, die hinausgeht über das, was dann schließlich das Gericht im Urteil als Gründe für die Entscheidung, für die Verurteilung in diesem Fall benennt."

Der 1. Frankfurter Auschwitzprozess (1963 - 1965)

Anschaulichstes Beispiel dafür ist die Dokumentation des 1. Auschwitzprozesses von 1963 bis 1965. Die wurde nicht für die Wissenschaft angefertigt – diese Regelung gab es damals noch nicht –, sondern weil das Landgericht Frankfurt befürchtete, angesichts von über 300 zu vernehmenden Zeugen den Überblick zu verlieren. Eigentlich sollten die Aufnahmen später vernichtet werden. Das ist nicht geschehen – auf Druck von Opferzeugen und jüdischen Organisationen. Heute liegen die Tonbänder im Hessischen Hauptstaatsarchiv in Wiesbaden und werden intensiv durch das Frankfurter Fritz Bauer Institut ausgewertet und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.
Fritz Bauer Institut: Tonbandmitschnitte des Auschwitz-Prozesses (1963 – 1965)
Darauf enthalten sind unter anderem die Vernehmungen, Zeugenaussagen, die "letzten Worte" der Angeklagten, die Plädoyers ihrer Verteidiger und der Staatsanwaltschaft. Und auch die mehr als elfstündige Urteilsverkündung durch den Senatsvorsitzenden Hans Hofmeyer.

„Das Gericht hat sich bemüht, die Wahrheit zu erforschen, die Länge des Prozesses und die zahlreichen Beweiserhebungen, die durchgeführt wurden, sprechen dafür, dass allein die Erforschung der Wahrheit im Mittelpunkt dieses Verfahrens gestanden hat."

Der Mitschnitt vergegenwärtige auf eindringliche Weise die Anstrengung des Frankfurter Schwurgerichts, in einem Strafprozess nach Recht und Gesetz die individuelle Schuld der Angeklagten festzustellen, heißt es auf der Internetseite des Fritz Bauer Institutes. Und er sei ein "außergewöhnliches Dokument von herausragender gesellschaftspolitischer und rechtshistorischer Bedeutung".
Von vielen anderen, ebenfalls zeitgeschichtlich bedeutsamen Prozessen, gibt es dagegen keine Tonaufzeichnung. Zum Beispiel vom Münchener NSU-Prozess. Zwar haben Journalisten und Aktivisten in mühevoller Arbeit eine Mitschrift von jedem einzelnen Verhandlungstag angefertigt, für eine Tonaufzeichnung durch das Gericht fehlte es aber seinerzeit noch an einer gesetzlichen Grundlage. Die Möglichkeit, historisch wichtige Prozesse für wissenschaftliche Zwecke aufzunehmen, ist erst als Konsequenz aus diesem Verfahren geschaffen worden. Gebrauch davon gemacht hat beispielsweise das Oberlandesgericht Naumburg 2020 im Prozess gegen Stephan B., den Attentäter von Halle. Hier hat das Gericht eine "herausragende zeitgeschichtliche Bedeutung für die Bundesrepublik Deutschland" bestätigt. Warum, erläutert der Gerichtssprecher Henning Haberland:

„Das ist darin begründet, dass über den bisher wohl bedrohlichsten und gewalttätigsten Angriff auf ein jüdisches Gotteshaus auf deutschem Boden nach dem zweiten Weltkrieg zu befinden war."

Vor allem der mutmaßliche antisemitische Hintergrund der Tat sei ausschlaggebend gewesen, so Haberland:

„Den Geschädigten, ihren Hinterbliebenen, aber auch Experten sollte Gelegenheit zur Äußerung gegeben werden. Dementsprechend konnte damit gerechnet werden, dass Inhalte von erheblicher zeitgeschichtlicher Bedeutung unter anderem zur Entstehung antisemitischer und rassistischer Einstellungen zur Sprache kommen würden. Dementsprechend hat der Senat es für angebracht erachtet, der Wissenschaft ein Tondokument über den Hergang der Hauptverhandlung zur Verfügung zu stellen."

Die Aufnahmen vom Prozess gegen den Halle-Attentäter werden daher jetzt im Landesarchiv Sachsen-Anhalt aufbewahrt, erst nach mehreren Jahrzehnten werden sie für Auswertungen durch die Wissenschaft zugänglich sein. Der Grund für diese lange Frist: Die Persönlichkeitsrechte der Verfahrensbeteiligten sollen geschützt werden. Für das Oberlandesgericht Naumburg war der Mitschnitt des Prozesses um das Attentat von Halle eine wichtige Erfahrung. Eine Erfahrung, die man gerne auch in die Diskussion um die grundsätzliche Einführung von Bild und Ton bei Hauptverhandlungen einbringen möchte.