Mit "NSU 2.0", also mit einer Referenz an die rechtsterroristische Gruppe "Nationalsozialistischer Untergrund", waren zahlreiche Drohschreiben unterschrieben, die Personen des öffentlichen Lebens, insbesondere Frauen, in den vergangenen Jahren erhalten haben. Inzwischen wurde ein Mann wegen dringenden Tatverdachts im Kontext mit den Drohschreiben verhaftet. Hessens Innenminister Peter Beuth (CDU) äußerte sich nach der Festnahme erleichtert: "Die Drohschreiben hatten einen sehr schwerwiegenden Verdacht auf die Polizei gelenkt. Nach allem, was wir heute wissen, war nie ein hessischer Polizist für die NSU 2.0-Drohmailserie verantwortlich."
Dass der Mann alleine für die Drohschreiben verantwortlich ist, sei unwahrscheinlich, sagte hingegen die Bundestagsabgeordnete Martina Renner (Linke) im Deutschlandfunk, die als Abgeordnete des Thüringer Landtages auch Mitglied im NSU-Untersuchungsausschuss war. Möglicherweise habe der Tatverdächtige die Drohschreiben zwar alleine verfasst, bei solchen Delikten seien Täter aber meist digital vernetzt, tauschten beispielsweise Daten miteinander aus. Zum anderen müsse der Täter sich auch der "Polizei bedient haben", sagte Renner. Anders könne er nicht an von ihm genutzte Daten gelangt sein.
Das müsse nicht zwingend heißen, dass Polizisten als Mittäter agiert haben. Aber diese Möglichkeit solle man nicht ausschließen. "Die hessische Polizei hat ja eine Vielzahl von rechten Vorfällen in den letzten Jahren", sagte Renner. Eine mögliche Zusammenarbeit zwischen dem Täter und Polizeibeamten müsse daher dringend beleuchtet werden.
Der Fall dürfe aber nicht nur strafrechtliche Konsequenzen haben, sagte Renner, die selbst auch Drohschreiben mit dem Absender "NSU 2.0" erhalten hat. Es sei jetzt bereits mehrfach vorgekommen, dass Daten aus Polizeirechnern für Drohschreiben genutzt wurden. In den Sicherheitsbehörden gebe es dazu keine angemessene Reaktion. "Dann wird halbherzig gegen die Beamtinnen und Beamten vorgegangen, oftmals nur disziplinarisch", sagte Renner. Die Situation der Betroffenen werde von den Behörden dabei vollkommen ignoriert. Diese müssten schneller über Gefahren informiert werden.
Das vollständige Interview im Wortlaut:
Bastian Brandau: Frau Renner, der hessische Innenminister Peter Beuth von der CDU, der wertet die Festnahme als Erfolg. Wir haben eben die weiteren Stimmen aus Hessen gehört. Gehen Sie da uneingeschränkt mit?
Martina Renner: Zuerst einmal: Ein Ermittlungsergebnis nach zweieinhalb Jahren – und so lange dauert schon diese Drohmail-Serie an – verändert die Situation natürlich auch für die Betroffenen. Aber wir haben natürlich weiterhin Fragen und die liegen ja auch auf der Hand. Erst einmal: Ja, wir kennen das aus dem ganzen Bereich des Rechtsterrors und der rechten Gewalt. Es wird häufig ein Einzeltäter präsentiert, und das ist eher untypisch. Die Frage nach möglichen Mitwissern und Mittätern, die bleibt bestehen, und ganz entscheidend für uns ist natürlich – das ist eben auch im Beitrag schon angeklungen; die Kollegen Faeser und Schaus haben es ja auch gesagt –, wie gelangte denn dieser mutmaßliche Täter an die Daten aus Polizeirechnern, darunter auch sensible und geschützte Informationen. Das ist weiterhin noch ungeklärt. Wir haben ja auch Akteneinsicht in der Vergangenheit verlangt, haben die nicht bekommen, aber wir hoffen natürlich auch jetzt, da ganz konkrete Auskünfte zu erhalten.
Brandes: Zunächst noch mal zu dem jetzt Festgenommenen. Ein 53jähriger Einzeltäter soll es gewesen sein. Sie haben es eben angesprochen. Ist das aus Ihrer Sicht glaubwürdig oder eher nicht?
Renner: Wenn wir uns den Modus Operandi ansehen und auch die Täterbiographien und die Strukturen, in die sie eingebettet sind in anderen Drohmail-Zusammenhängen, dann agieren sie oft nicht alleine, sondern sind insbesondere digital vernetzt über Foren und Boards mit anderen, tauschen dort Daten zu Personen, die im Fokus stehen, rühmen sich ihrer Taten, und wenigstens auf der Ebene, wenn es keine konkreten Mitwisser beim Abfassen der Faxe oder E-Mails gegeben hat, gibt es oft ein Interagieren in einem weiteren organisierten Rahmen.
"Ohne die Polizei kann er an diese Daten nicht gelangt sein"
Brandes: Die Frage, die bei diesem ganzen "NSU 2.0"-Komplex, wenn man ihn so nennen will, auch immer mitspielt, haben wir eben auch schon angesprochen. Welche Rolle spielen die hessischen Behörden? Es ging da immer um die Kontaktdaten der Personen, die eigentlich nur der Polizei bekannt waren, die der Täter aber offenbar kannte, auch teilweise nach Umzügen und nachdem die Daten eigentlich für den Zugriff gesperrt waren, zum Beispiel bei Einwohnermeldeämtern. Aber aus Polizeirevieren waren gleichzeitig die Daten der Betroffenen abgerufen worden. Das hat unser Korrespondent auch noch mal berichtet. Jetzt haben die Behörden sehr betont, dass dieser Mann keinerlei Beziehungen zu hessischen Behörden und auch nicht zur hessischen Polizei damit hatte. Ist die hessische Polizei, um die es ja viel ging in den letzten zweieinhalb Jahren, damit aus dem Schneider?
Renner: Wenn man dem Innenminister Herrn Beuth zuhört, dann ist das sein Wunsch, dass er diesen Ermittlungserfolg jetzt nutzt, um auch die Polizei von allen Vorwürfen freizusprechen. Ich denke, man muss jetzt genau hinschauen. Er wird sich der Polizei bedient haben, auch wenn er dort vielleicht keine aktiven Mittäter oder Mitwisser hatte, weil da bleibe ich dabei: Ohne die Polizei kann er an diese Daten nicht gelangt sein. Dafür hatten die Daten einen besonderen Schutz, den man nicht einfach so erlangen kann.
Brandes: Wenn ich kurz fragen darf? – Wenn Sie sagen, der Polizei bedient habe, wie sollte das aussehen?
Renner: Das ist dann wirklich Gegenstand der Ermittlungsakten und solange ich sie nicht kenne, kann ich dazu leider auch nichts sagen. Aber ich würde sagen, die zeitliche Nähe der Abfragen, wie wir sie bei Seda Basar-Yildiz zum Beispiel gesehen haben, zu den ersten Drohmails und vieles andere deutet ja darauf hin, dass es einen Zusammenhang gibt zu diesen illegalen Aktionen der Polizei, weil sie darf nicht einfach anlasslos irgendwelche Daten, zumal wenn sie gesperrt sind, abfragen. Wie der Täter dann an diese Daten gelangt ist, das muss man schauen, was die hessischen Ermittler*innen da jetzt herausgefunden haben.
Ich finde aber, es gibt ein zweites Moment, warum Herr Beuth vielleicht heute etwas zurückhaltender sein sollte. Die hessische Polizei hat ja eine Vielzahl von rechten Vorfällen in den letzten Jahren. Die Chat-Gruppen sind bekannt, in denen rassistische, antisemitische Inhalte geteilt wurden, zuletzt der Kriminalbeamte aus Frankfurt, der Waffen aus einer Asservatenkammer entwendet hat und der im Kontext steht mit Ermittlungen zu einer rechten Sicherheitsfirma in Nordrhein-Westfalen, und vieles andere mehr. Da ist es wichtig, jetzt nicht vorschnell zu sagen, Ermittlungen abgeschlossen, Täter gefunden, Polizei freigesprochen, sondern wirklich zu schauen, inwieweit es dort Interagieren gab zwischen dem oder den Tätern – wir wissen immer noch nicht, ob es nur einer war – und Polizeibeamt*innen, die gegebenenfalls Daten abgefragt haben.
"Darknet spielt in diesem Kontext eine große Rolle"
Brandes: Auch wenn Sie sagen, dass es möglicherweise mehrere Täter sein können, welche Rolle spielt das Darknet? Die Ermittlungen, so wurde es ja auch dargestellt, seien sehr kompliziert gewesen, natürlich nichts, was in irgendeinem normalen Mail-Verkehr stattgefunden habe, sondern in einem Darknet, wo die Ermittler schwer Zugriff gehabt hätten.
Renner: Das Darknet spielt in diesem Kontext eine große Rolle. Zuletzt war ich ja Nebenklägerin in einem Verfahren hier in Berlin gegen einen anderen Drohmail-Schreiber, der diese Serie Nationalsozialistische Offensive zu verantworten hat, und da hat man auch dann im Verfahren gesehen, er hat sich im Darknet mit anderen Rechten abgesprochen, man hat Daten getauscht, man hat auch Bedrohungen im Nachgang dort anderen zur Kenntnis gegeben, natürlich dann auch immer mit der Aufforderung, tut es mir nach, lasst es uns gemeinsam angehen. Ich denke, wir werden in dem Fall auch sehen, dass dieser Täter sich Inspiration geholt hat von rechten Blogs, von entsprechenden Foren im Darknet, und möglicherweise auch zu den Personen – und das sind ja immer dieselben Personen. Besonders Linke geraden dort in den Fokus und das zweite Motiv ist Menschen mit Migrationsgeschichte, dass auch, gerade was diese Feind-Attribution angeht, das Darknet eine große Rolle spielt.
"Mangelhafte Fehlerkultur in den Sicherheitsbehörden"
Brandes: Wenn der Fall jetzt tatsächlich strafrechtlich geklärt werden sollte, welche Konsequenzen sollten Ihrer Meinung nach auch politisch folgen?
Renner: Ich glaube, man muss ganz dringend darüber reden, warum wir in den Sicherheitsbehörden so eine mangelhafte Fehlerkultur haben. Wenn an irgendeiner Stelle es Daten aus Polizeirechnern gibt, die zu solchen Bedrohungen benutzt werden – und das ist ja nicht der einzige Fall; wir haben eine ähnliche Problematik in Mecklenburg-Vorpommern in dem Ermittlungskomplex Nordkreuz –, dann dauert es viel zu lange, bis diese Dinge bekannt werden. Dann wird halbherzig gegen die Beamtinnen und Beamten vorgegangen, oftmals nur disziplinarisch. Die Situation für die Betroffenen wird vollkommen ignoriert. Sie werden teilweise über Monate und Jahre von solchen Bedrohungshintergründen im Dunkeln gelassen. Auch in dem Fall muss ich sagen, es gab immer wieder die Auskunft auch der hessischen Ermittler*innen, es würde keine konkrete, nur eine abstrakte Gefahr bestehen.
Ich bin mal gespannt am Ende des Tages bei der auch möglicherweise Vorgeschichte des Täters, ob man bei dieser Einschätzung bleiben wird. Eine Frage natürlich heute zum Beispiel: Was ist bei der Durchsuchung gefunden worden, eventuell auch Waffen und Ähnliches. Genau auch das, immer dieses schnelle Entwarnen, dieses zu späte Informieren der Betroffenen, das muss aufhören.
Brandes: Sie haben schon gesagt, wer da im Fokus stand. Es waren ja auch hauptsächlich Frauen, die diese Bedrohungen erhalten haben. Welche Rolle spielt das, dieser Frauenhass, der in der rechtsextremen Szene weit verbreitet ist?
Renner: Ich habe ja vorhin schon davon gesprochen. Ein Motiv ist Rassismus, das andere Hass gegen Linke, oder ein drittes, das kommt hinzu, sind antifeministische Einstellungen. Insbesondere ziehen engagierte Frauen, die auch in politischen Debatten, in gesellschaftlichen Auseinandersetzungen mit der Rechtsentwicklung das Wort ergreifen, den Hass dieser Täter, aber auch nicht nur den Hass zu, sondern auf sie wird diese Vernichtungsvorstellung dann auch entwickelt. Das ist auch etwas, was durchaus in die gesamte autoritäre Rechtsentwicklung passt, wenn wir auch europaweit schauen, wie der Antifeminismus auf dem Vormarsch ist.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.