Donnerstag, 28. März 2024

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Duncan Hannah: "Dive. Tagebuch der Siebziger"
Rock'n Roll im Untergrund

Ein großer Entwicklungsroman: Mit Anfang 20 kommt der angehende Künstler Duncan Hannah nach New York. Die ganzen 70er-Jahre über führt er Tagebuch. Anekdotenreich und drogenberauscht schildern seine Aufzeichnungen dieses aufregende Jahrzehnt vor der Aids-Epidemie und dem alles bestimmenden Kommerz.

Von Ulrich Rüdenauer | 23.04.2021
Portrait des Künstlers Duncan Hannah und das Buchcover seiner Erinnerungen "Dive. Tagebuch der Siebziger"
Duncan Hannah studierte Kunst - vor allen Dingen aber das Nachtleben von New York (Cover Rowohlt Verlag / Autorenportrait (c) Molly Kirk )
Wer heute durch das von Millionären okkupierte Greenwich Village oder die hochgezüchtete Hipster-Zentrale Brooklyn spaziert, kann es sich kaum noch vorstellen: Aber New York war tatsächlich mal ein Ort, an dem man als junger, mittelloser Künstler mit ein paar hundert Dollar im Monat überleben konnte. Back in the days, in den schmuddeligen und zugleich glamourösen 70er-Jahren. Lange ist das her. Hört man sich Erzählungen über diese Zeit an, klingt das, als würden Veteranen im Polstersessel sitzend über ihre ruhmreichen Kriegserlebnisse plaudern. Aus sicherer Distanz. Mythische Geschichten von Heldinnen und Helden, die meist aus der amerikanischen Provinz ins Zentrum der bohemistischen Welt drängten, sich ins überspannte Nachtleben warfen, dabei elend abstürzten oder zur eigenen Überraschung berühmt wurden. Mittlerweile haben schon einige Überlebende von diesen verschwenderischen, dekadenten Jahren berichtet, die bis heute als Blaupause für subkulturellen Exzess und dessen schleichende Umwandlung in ein Businessmodell dienen. Patti Smith in "Just Kids" etwa, Richard Hell in "Blank Generation" oder Edmund White in "City Boy"; die TV-Serie "Vinyl" beschwört die Zeit nostalgisch ebenso herauf wie Martin Scorseses Doku "Pretend It’s a City" mit Fran Lebowitz.

Hannah ließ nichts aus

Duncan Hannah kannte sie alle. Patti Smith, Richard Hell, Fran Lebowitz. Er hing mit den New York Dolls ab und mit Andy Warhol, fotografierte die Talking Heads und spielte mit Debbie Harry in einem Underground-Film, bekam von David Hockney Ratschläge und von Lou Reed ein äußerst anzügliches Angebot. Hannah hat seinerzeit nichts ausgelassen, was ihm Zutritt zum Club jung dahingeraffter Talente hätte verschaffen können – Alkohol und Drogen jeglicher Provenienz. Aber er war dann doch klug genug, irgendwann vom rasenden Zug Richtung Abgrund abzuspringen und ein seriöser, gegenständlicher Maler zu werden, wenn auch kein Star wie ein paar seiner Peers.
"Wir suchten nach echter Erfahrung…"
… schreibt Hannah…
"…und stolperten in bunteste Bereiche. Wir glaubten an den Weg, obwohl wir vom Ziel keine Ahnung hatten."
Duncan Hannahs größtes Kunstwerk aber ist vielleicht nicht auf einer Leinwand zu finden, sondern auf hunderten Seiten Tagebuch aus diesen legendären Siebzigern – sie handeln von diesem Weg, von seinem wilden Leben inmitten einer explodierenden kreativen Avantgarde: "Dive" nennt sein deutscher Verlag diese nun erstmals veröffentlichten Aufzeichnungen; der amerikanische Titel, der einen Song von T-Rex zitiert, ist vielleicht noch treffender: "Twentieth Century Boy".
"Ich brannte darauf, nach New York zu gehen und mich mitten ins Getümmel zu stürzen. Ich bin ein Produkt der zweiten Jahrhunderthälfte, ein Twentieth-Century Boy."

Ein Typ zwischen David Cassidy und David Bowie

Hannah ist 17, als er 1970 damit anfängt, seine Begegnungen und Erfahrungen zu notieren. Damals lebt er noch in Minneapolis und gibt sein Bestes, gegen das ihm spießig erscheinende Leben seiner Eltern zu rebellieren. Von Anfang an spielt ihm dabei seine Schönheit in die Hände: eine Mischung aus David Cassidy, Joe Dallessandro, dem thin white duke David Bowie und Helmut Berger – damit kann man es weit bringen. Hannahs Sexleben jedenfalls muss man wohl erfüllt nennen; seine Eroberungen in den nächsten zehn Jahren dürften zahlenmäßig mit denen Casanovas konkurrieren.
"Dive" taucht tief ein in diese pulsierende Epoche: Hannah besucht begeistert Konzerte der angesagtesten Rock- und Jazz-Bands, er liest wie ein Wahnsinniger, arbeitet sich durch die amerikanische und europäische Filmgeschichte. Penibel geführte Listen zeugen davon. Und er macht sich bald auf den Weg aus der Enge seines bürgerlichen Herkunftsmilieus in eine verlockend unsichere Zukunft. Zunächst studiert er am Bard College in Upstate New York, eine erste Annäherung an die Kunst und die Stadt der Städte. Dann 1973, mit Anfang 20, trifft er in Manhattan ein und immatrikuliert sich an der Parsons School of Design. Das eigentliche Studium aber findet auf der Straße und in der Nacht statt. Sein brillantes Aussehen ist ein zwiespältiges, aber offensiv eingesetztes Mittel, um den Talentreichen und Schönen nah zu sein. Alle sind sie hingerissen: Es kann schon vorkommen, dass Nancy Spungen (ja, die Freundin von Sid Vicious) ihm in einem Aufzug spontan einen Blowjob anbietet. Oder dass Amanda Lear ihren damaligen Liebhaber Bryan Ferry mit dem jungen Beau eifersüchtig macht. Fast noch häufiger aber schlittert Hannah in ernste Bredouillen: Dank seines dandyhaften Auftretens und Aussehens kann er sich zwar Zugang zu exklusiven Partys verschaffen und versteht es, kokett zu flirten. Aber die Avancen seiner einflussreichen schwulen Verehrer muss er dann doch zurückweisen. Das Entsetzen ist stets groß, wenn er offenbart, absolut straight zu sein. Wen er alles abblitzen lässt: von Allen Ginsberg bis zu Lou Reed. Manchmal kann so eine Abfuhr aber auch problematisch enden.

Leben im Labyrith

"Plötzlich kam Zug in die Sache, er zerrte mich am Hemdkragen hoch und sagte: 'Ich zeig dir mal meine Wohnung. Das hier ist meine Küche, das mein Bad, das mein Wohnzimmer und das hier', brüllte er, 'ist mein Schlafzimmer!' – und mit diesen Worten schleuderte er mich quer durch den Raum aufs Bett. Er knipste das Licht an und musterte meine zusammengekauerte Gestalt. 'Du verdammter kleiner Aufgeiler! Kleine Scheißkerle wie dich kann ich nicht ausstehen! Du hältst dich wohl für hübsch, was? Häh? Ist es nicht so?!?!'"
Das Rock’n’Roll-Leben im samtenen Untergrund, bei Konzerten im verratzten CBGB‘s, in versifften Bars, in eigentlich von Kakerlaken bewohnten Apartments und auf rauschenden Partys ist mitunter gefährlich. Und es fordert seinen Tribut: Der Alkohol trübt nicht selten den Blick, was dem Geschriebenen zuweilen etwas schön Halluzinatorisches und Vernebeltes verleiht. Einmal erzählt Hannah von einer After-Show-Party von Roxy Music. Er amüsiert und betrinkt sich und landet schließlich irgendwann mit Andy Warhol, David Bowie und Bryan Ferry in einem Mietwagen.
"Von da an wird es seltsam. Als ich aufwache, ist es Morgen. Ein verlassenes Zimmer, keinerlei Erinnerung. Auf dem Fußboden, in meiner Partykleidung. Fliege, Budapester, Zweireiher, Seidenhemd und ein bisschen Mary-Quant-Makeup. Keine Möbel. Kein gar nichts. Das ist nicht meine neue Wohnung. Sieht nicht aus, als wäre sie bewohnt. Ich stehe auf und trete vorsichtig ans Fenster. Blicke auf den Schutt eines leeren Grundstücks. Ist das überhaupt New York? Dresden? Ich gehe in den Flur, halte mir den brummenden Schädel, niemand zu sehen. Steige mehrere Treppen runter, suche den Ausgang aus diesem schäbigen Labyrinth. Stecke ich in einem Albtraum fest? Schließlich finde ich die Tür zum Gehsteig. Sengende Sonne. Ich hinke die Straße entlang, bis ich einem Schwarzen begegne und höflich frage: 'Entschuldigung, können Sie mir sagen, wo ich hier bin?'"

Kaputt und mitreißend

Die unmittelbaren Beschreibungen, die aberhundert Anekdoten, Verrücktheiten, Überdrehtheiten machen dieses Buch zu einem veritablen Entwicklungsroman, der von Thomas Gunkel schwungvoll übersetzt wurde. Manchmal klingt das mindestens so mitreißend und kaputt wie die Songs von Television oder Arto Lindsay, die man beim Lesen im Hintergrund unbedingt laufen lassen sollte. Sein Tagebuch endet mit einem Erwachen – in einem mehrfachen Sinn. John Lennons Ermordung am 8. Dezember 1980 scheint wie der Endpunkt einer grenzenlos hedonistischen, dabei natürlich immer auch brutalen Zeit des Aufbruchs. Aids wird in den nächsten Jahren aus der schillernden Szene ein Schlachtfeld und einen Friedhof machen; die Immobilien-Spekulanten bringen sich bereits in Stellung; der Kunstmarkt wird explodieren. Und nicht alle der ehemaligen Proto-Punks und No-Waver setzen sich gegen die Verlockungen des Kommerzes erfolgreich zur Wehr. Keith Haring, Jenny Holzer oder Julian Schnabel, der kurz zuvor noch als Koch in einem Lokal jobbt, werden plötzlich zu teuren Marken auf dem Kunstmarkt. Duncan Hannah ist weder Punk noch einer der aufstrebenden Abstrakten. Später wird er mal despektierlich als "Barry Manilow des New Wave" bezeichnet. Seine Gemälde orientieren sich nicht am Zeitgeschmack, eher an den Bildern eines Edward Hopper. 1981 hat er seine erste Soloausstellung, er trinkt nicht mehr, lässt seine Finger von den Drogen. Damit enden Hannahs Tagebücher aus den Siebzigern, die eine gewaltige Sogkraft entwickeln und sich wie ein subkultureller Bildungs- und Künstlerroman lesen lassen. Der Rest wurde Geschichte.
Duncan Hannah: "Dive. Tagebuch der Siebziger"
Aus dem Englischen von Thomas Gunkel
Rowohlt Berlin
560 Seiten, 28.- Euro.