Freitag, 29. März 2024

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Michael Fehr: "Hotel der Zuversicht"
Durch die Wiese pflügen

Phantastische Ideen, die ganz selbstverständlich klingen: Michael Fehr lässt in seinen Erzählungen Menschen fliegen und Kristallklötze umherspazieren. Dabei reflektiert er zugleich kritisch unsere Gegenwart.

Von Nico Bleutge | 04.07.2022
Michael Fehr: "Hotel der Zuversicht"
Zu sehen sind der Autor und das Buchcover
Michael Fehr: "Hotel der Zuversicht" (Buchcover: Verlag Der gesunde Menschenversand / Foto: Franco Tetta)
„Alles ist schwarz. Er sieht von Weitem, zuerst flackernd, dann immer konstanter und näher, den Brooklyn-Zug herannahen. Der Zug leuchtet orangerot, aber nicht nur aus den Fenstern, sondern die ganzen Wagen, vom vordersten bis zum hintersten, scheinen aus ihrem Inneren orangerot in die Nacht hinauszuleuchten. Als sich der Zug auf seiner Höhe befindet, springt der Schriftsteller aus dem Fenster. Es gelingt ihm, fliegend dem leuchtenden Brooklyn-Zug zu folgen.“
Ein Mensch, der fliegen kann, als wäre gar nichts dabei, ein Zug, der so stark leuchtet, dass er fast die Nacht erhellt – solche phantasiestarken Einfälle und Volten finden sich in Michael Fehrs Erzählungen immer wieder. Wobei der Begriff „Erzählung“ womöglich gar nicht zu jedem der knapp 50 kurzen Texte passt. Mal sind es kleine Krimis, mal nur Vignetten, die Fehr anfertigt.

Latente Gewaltbereitschaft

Der Impulsgeber dieser Geschichten ist der originelle Einfall. Fast immer gibt es Momente, in denen das Erzählte kippt. Eine elegante Kaffeegesellschaft verwandelt sich plötzlich in eine „wildgewordene Gruppe“, die Gras frisst oder durch die Wiese pflügt. Ein Bankdirektor wird auf eigenen Wunsch von einem Friseur erschossen. Eine Frau lehnt den Heiratsantrag ihres Freundes ab, weil sie schon mit ihrer Katze verlobt ist.
Michael Fehrs Kunst besteht darin, ziemlich absurde Ideen so zu verbinden, dass beim ersten Lesen alles ganz selbstverständlich klingt. Oft sind die überraschenden Wendungen in eine ansonsten harmlos wirkende Beschreibung gesetzt. In der morgendlichen Atmosphäre einer Kleinstadt etwa schwebt vor einem Lebensmittelladen über dem Trottoir ein übergroßer Tropfen Wasser. „Ungefähr ein guter Schluck, der in der Morgensonne glänzt.“ Oder die Erzählungen beginnen schon angenehm verdreht. Ein Mann hört vor seinem Haus ein merkwürdiges Geräusch. Er öffnet die Tür und herein kommen – Kristallklötze:
„Es sind etwas in die Länge gezogene und etwas plattgedrückte Kristallklötze, die sich bewegen, indem sie auf eine ihrer Seiten fallen und sich dann wieder aufrichten (...). Der Mann schließt die Tür und betrachtet die Kristallklötze genauer. Er kann nun ausmachen, dass innerhalb der Klötze ein Wetter herrscht, und zwar ist es bewölkt, hellgrau. Es regnet nicht, es gibt keine Schatten, es ist einfach gleichmäßiges, hellgrau bewölktes Wetter.“

Ein übergroßer Tropfen Wasser

Die lebenden Klötze mit ihrem hellgrau bewölkten Wetter sind dabei keineswegs bloße Spielerei. Vielmehr verwandelt Fehr sie unter der Hand in ein Bild für die Vergänglichkeit. Am Ende verraten die Klötze, dass sie eigentlich der Himmel sind. Ein sehr sympathischer Himmel, der den Mann einlädt, noch ein paar für ihn wichtige Sachen mitzunehmen. Dann verlässt er zusammen mit den Klötzen seine Wohnung.
Überhaupt gelingt es Michael Fehr immer wieder, wie nebenbei gesellschaftliche Strukturen zu reflektieren, es mögen Machtdiskurse sein, die alles umgreifende ökonomische Ausrichtung, Empfänglichkeit für autoritäres Verhalten oder eine latente Gewaltbereitschaft. Dazu nutzt er Motive wie Tunnel oder dunkle Hausgänge und Treppenhäuser, die eine bedrohliche Atmosphäre erzeugen. Oder es tritt explizit ein „Räuberhäuptling“ auf, der mit Hilfe von rutschigen Stiefeln eine Gruppe betrunkener Jugendlicher für seine Zwecke rekrutiert:
„Die Jugendlichen straucheln und schlittern in die Gasse hinein. Einmal befinden sie sich an den Hauswänden, dann plötzlich wieder in der Mitte der Gasse, sie kreiseln, rutschen und gleiten.“

Chromstahltheke und Wildlederjacke

Manche Geschichten sind Michael Fehr etwas zu schematisch geraten, manche Figuren zu sehr als Pointenspender angelegt. Aber das macht nichts. Die eigentliche Hauptperson dieser Erzählungen ist ohnehin Fehrs Sprache. An der Mündlichkeit orientiert und wahrnehmungssatt ist sie doch eine hoch intensive Kunstsprache, angereichert mit Wörtern wie „Chromstahltheke“ oder „Wildlederjacke“ und mit dialogischen Einsprengseln. „Dein Gesicht leuchtet“, heißt es an einer Stelle. So kann es einem beim Lesen dieses kleinen Buches immer wieder ergehen.
Michael Fehr: Hotel der Zuversicht.
Verlag Der gesunde Menschenverstand, Luzern 2022. 192 Seiten, 24 Euro.