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Edgar Allan Poe: "Unheimliche Geschichten"
Wahnsinn an den Rändern

Dem Unbewussten auf den Spuren: Edgar Allan Poe gilt als Vater der modernen Kriminalgeschichte. Mit drei Texten, die Fjodor Dostojewski erstmals zusammen stellte, erweist der sich zudem als Meister des Suspense. Die Berliner Künstlerin Kat Menschik hat diese Geschichten neu illustriert.

Von Tanya Lieske |
    Edgar Allan Poe und seine Unheimlichen Geschichten
    Das Grauen in Bild und Text: Die "Unheimlichen Geschichten" von Edgar Allan Poe (Cover: Galiani Verlag / Autorenportrait: picture alliance / dpa)
    Der Schädel eines Ziegenbocks hängt schräg über einem halb gefüllten Trinkglas. Ein Kater starrt aus nur einem Auge auf den Betrachter und überall pulsieren Herzen oder Uhren. Der Berliner Künstlerin Kat Menschik ist es gelungen, das Grauen dieser Geschichten einzufangen. Ihre Farben sind dunkelviolett und orange wie ein Leuchtstift: Der Wahnsinn lauert an den Rändern dieser Erzählungen - und er belauert das Bewusstsein der Lesenden. Das wären dann wir. Kaum sind wir einige Zeilen in den Kosmos des Edgar Allan Poe eingetaucht, schon zappeln wir darin herum wie die sprichwörtliche Fliege im Netz - Fallstricke überall. Wo zum Beispiel gäbe es einen Erzähler, auf den man sich halbwegs verlassen kann?
    Das verräterische Herz
    "Gewiss! - nervös - ganz, ganz schrecklich nervös war und bin ich; aber warum sagt ihr, dass ich verrückt sei? Das Leiden hat meine Sinne geschärft - nicht zerstört - nicht getrübt. Mehr als alles andere war der Hörsinn empfindlich geworden. Ich hörte alles im Himmel und auf Erden. Ich hörte vieles in der Hölle. Wie also kann ich verrückt sein? Merkt auf! und seht, wie gesund, wie ruhig ich die ganze Geschichte erzählen kann."
    So beginnt "Das verräterische Herz", es ist die erste dieser drei Geschichten, es folgen "Der schwarze Kater" und "Der Teufel im Glockenturm". Fjodor Dostojewski hat mit diesen nach 1843 entstandenen Erzählungen eine spürsichere Auswahl getätigt. Dostojewski ging es darum, dem russischen Lesepublikum im Jahr 1861 einen noch unbekannten amerikanischen Autor zu empfehlen.
    "Edgar Poe ist ein äußerst eigenwilliger Schriftsteller - wirklich eigenwillig, obgleich von größtem Talent. Edgar Poe hält allein die bloße Möglichkeit eines unnatürlichen Ereignisses für denkbar (wobei er diese Möglichkeit zu beweisen trachtet, und zwar manchmal ausgesprochen geistreich), und dieses Ereignis für denkbar erklärend, bleibt er in allem Übrigen der Wirklichkeit volkommen treu."
    Auf brüchigem Erzählgrund
    Was Dostojewksi hier, übrigens in genauer Abgrenzung des Poeschen Schaffens zum Werk ETA Hoffmanns, als Phantastik bezeichnet, würden wir heute Suspense nennen, oder auch Psychothriller: es steht nicht mehr die geniale Kombinationsgabe des Detektivs im Mittelpunkt, sondern die kranke Seele des Täters. Suspense entsteht bei Edgar Allan Poe durch raffiniert kalkulierte Verschiebungen und Brüche im Geflecht seiner Erzählung. So wie eben gehört: Er sei nicht verrückt, versichert uns der Erzähler aus Das verräterische Herz. Zum Beweis zieht er seine Fähigkeit heran, der Leserin ein grauenhaftes Verbrechen in logischer Ordnung darzulegen. Dieses Verbrechen, es ist der Mord an einem alten Mann, geschieht wiederum auf brüchigem Erzählgrund. Es ist Nacht, Opfer und Täter befinden sich in einem nicht weiter beschriebenen Haus, die Beziehung der beiden Männer zueinander ist nicht geklärt und als Motiv für seinen Mord beruft sich der Erzähler, von dem wir wissen, dass er auch der Täter ist, auf eine Überreizung der eigenen Sinne.
    "Ich denke es war sein Auge! Ja, das war es! Er hatte das Auge eines Geiers - ein blassblaues Auge mit einem dünnen Häutchen darüber. Immer, wenn sein Blick auf mich fiel, gefror mir das Blut in den Adern; und so beschloss ich allmählich - ganz langsam -, dem alten Mann das Leben zu nehmen und mich dadurch für immer von diesem Blick zu befreien."
    Schreien oder Sterben
    Zum blickenden Auge kommt ein Geräusch: Nachdem die Leiche des Alten sorgsam zerstückelt und unter den Dielen des Hauses verstaut ist, glaubt der Täter, das Pochen eines Herzens zu hören. Einige Polizisten, die ebenfalls anwesend sind, hören nichts dergleichen, was den Erzähler wiederum zu der Annahme verleitet, dass diese ein grausames Spiel mit ihm treiben. In seinen letzten gestammelten Sätzen der Geschichte nähert sich die Sprache auch mimetisch dem Wahnsinn:
    "Ich spürte, dass ich schreien oder sterben musste! Und jetzt - wieder - horch! lauter! lauter! lauter! lauter! 'Schurken!' kreischte ich, 'heuchelt nicht länger! Ich gestehe die Tat! - reißt die Dielen heraus! Hier, hier! - es ist der Schlag dieses grässlichen Herzens!'"
    Im Grusel der Moderne
    Nichts von all dem mag geschehen sein, oder auch alles. Ein Bewusstsein, das am Rande seiner Selbst balanciert - auch wenn Edgar Allan Poe mit Schauerlichkeiten nicht spart, es gibt in den folgenden Geschichten eine verwesende, eingemauerte Leiche und mehrere Inkarnationen des Teufels, so ist seine Botschaft doch klar: Mensch der Moderne, du wirst dich noch gruseln, denn du wirst in dein eigenes Ich hinabsteigen. Steffen Jacobs hat die minutiösen Bewegungen dieser drei Erzählungen in eine elegante, hörbar vormoderne Sprache übertragen. Besonders hervorzuheben ist hier der Duktus der dritten Erzählung, die in dem fiktiven niederländischen Ort Wunderwilkesseitiss spielt. Es ist der Ort der vielen Uhren, gleich sieben Ziffernblätter hängen im Glockenturm und schlagen jeden Mittag auf die Sekunde genau 12 Uhr. Jedenfalls schlagen sie so lange, bis ein teuflisches Männchen sich am gemeinsamen Uhrwerk zu schaffen macht. Das folgende Pandämonium in dem kleinen Dorf wird von einem Chronisten protokolliert. Der ironisiert den Stil der wissenschaftlichen Journale seiner Zeit und gibt sich am Ende als Augenzeuge zu erkennen.
    "Da die Angelegenheiten nun also so schlecht standen, verließ ich angewidert den Ort und erbitte nunmehr die Hilfe aller Liebhaber des richtigen Zeitmaßes und des guten Sauerkrauts. Lasst uns gemeinsam nach Wunderwilkesseitiss ziehen und die altehrwürdige Ordnung der Dinge wiederherstellen, indem wir dieses Bürschchen aus dem Glockenturm werfen."
    Da bleibt man doch lieber an Ort und Stelle und genießt, in Anlehnung an Kat Menschiks Illustrationen, ein starkes geistiges Getränk. Wer auf Seite 33 Wasser sah, möge noch einmal hinschauen - im Glas mit Ziegenschädel schwappt ganz sicher der Absinth. Kat Menschik hat mit ihren Bildern das Delirium der Texte so tadellos umgesetzt, dass es den Betrachter spätestens jetzt angenehm gruselt. Und Edgar Allan Poe lässt seine Leser bereits in jene Abgründe der Psyche blicken, die Sigmund Freud erst ein halbes Jahrhundert später beschreiben würde.
    Edgar Allan Poe: "Unheimliche Geschichten", ausgewählt von Fjodor Dostojewski, illustriert von Kat Menschik, Verlag Galiani Berlin, 96 Seiten, 18 Euro