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Edinburgh Festivals
Brexit, die schottische Unabhängigkeit und mehr

Im August kommen Hunderttausende aus aller Welt nach Schottland, um Tanz, Theater, Comedy und Oper zu genießen. Das Edinburgh International Festival und das Fringe Festival feiern bereits ihr 70. Jubiläum. Es geht nicht nur, aber auch um den Brexit und um die schottische Unabhängigkeit.

Von Stephanie Pieper | 15.08.2017
    Ein Mitglied des Circus of Horrors zeigt seine Nummer, als die Edinburgh Fringe Parade am 4.8.2002 durch Edinburgh zieht.
    Trotz Brexit - es gibt schon noch etwas zu Lachen auf dem größten Kultur-Festival der Welt in Schottland. Hier ein Mitglied des Circus of Horrors bei der Edinburgh Fringe Parade. (picture alliance / dpa / epa PA Cheskin)
    Nur spärlich bekleidet steht Boris Johnson alias James Witt auf der Bühne: Der korpulente Brexit-Frontmann trägt ein weißes Unterhemd und knapp sitzende Shorts im Union-Jack-Look. Sein weißblonder Haarschopf ist, wie immer, kunstvoll verwuschelt. "Brexit – The Musical" feiert seine Premiere beim Edinburgh Fringe Festival.
    Theresa May ist plötzlich Premierministerin – und sucht mit Johnsons Hilfe nach dem geheimen Brexit-Plan, der irgendwo versteckt sein soll. Nur: wo? Geschrieben hat dieses Musical der Londoner Hobby-Komponist Chris Bryant, der in seinem Hauptberuf als Anwalt Firmen zum EU-Austritt berät. Die Brexit-Protagonisten durch den Kakao zu ziehen, ist für ihn eine Form der Therapie.
    "For me, this was kind of therapy – and a bit of light relief from that, just taking the mickey out of Brexit rather than focusing on the serious side.”
    Die konservative Führungsriege abwatschen
    Dem Publikum in Edinburgh gefällt, wie Bryant die konservative Führungsriege abwatscht – ein treffendes Porträt unserer wichtigsten Politiker, meint diese Zuschauerin:
    "Yeah, I really enjoyed it. It was a good characterization of our most important – haha – politicians.”
    Und ihr Mann wünscht sich, das Brexit-Drama würde im echten Leben ein ebenso gutes Ende nehmen wie auf der Bühne:
    "I think it’s very difficult to predict how it will go. I wish in real life we had a happy ending like in the show.”
    Denn natürlich hat "Brexit – The Musical” ein Happy End für alle EU-Freunde: Der Geheim-Plan sieht vor, dass Großbritannien klammheimlich Mitglied im europäischen Klub bleibt – aber auf einem Bus groß einfach plakatiert, ausgetreten zu sein. Die Briten werden’s schon glauben.
    Größtes Kultur-Festival der Welt in Edinburgh
    Das Brexit-Musical ist nur eine von täglich mehr als 3.000 Shows, die auf dem "Fringe" laufen, das längst viel mehr ist als eine Rand-Veranstaltung, nämlich das größte Kultur-Festival der Welt. Die Tickets kosten meist nur ein paar Pfund, die ersten Vorstellungen beginnen früh morgens, die letzten enden spät abends und dauern selten länger als eine Stunde. Die Stimmung in Edinburgh während des Festivals ist einfach großartig, schwärmt die Studentin Sarah – pulsierend, laut, eine einzige Party:
    "It’s amazing, yes, it’s really vibrant – it’s quite loud, actually, it feels like a party."
    Überall in der Innenstadt verteilen die Amateur- und Profi-Künstler selbst und ihre Helfer Flyer, um für ihre Auftritte zu werben. Arianna stammt aus Brasilien, hat in Edinburgh studiert und arbeitet jetzt in London. Sie kehrt jedes Jahr im August nach Schottland zurück, um so viele Shows wie möglich zu sehen – die manchmal eine Enttäuschung sind und manchmal ein Glücksgriff:
    "You will see the worst thing that you’ve ever seen in your life. And you will see the best thing you’ve ever seen in your life.”
    Festival-Marathon mit Streetfood
    Auch auf dem Campus der University of Edinburgh stehen gleich mehrere Veranstaltungszelte – was die deutsche Studentin Jana etwas gemein findet, weil sie noch in der Uni-Bibliothek büffeln muss und das Festival deshalb bislang kaum genießen konnte:
    "Da ich gerade meine Masterarbeit schreibe, nicht so richtig. Ich war bei einer Show, bei einer One-Woman-Show, die auch super cool war, die mir sehr gut gefallen hat. Und die Atmosphäre ist natürlich super."
    Nicht zu vergessen: Die große Auswahl an Streetfood, denn so ein Festival-Marathon macht Besucher und Darsteller gleichermaßen hungrig.
    "Das Verbindende suchen" in Europa
    An zwei Abenden rockt PJ Harvey mit ihrer Band das Playhouse. Ihr Konzert steht auf dem Programm des offiziellen Edinburgh International Festival, das – wie das alternative Fringe – nur zwei Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges gegründet wurde. 1947 wollte dieses erste Klassik-Treffen – nach den Verbrechen der Nazis – das Verbindende suchen zwischen den europäischen Nationen. Das ist auch heute noch die Botschaft, erst recht nach dem Brexit-Votum, sagt Festival-Direktor Fergus Linehan – beim Treffen in seinem Büro ganz in der Nähe des Edinburgh Castle:
    "In einer Zeit, in der unser Land dabei ist, sich aus dem großen europäischen Projekt zu lösen, ist es schon etwas Besonderes, für eine Institution zu arbeiten, deren Fundament gewissermaßen die genau gegensätzliche Idee ist."
    Hoffnung auf Unabhängigkeit und den Verbleib in der EU
    Linehan – ein gebürtiger Ire – hofft, dass der bevorstehende Abschied aus der EU es nicht erschwert, in den kommenden Jahren Künstler vom Kontinent zu diesem Festival nach Schottland zu locken und, falls nötig, Visa für sie zu erhalten.
    Aber vielleicht bleibt Schottland ja sowieso in der EU, als unabhängige Nation? Vladimir McTavish hätte nichts dagegen. Er lädt das Festival-Publikum jeden Mittag in das Counting House ein, zum Plausch mit ein paar schottischen Stand-up-Comedians. Eine zweite Volksabstimmung wäre ganz nach seinem Geschmack – nicht zuletzt, weil er dann seine Gags aus dem Referendumsjahr 2014 recyceln könnte:
    "The fact that we’re not having a second referendum is something I’m pretty disgusted with, really – because I have a lot of material from 2014 that I want to use again!”
    McTavish bedauert aber auch ernsthaft, dass die schottische Ministerpräsidentin Nicola Sturgeon ihren Plan für einen neuen Volksentscheid auf Eis gelegt hat. Sein Comedian-Kollege John Scott ist jedoch optimistisch, dass es – wenn auch nicht jetzt, so doch irgendwann – klappen wird mit der Unabhängigkeit:
    "They just need to sit and wait until this government makes a gigantic mess of Brexit. People see the fallout – and then they might have a shot at independence again, I don’t think they can win it just now."
    Unabhängigkeit, Brexit, Trump - Steilvorlagen für Punchlines
    Die Schotten müssten einfach nur abwarten, meint Scott, bis die konservative Regierung in London aus dem Brexit einen Riesen-Schlamassel veranstaltet hat.
    Dürften nur die Künstler auf den Festivals in Edinburgh abstimmen, dann würde vermutlich eine große Mehrheit für ein unabhängiges Schottland herauskommen – und eine mindestens ebenso große Mehrheit gegen den Brexit. Susan dagegen, die gerade den Auftritt des bekannten Comedian Fred Macaulay aus Glasgow gesehen hat, hat überhaupt keine Lust auf noch ein Referendum:
    "I just don’t want to think of it anymore. I voted to stay in Europe, but I still want to be part of the British Isles. So I don’t want to see it and I hope it doesn’t happen in my lifetime."
    Trotz EU-Austritt hofft Susan, dass Schottland bei Großbritannien bleibt, solange sie lebt. Das Hick-Hack um die Unabhängigkeit, das Gerangel um den Brexit und natürlich der Twitter-Stream von Donald Trump liefern den politischen Kabarettisten in Edinburgh die Steilvorlagen für ihre Punchlines. Die Festival-Besucher haben eigentlich nur ein Problem: die Qual der Wahl.