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Édouard Louis: "Im Herzen der Gewalt"
Die Eskalation einer spontanen Liebesnacht

Autobiographische, "nicht-fiktionale" Romane sind das bisherige Erfolgsrezept des 24-jährigen französischen Schriftstellers Édouard Louis. In seinem neuen Buch geht es um die Frage, wie eine euphorisch begonnene Liebesnacht in Vergewaltigung und versuchtem Mord gipfeln konnte.

Von Christoph Vormweg | 28.08.2017
    Der französische Schriftsteller Édouard Louis.
    "Im Herzen der Gewalt" von Édouard Louis ist kein Monolog eines Misshandelten, sondern ein mehrstimmiger Roman. (picture alliance / dpa / Emilio Naranjo)
    Wie kann euphorisch erlebte Zweisamkeit von einem Moment auf den anderen in brutale Gewalt umschlagen? Édouard Louis erzählt die Geschichte einer spontanen Liebesnacht, die in einer Vergewaltigung eskaliert. Schlimmer: Sie steigert sich zum Mordversuch. Nicht nur die körperlichen Schmerzen peinigen das Opfer danach. Auch die Angst wächst, dass der mit einer Pistole bewaffnete Täter noch einmal zu seiner Pariser Wohnung zurückkommen könnte. In der Nacht des 24. Dezember 2012 hat Édouard Louis diesen polizeilich registrierten Albtraum selbst durchlebt. Warum nennt er "Im Herzen der Gewalt" dann einen Roman?
    "Einen Roman schreiben heißt für mich, eine literarische Konstruktion zu entwickeln. Und ich glaube, man irrt sich, wenn man Konstruktion mit Fiktion assoziiert. Die Konstruktion kann gerade ein Mittel sein, um die Wahrheit zu sagen. Wenn ich nur einen einfachen Bericht geschrieben hätte, wie das die Polizei gemacht hat, einen Bericht, der Zeile für Zeile die Geschehnisse dieser Nacht festhält, könnte ich nicht bis zur Wahrheit des Geschehenen vordringen."
    Ein starker Verschachtelungseffekt verwirrt zuerst
    "Im Herzen der Gewalt" ist kein Monolog eines Misshandelten, sondern ein mehrstimmiger Roman. Um nach dem Mordversuch und den polizeilichen Ermittlungen Abstand zu gewinnen, kehrt Édouard Louis in das verarmte nordfranzösische Dorf seiner Kindheit und Jugend zurück. In der verhassten Heimat, die er in seinem Romandebüt "Das Ende von Eddy" so verstörend beschrieben hat, versucht er, die durch die Tat verlorene Selbstgewissheit wiederzufinden. Er erzählt den Horror der Liebesnacht seiner Schwester – und belauscht wenig später, wie sie die Geschichte ihrem Ehemann weitererzählt.
    "Das ist eine Erfahrung, die ich selbst gemacht habe: Ein eigenes Erlebnis wird dann von anderen mit deren Worten erzählt. Die Brutalität liegt nicht darin, dass mich ihre Worte definieren, sondern darin, dass sie dabei scheitern, dass die Sprache ständig versagt. Es bleibt immer ein unüberwindbarer Unterschied zwischen dem, was ich erlebt habe, und dem, was meine Schwester darüber erzählt, was der Staat dazu sagt, die Polizei, die Ärzte. Denn die Polizisten sind rassistisch, der Staat ist rassistisch und meine Schwester ist brutal, weil sie nicht erfreut ist, dass ich die Welt meiner Kindheit verlassen habe."
    In der Verschränkung der Perspektiven und Sprachebenen liegt der große literarische Reiz des Romans "Im Herzen der Gewalt" - seine Komplexität. Jeder, dem Édouard Louis die Geschichte des Mordversuchs erzählt, bastelt sich aus den gehörten Fakten seine eigene Version. Und natürlich erzählt auch Édouard Louis seine Sicht der Dinge. Das führt zu einem starken Verschachtelungseffekt, der zuerst verwirrt, dann aber durch die herausgearbeiteten Widersprüchlichkeiten immer mehr bannt. Der zentrale Kunstgriff des Plots ist die Art und Weise, wie seine Schwester die Tragödie interpretiert.
    "Ich glaube, jede literarische Geste, jeder Schreibakt muss mit einer Aggression gegen die Literatur beginnen, mit einer brutalen Infragestellung der Literatur. Ich habe mich gefragt: Was wird heute aus der Literatur ausgeschlossen? Und ich habe mir gesagt: Das ist die Sprache meiner Kindheit, die Sprache der Unterschicht, derjenigen, die nicht die Chance hatten, zur Schule zu gehen, zu studieren. Und deshalb habe ich mir gesagt: Diese Realität, die heute von der Literatur ausgeschlossen ist, will ich in den Mittelpunkt stellen."
    Der Schriftsteller ist auch studierter Soziologe
    Édouard Louis‘ Schwester präsentiert im Gespräch mit ihrem Ehemann eine gefilterte, von Vorurteilen verzerrte Sicht der Liebesnacht. Durch sie wird "Im Herzen der Gewalt" zu einer Art Fortsetzungsroman von "Das Ende von Eddy". Denn über ihre Kommentare erfährt der Leser, wie befremdet die Familie darüber ist, dass ihr Eddy als Pariser Elite-Student wie die "feinen Leute" schwadroniert und auf sie herabschaut. Gleichzeitig ist die Schwester der Joker in der Romankonstruktion. Denn der Vergewaltiger hat arabische Wurzeln.
    "Ich musste eine literarische Form finden, die jede rassistische Lesart des Buches pulverisiert und unmöglich macht. Und deshalb erzählt meine Schwester die Geschichte. Wenn sie sagt, Reda wollte ihn bestehlen, dann sagt sie auch: Aber Édouard hat als Junge genauso geklaut. Und wenn sie erzählt, wie Reda mich physisch angreift, spricht sie auch darüber, wie mein Bruder oder meine Cousins andere verprügelt haben. Dank ihrer Stimme ist es mir gelungen zu zeigen, dass die rassistische Analyse dieser Nacht nicht die zutreffende ist."
    Hier merkt man, dass Édouard Louis nicht nur Schriftsteller, sondern auch studierter Soziologe ist. Einerseits gibt er am Ende des Buchs zu, in seiner Wut selbst drei Monate lang Rassist gewesen zu sein, um Redas Mordversuch zu verdauen. Andererseits kämpft er mit all seinem Wissen gegen jede Vorverurteilung an. Vor allem der Rassismus der Polizeibeamten, die ihn verhören, entsetzt ihn. Gepeinigt von den Nachwirkungen der Liebesnacht sucht er eine Erklärung der Tat.
    "Die Gewalt liegt woanders: in der Ausgrenzung, in der Herrschaft der weißen Rasse. Redas Vater kam in der 60er-Jahren aus Algerien nach Frankreich. Er wurde in eines dieser Immigranten-Wohnheime gesteckt, die von der französischen Regierung eingerichtet wurden. Man parkte die Leute zu zehnt in winzigen, schmutzigen Zimmern. Sein Leben und das von Reda später waren von rassistischen Beleidigungen geprägt. Und wenn man ständig Gewalt ausgesetzt ist, wird man irgendwann selbst gewalttätig. Wie kann sich die Gesellschaft, in der wir leben, über die Gewalt wundern, wenn sie sie selbst produziert, wenn die Regierung so viel Ungleichheit und soziale Ausgrenzung erzeugt, so viel Demütigung? Wie kann man sich da wundern?"
    Der Roman wurde selbst zum Gegenstand eines Prozesses
    In seinem verstörenden, durch die geschickte Brechung der Chronologie immer spannenden Roman "Im Herzen der Gewalt" macht Édouard Louis menschliche Abgründe sichtbar. Er will die Ursachen für Redas Gewalttätigkeit zeigen, ohne sie zu entschuldigen. Schonungslos beschreibt er das Gefühlschaos des Vergewaltigten: In einer gekonnt vielstimmigen, mitreißenden, von Hinrich Schmidt-Henkel bravourös übersetzten Prosa. Auch spart er die Konflikte in seiner Pariser Wahlfamilie nicht aus. Zu ihr gehören der väterliche Freund und Soziologe Didier Eribon und der junge Philosoph Geoffroy de Lagasnerie. Ihren Rat, Anzeige zu erstatten, hat Édouard Louis befolgt, aber bereut. Denn so wurde schließlich auch noch der Roman selbst zum Gegenstand eines Prozesses. Aber das ist eine andere Geschichte.
    Édouard Louis: "Im Herzen der Gewalt"
    Roman, aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2017, 220 Seiten, 20 Euro