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Edward St. Aubyn: "Dunbar und seine Töchter"
Geisterbahnfahrt durch bekannte Handlung

Edward St. Aubyns neuer Roman ist eine Adoption von "King Lear": Shakespeares flirrende und düsterste Tragödie, in der der König ein greiser Medienmogul ist. Abgesehen von dem Setting, hält sich St. Aubyn eng an die Vorlage - psychologisch bleibt die Erzählung aber nur wenig ausgeleuchtet.

Von Joachim Geil | 26.12.2017
    Der Schauspieler Markwart Müller-Elmau spielt am Donnerstag (24.02.2005) in Hamburg als King Lear in einer Fotoprobe des Stücks "King Lear" von Shakespeare. Das Stück in der Regie von Andreas Kriegenburg hat am Samtag (26.02.2005) Premiere.
    Der greise König Lear - hier der Schauspieler Markwart Müller-Elmau in einer Inszenierung am Thalia Theater - ist in der Roman-Adaption von Edward St Aubyn ein Medienmogul (picture alliance / dpa / Maurizio Gambarini)
    Edward St Aubyn, der geistreich wie schonungslos sezierende Spross und Spiegelhalter der englischen Aristokratie, hat sich nun an die ganz große Weltliteratur gewagt. Nach seiner fünfteiligen Saga um den Protagonisten Patrick Melrose, in den einige autobiografische Motive eingeflossen sind, nun: King Lear, Shakespeares flirrende und düsterste Tragödie.
    Angeregt wurde St Aubyn dazu von seinem Verlag Hogarth, der Shakespeare-Adaptionen zum Projekt erklärt hat. Wir erinnern uns also: Der alte eitle König, die beiden bösen Töchter, die eine gute Tochter, die Getreuen und Angeheuerten auf beiden Seiten. Der unaufhaltsame Sog in die Katastrophe, als Lear sein Reich Britannien in die Hände der bösen Töchter gibt, die ihn geschickter gebauchpinselt haben als die gute, ehrliche Tochter.
    Nun wollen die beiden bösen den Alten loswerden. Das ist vielleicht holzschnittartig formuliert, trifft aber St Aubyns Roman recht gut. Hier ist aus Britannien ein Medienimperium geworden, das den Familiennamen seines kanadischen Titelhelden trägt: Dunbar. Im Deutschen lautet der Titel zur besseren Orientierung: Dunbar und seine Töchter.
    Figur des Narren: alkoholabhängiger Fernsehkomiker
    Aus Lears Tochter Goneril wurde die nicht minder machtgeile Abigail, genannt Abby, und aus Regan eine sexbesessene Megan, kurz Meg. Sie haben ihren Vater bereits in ein Sanatorium im nordenglischen Lake District abgeschoben, wo er von dem manipulativen Domestiken Dr. Bob pharmakologisch eingestellt worden ist. Bei Shakespeare hatte der noch keine ärztliche Ausbildung und hieß, wir erinnern uns, Edmund.
    Die wichtige Figur des Narren heißt jetzt Peter Walker, ein heruntergekommener, alkoholabhängiger Fernsehkomiker und Stimmenimitator. Die Geschichte beginnt – und das mag eine Verbeugung vor dem Vorbild sein – als reine Dialogszene zwischen dem schon verwirrten Dunbar und Peter, der als Narr natürlich auch Mitinsasse ist.
    Schnell weiß man, wen man hier vor sich hat, Pointen fliegen, und es geht los, denn die beiden büxen aus dem Sanatorium aus. Damit wird eine aberwitzige, mit Paranoia nicht knausernde Verfolgungsjagd durch eine raue Winterlandschaft in Gang gesetzt. Das Ganze wird zum Thriller. Und Peter Walker darf als Narr schon zu Beginn große Wahrheiten wirr aussprechen:
    "Wissen Sie, sagte Peter [...], 'ich bin oder ich war oder ich bin gewesen – wer weiß, ob ich nicht längst Geschichte bin? –, jedenfalls bin oder war ich ein berühmter Komödiant, aber ich leide unter Depressionen, das komische Leid oder das tragische Leid der Komiker oder das historische Leid der Tragikomiker oder die Fiktion vom tragischen Leid der historischen Komödianten!"
    Problematisch ist die Darstellung von Gut und Böse
    Solcherlei Reflexionen heben die Geschichte durchaus über einen Thriller mit Literaturanleihe hinaus. Zum Problem des Buches wird allerdings die Darstellung von Gut und Böse. Denn die beiden bösen Töchter fahren eine derartige Bösartigkeit auf, dass man zwischen all ihren juristischen und handgreiflichen Dauerdrohungen das eigentlich Monströse und Grauenerregende auch mal für Kasperletheater hält. Zumal die Schwestern von einer generellen Geilheit befallen sind, geldgeil, machtgeil und dazu auch noch sexbesessen. Sex mündet bei ihnen immer in gewaltsam kontrollierte Machtbeziehungen. Über Meg heißt es da pointiert:
    "Sie fand, dass Schmerz der Goldstandard sei, an den die Papierwährung der Liebe fest gekoppelt sein musste. Schmerz ließ sich messen, während sich Liebe meist nicht einmal lokalisieren ließ."
    Es mangelt an subtiler Psychologie
    Das glamouröse Böse wird vom Autor exzessiv ausgekostet. So liegt dann jener Arzt Dr. Bob mit Abby und Meg, den bösen beiden, im Bett, und Meg beißt ihm die Brustwarze ab. Der Leser schluckt, aber in seiner Dienstbeflissenheit verschwindet Dr. Bob kurz im Bad, um das eben schnell mit Nadel und Faden wieder in Ordnung zu bringen. Man fragt sich häufiger in diesem Buch, ob nicht die Schmerzgrenze durch solche Nadelstiche weniger überschritten als vielmehr betäubt wird.
    Besser, man ergötzt sich einfach an der sarkastischen und sprachlich brillanten Boshaftigkeit des Erzählten und gibt sich dem Handlungssog des Thrillers hin. Natürlich greift die herzensgute Tochter, die hier nicht Cordelia, sondern Florence heißt, ins Geschehen ein. Sie will ihren Vater retten und ist von sprichwörtlicher Fürsorglichkeit – wie eben jene Nationalikone, die Krankenschwester der Herzen, Florence Nightingale.
    Doch hier bekommt das Gute schnell seine Probleme, denn es ist nicht böse. St Aubyn will ihm einfach nicht die gleiche Aufmerksamkeit schenken. Man vermisst dann doch eine subtile Psychologie. Statt stiller Annäherung bleibt Florence etwas blass. Natürlich sind wir auf ihrer Seite, aber wir wären ihr auch gerne näher.
    Politische Anspielungen?
    Immerhin bekommt das Beziehungsgeflecht auf der Ebene der Nebenfiguren eine interessante Ambivalenz, denn da spielen einige ein Doppelspiel oder wechseln die Seite. Insgesamt aber bleibt St Aubyns Buch immer auf das rasant-rabiate Böse konzentriert. Auch politische Anspielungen tauchen bestenfalls dekorativ auf.
    Erst in den letzten Kapiteln, als sich Dunbar und Florence näherkommen und der alte besessene Unternehmer seine Menschlichkeit entdeckt, wird psychologisch einfühlsam erzählt. Vorher erfahren wir allenfalls etwas von Henry Dunbars Seelenleben in halluzinatorischen Naturbeobachtungen. Auf seiner Flucht mischen sich in die Winterlandschaft Elemente des Surrealen, Televisionären und Unterbewussten:
    "Die kahlen Bäume, die ihre schwarzen Zweige hysterisch in alle Himmelsrichtungen streckten, erinnerten ihn an Illustrationen des von Krankheit gezeichneten Zentralen Nervensystems: Studien des menschlichen Leids, anatomisch exakt dargestellt am Winterhimmel."
    Manches gerät sperrig und "schachtelig"
    Dunbar und seine Töchter ist eine rasante, sprachlich avancierte Geisterbahnfahrt durch eine bekannte Handlung. Diese wird psychologisch nicht ausgeleuchtet, aber mit grellen Reizen so angereichert, dass man eigentlich gut geschüttelt durchkäme, wenn nicht zwei Dinge im Weg stünden. Einmal ist es das jargonartig eingesetzte ökonomische Fachvokabular. Die französische Invasion Britanniens bei Lear ist hier eine drohende feindliche Übernahme. Doch leider gelingt es St Aubyn nicht, dem Managersprech einen literarischen Mehrwert abzugewinnen.
    Und zum zweiten ist die deutsche Übersetzung von Nikolaus Hansen zwar grundsolide, scheitert aber oft an den zahlreichen Sprachwitzen des rhythmischen Originals. Sie will nicht recht funkeln, und manches gerät doch etwas sperrig und schachtelig.
    Was das Finale betrifft, so könnte man sagen, St Aubyn folgt weitgehend dem Vorbild, doch wie heißt es in einem anderen, vielfach adaptierten Shakespeare-Stück? Der Rest ist Schweigen.
    Edward St. Aubyn: "Dunbar und seine Töchter". Knaus Verlag, München 2017, 256 Seiten, 20 Euro