Abends um halb sechs an der Place Paul Verlaine, im Pariser Süden. Gerade haben drei Frauen, allesamt Mitte 50, einen Klapptisch aufgebaut, auf den sie nun Gebäck neben einen Stapel Flugblätter stellen. Die Frauen tragen gelbe Signalwesten, Erkennungszeichen der Gilets Jaunes, der Gelbwesten-Bewegung. Die drei Mitbegründerinnen der Ortsgruppe Paris Sud kommen seit einem guten halben Jahr jeden Freitag, um zu demonstrieren Véronique, die ihren Nachnamen nicht preisgeben möchte, klammert Poster an einer zwischen zwei Bäumen gespannten Wäscheleine fest: Fotos der Sprüche, mit denen Gilets-Jaunes-Aktivisten landauf landab ihre Westen verzieren. Stolz zitiert sie ihre Lieblingssprüche.
"Nehmt die Banker aus und nicht die Arbeiter! Alle gemeinsam verlangen wir die Neuverteilung aller Reichtümer! Monatsende oder Ende der Welt – derselbe Kampf!"
Was die Gelbwesten-Bewegung grundsätzlich fordert, hat sich bei den ersten Kundgebungen gegen die Anhebung der Abgaben auf Diesel und Benzin bald herausgeschält und gilt bis heute: mehr soziale Gerechtigkeit, mehr Demokratie, erklärt Véronique:
"Unser Präsidialsystem lässt es nicht zu, dass das Volk sich zu Wort meldet. Alle fünf Jahre werden wir bei den Wahlen um unsere Stimme gebeten, aber davon abgesehen werden wir, wird das Volk, kaum je erhört. Haben Sie den jüngsten Spruch von Premierminister Édouard Philippe gehört? Er ließ anklingen, dass bei der nächsten Präsidentschaftswahl in jedem Fall erneut Marine Le Pen und Emmanuel Macron aufeinander treffen würden. In dieser Bemerkung schwingt mit, dass die anderen Parteien gar keine Daseinsberechtigung mehr haben. Da haben wir dann aber ein großes Problem, was die politische Pluralität, das Mehrparteiensystem betrifft."
Nach und nach trudeln weitere Mitstreiter am Stand ein. Pierre Radier hat sich der Gelbwesten-Bewegung gleich zu Beginn angeschlossen, jeden Samstag ist er bei einer Kundgebung auf der Straße, jeden Dienstag bei der Versammlung des Ortsverbands Paris Sud. Staatspräsident Macron, gibt Radier zu, habe zwar einige Konzessionen gemacht, aber das reiche längst nicht aus.
Am 17.11.2018 wurden die ersten Kreisverkehre besetzt
"Ja, ich denke, er hat nun auch das Tempo bei seinem Reformkurs etwas gebremst. Vor allem aber ist die französische Gesellschaft in Bewegung gekommen. Speziell die kleinen Leute – dank der Gelbwesten-Bewegung sind sie nun nicht mehr bereit, alles von oben einfach so zu ertragen. Nun reagieren sie und tauschen ihre Ideen aus, in den sozialen Netzwerken, bei Kundgebungen, in Arbeitsgruppen. Viele haben sich so politisiert und werden sich erstmals ihrer Macht bewusst. Die Leute sind etwas weniger resigniert als früher. Und die anderen Bürgerbewegungen, die nun rund um den Globus aufgekommen sind, machen uns hier viel Mut."
Mit einem Lächeln deutet Pierre Radier auf ein Foto mit dem "Gelbwesten"-Slogan: 'Die schlechten Tage werden enden'. Dafür demonstriert er seit nunmehr einem Jahr.
Rückblick: Am 17. November 2018 werden die ersten Kreisverkehre von sogenannten "Gelbwesten" besetzt. Die Proteste setzen sich landesweit fort, werden intensiver, an den Advents-Samstagen kommt es auf den Pariser Champs-Élysées mehrfach zu Gewaltausbrüchen, wie man sie so schon sehr lange nicht mehr erlebt hatte.
"Es ist das Prinzip der Revolution! Es ist das souveräne Volk! Und eine Revolution geht nicht ohne Gewalt ab, auch wenn ich da nicht mitmache. Wenn wir nichts machen, hört die Regierung einfach nicht zu!"
Staatspräsident Emmanuel Macron schweigt zu alledem - tagelang. Und als er sich am 10. Dezember zum ersten Mal äußert, hält er eine Grundsatzrede an die Nation, in der er die "Gelbwesten" mit keinem Wort erwähnt.
"Unsere Nation erlebt einen historischen Augenblick. Mit Dialogbereitschaft, Respekt und gemeinsamen Anstrengungen werden wir vorankommen. Ihr Wohl ist das Wichtigste für mich. Mein gesamtes Wirken soll Ihnen zugutekommen. Unser ganzer Kampf gilt Frankreich."
Bis heute vermeiden es der Präsident und seine Regierung, den Begriff Gilets Jaunes zu verwenden; auch in den Monaten, in denen die "Gelbwesten" das Land in Atem hielten, hat sich die Regierung rückblickend nur selten geäußert und wenn, dann eher allgemein und historisch einordnend. Etwa Premierminister Édouard Philippe bei seiner Regierungserklärung am 12. Juni:
"Im November vergangenen Jahres haben wir eine große Wut erlebt. Manche sagen, wir allein hätten sie hervorgerufen. Ich glaube das nicht. Aber das spielt keine Rolle: diese Wut richtete sich zuallererst auf uns, die Regierung und das Parlament. Und in gewisser Weise wurden wir an unser Versprechen erinnert, Arbeitsplätze zu schaffen, Ungerechtigkeit zu bekämpfen. Wir haben daraufhin tiefgreifende Entscheidungen getroffen, um den Franzosen entgegenzukommen und sie zu beruhigen."
Präsident kündigte große Debatte an
Diese "tiefgreifenden Entscheidungen" waren Sofortmaßnahmen im Wert von rund zehn Milliarden Euro, darunter die Rücknahme der Ökosteuer auf Treibstoffe – ursprünglich Auslöser der Proteste -, eine staatlich finanzierte Erhöhung des Mindestlohns um 100 Euro monatlich, Steuerbefreiung für Arbeitgeberprämien und Überstunden, finanzielle Entlastungen für Rentner, die über weniger als 2.000 Euro monatlich verfügen.
"Beruhigen" konnte die Regierung die Demonstrierenden mit ihren Maßnahmen nicht. Die Forderungen der "Gelbwesten" zielten immer grundlegender auf die Aufhebung sozialer Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten. Die Wirkung der Sofortmaßnahmen sieht der Politikwissenschaftler Bruno Cautrès vom Nationalen Forschungszentrum CNRS als paradox an; im Sender BFM sagte er:
"Die Regierung hat ja Milliarden auf den Tisch gelegt, es gab Steuererleichterungen, es gab eine Stärkung der Kaufkraft – das alles ist unbestreitbar. Aber es haben eben bei weitem nicht alle etwas davon gehabt. Vor allem bei den Geringverdienern bleibt doch der Eindruck bestehen, dass sie ihre Lebenssituation nicht wirklich verändern können. Das heißt, ein Teil der Bevölkerung hat nach wie vor das Gefühl, dass in Frankreich Ungerechtigkeit herrscht, man keinen eigenen Weg mehr finden kann. Es ist nur ein Gefühl, aber man weiß ja, dass Gefühle in der Politik oft wichtiger sind als die Realität."
Francine Simon spricht nicht von Gefühlen, sondern von Fakten. Aber in der Stimme der Gilets-Jaunes-Aktivistin von der Ortsgruppe Paris Sud schwingt viel Wut mit.
"Macron hat das Wohngeld gekürzt. Angeblich, so hieß es, nur um fünf Euro. Aber meiner Mutter, die nichts als die Mindestrente hat, wurden 35 Euro Wohngeld gestrichen."
Mehr soziale Gerechtigkeit wünscht sich auch Véronique:
"Zwar ist nur ein Prozent der französischen Bevölkerung sehr reich, aber es gibt viele Begüterte. Allerdings gibt es noch mehr Franzosen, die nicht über die Runden kommen: Spätestens Mitte des Monats ist ihr Kühlschrank leer. In einem Land, in dem genug Geld fließt, ist es einfach nicht ok, dass neun Millionen Menschen am Existenzminimum herumkrebsen oder zumindest immer wieder finanzielle Schwierigkeiten haben."
Schon im Dezember hatte Emmanuel Macron eine "Große Nationale Debatte" angekündigt, um die "Wut der Proteste", wie er sagt, "in Lösungen zu verwandeln". Dieser in ganz Frankreich geführte "grand débat national" begann im Januar und dauerte bis in den April hinein, die Beteiligung war erstaunlich hoch: In rund 7.000 Veranstaltungen, organisiert von Bürgermeistern, lokalen Organisationen, Gewerkschaften und Vereinen, wurde über den Reformbedarf des Landes diskutiert – im Zentrum ein Präsident, der sich aufmerksam anhörte, was Bürgermeister und Abgeordnete, Gymnasiasten, Rentner, Lehrerinnen, Landwirte zu sagen und zu klagen hatten. Von den Bürgerdiskussionen des Präsidenten dauerten manche über fünf Stunden, wurden in voller Länge live im Fernsehen übertragen und erzielten hohe Einschaltquoten. Geschickt nutzte Macron die große Bühne, um den Franzosen noch einmal die Notwendigkeit seiner Reformen vor Augen zu führen.
"Sie haben mich, Herr Bürgermeister, auf das Thema Gerechtigkeit angesprochen und auf die Frage der Vermögenssteuer. Viele wollen, dass sie wieder eingeführt wird. Aber ich frage Sie: Hat man früher mit ihr besser gelebt? Nein! Verzeihen Sie, wenn ich das so offen sage: Auch als es noch eine hohe Vermögenssteuer gab, hat das keines der Probleme, von denen wir hier sprechen, gelöst!"
Rund zwei Drittel der Franzosen bewerteten die "Große Nationale Debatte" positiv; Macron gelang es, die landesweite Krisenstimmung aufzufangen. Die Reformvorschläge aus der Bevölkerung wurden dokumentiert, manches davon ging in aktualisierte Reformpläne ein. Und Macron erreichte auch sein vielleicht wichtigstes Ziel: Bürgernähe zu zeigen.
Debatte über Gewalt - von Demonstranten und Polizisten
Die "Gelbwesten"-Bewegung aber erreichte der Präsident so gut wie gar nicht: Nur wenige Gruppierungen erkannten die Bemühungen Macrons an; die große Mehrheit der "Gelbwesten" sah in seinem Debatten-Marathon nur ein Täuschungsmanöver, mit dem die Bürgerinnen und Bürger ruhiggestellt werden sollten. Lieber organisierte man eine eigene, die sogenannte "Wahre Debatte", le vrai débat. Auf einer Internet-Plattform gingen über 25.000 Vorschläge ein, zur Steuergerechtigkeit, zum Wahlrecht, zum Arbeitsrecht, zum Öffentlichen Dienst, zum ökologischen Wandel.
Die Samstagsdemonstrationen gingen unterdessen weiter – bei sinkenden Teilnehmerzahlen und zunehmender Radikalisierung. Immer wieder kam es zu Ausschreitungen, wurden Barrikaden und Fahrzeuge in Brand gesetzt; rassistische und homophobe Äußerungen häuften sich, antisemitische Plakate und Graffiti. Verschwörungstheorien verbreiteten sich, fanden unter den Demonstrierenden einer Studie zufolge besonders viele Anhänger. Nachdem Sicherheitsgesetze verschärft worden waren, ging die Polizei ihrerseits mit immer härteren Mitteln gegen Randalierer vor, setzte Tränengas und Wasserwerfer, Blendgranaten und Hartgummigeschosse ein. In einem Offenen Brief prangerten am 5. Mai mehr als tausend Künstlerinnen und Künstler das Vorgehen der Polizei an:
"Die Bilanz der Repression wird wöchentlich schlimmer. Am 19. April 2019 gab es bereits einen Todesfall, 248 Kopfverletzungen, 23 Personen, die ein Auge verloren haben, fünf, die den Verlust ihrer Hand zu beklagen haben. Das ist unserer Republik unwürdig."
Auf dem Höhepunkt der Vorwürfe gegen die Polizei und den Innenminister, Christophe Castaner von der Regierungspartei La République en Marche, wechselte dieser den Pariser Polizeipräfekten aus. Das Vorgehen der Sicherheitskräfte rechtfertigte er, wenn auch mit Einschränkungen.
"Wir haben in harten Zeiten Reaktionsstärke bewiesen, aber wir müssen auch über die Einsatzmittel der Polizei und der Gendarmerie nachdenken und darüber, wie wir in Zukunft die republikanische Ordnung aufrechterhalten wollen. Wir werden gemeinsam dazu angemessene Antworten finden."
Castaners Analyse wird von den "Gelbwesten" nicht geteilt. Pierre Radier von der Ortsgruppe Paris Sud ist sehr aufgebracht:
"Lassen Sie uns doch mal jede Form der Gewalt auf den Tisch bringen. Dazu gehört auch die Polizeigewalt. Die ist doch viel schlimmer. Da regt man sich über ein paar zerschlagene Schaufenster auf. Ich bin nicht dafür, Schaufenster zu zertrümmern. Aber das ist doch weit weniger schlimm, als wenn ein Demonstrant beim Polizeieinsatz ein Auge verliert oder sonst verletzt wird. Solche Vorfälle haben viele Menschen auf die Straße gebracht – sie waren schockiert zu sehen, mit welcher Gewalt der Staat gegen Demonstranten vorgeht."
In dieser Härte sei das seit 50 Jahren nicht mehr vorgekommen, meint Viviane. Ja, gibt sie zögerlich zu: die Straßenschlachten, der Sturm auf den Arc de Triomphe, das sei der Bewegung anzukreiden.
"Aber mit den Vorfällen vom 1. Dezember kann nicht gerechtfertigt werden, was jeden Samstag aufs Neue auf uns niederprasselt. Seit mittlerweile 52 Wochen. Großteils demonstrieren wir ganz ruhig, wir legen es nicht auf einen Zusammenstoß mit der Polizei an – außer, sie greift uns an."
Vor den Sommerferien waren die Macronschen Debatten beendet worden, die Proteste flauten vollends ab – und die Regierung versuchte einen Neuanfang. Premierminister Édouard Philippe am 12. Juni:
"Wir arbeiten mit neuen Methoden, behalten dabei aber zweierlei besonders im Blick: das Beständige unserer Arbeit und den Zusammenhalt der Gesellschaft.
Gewerkschafts-Aufruf zum Generalstreik
Worin die "neuen Methoden" bestehen sollen, ist nicht eindeutig zu erkennen. Obwohl Macron seinen Ton verändert hat, bleibt er gleichwohl ein entschlossener Reformer. Gerade wurde die Reform der Arbeitslosenversicherung beschlossen; sie sieht unter anderem vor, die Leistungen für Arbeitslose innerhalb der nächsten drei Jahre um knapp dreieinhalb Milliarden Euro zu kürzen. Von den "sozial schwersten Einschnitten seit 25 Jahren" spricht die Gewerkschaft CFDT, von den "Gelbwesten" hörte man dazu während der vergangenen Wochen nichts.
Mit der vielleicht heikelsten der Macronschen Reformen könnte sich das bald ändern: Die bestehenden 42 Sonderrentensysteme für einzelne Berufsgruppen will er durch ein einheitliches Rentensystem ersetzen, die Lebensarbeitszeit soll erhöht werden. Schon haben die Gewerkschaften für den 5. Dezember zum Generalstreik aufgerufen und freuen sich, dass führende "Gelbwesten"-Vertreter sich beteiligen wollen. Etwa der Chef der Gewerkschaft CGT, Philippe Martinez: "Ich trage eine rote Weste, aber rot, gelb und grün – das mischt sich doch gut! Die Frage der Kaufkraft, der Kampf gegen prekäre Arbeit – diese Sorgen haben wir gemeinsam, insofern ist das jetzt eine sehr gute Sache!"
Seit langem schon versuchen die unter Mitgliederschwund leidenden Gewerkschaften, die Proteste der "Gelbwesten" für sich nutzbar zu machen. Doch bisher hat sich die "Gelbwesten"-Bewegung zumindest offiziell sowohl von Gewerkschaften wie von politischen Parteien ferngehalten – wenn auch viele ihrer Mitglieder bei den Europawahlen ihre Stimme den politischen Extremen gaben: auf der linken Seite La France insoumise, auf der rechten dem Rassemblement National. Doch nach außen hin will die "Gelbwesten"-Bewegung auch weiterhin nur eine "Bewegung" sein.
Zum ersten Jahrestag der Gilets-Jaunes-Bewegung werden auch Véronique und Pierre auf der Straße sein, bei einer Protestaktion in Paris.
"Klar ist es viel einfacher, in einer mittelgroßen Stadt oder in einem Dorf lokale Volksvertretungen aufzubauen als in Paris oder gar auf Landesebene. Wir sind keine strukturierte Organisation und keineswegs so hierarchisch wie eine Partei. Wir wollen an der Basis bleiben – und in Bewegung."
"Vor allem sind wir eine brüderliche Bewegung. Wir stehen bei unseren Aktionen Seite an Seite. Auch wenn ich nicht unbedingt alle Ideen meines Nachbarn teile, kämpfen wir dennoch gemeinsam für die wesentlichen Bedürfnisse der Leute, für mehr Solidarität. Häufig ist heute die Rede davon, dass die Leute sich politisch immer mehr voneinander abschotten. Diesbezüglich ist die ‚Gelbwesten‘-Bewegung etwas Neues."
Was der Jahrestag dieser Bewegung bringen wird, ist nicht vorhersehbar. Da keine Sprecher ernannt wurden, gibt es auch keine offiziellen Mitteilungen. Doch im Netz sind die "Gelbwesten"-Gruppen sehr aktiv - und die Französinnen und Franzosen rechnen mit ihnen, sind zu 76 Prozent davon überzeugt, dass es die "Gelbwesten"-Bewegung auch weiterhin geben wird. Die Regierung äußert sich dazu nicht.