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Ein Jahr gesetzlicher Mindestlohn
Mecklenburg-Vorpommern verlässt den Lohnkeller

Von einigen Ausnahmen abgesehen gilt in Deutschland seit dem Jahresanfang das Mindestlohngesetz. Beschäftigte erhalten so mindestens 8,50 Euro brutto pro Arbeitsstunde. Besonders in Mecklenburg-Vorpommern hat dies große Auswirkungen, galt das Land doch bisher als Lohnkeller der Bundesrepublik. Enorme Preissteigerungen und Arbeitsplatzverluste blieben auch hier bisher aus.

Von Silke Hasselmann |
    Ein Fünf-Euro-Schein liegt mit einem Ein- und Zwei-Euro und einem 50-Cent-Stück auf einem Stapel.
    Der Mindestlohn von 8,50 Euro brutto gilt nun seit fast einem Jahr. (Deutschlandradio / Ellen Wilke)
    Gleich neben dem Sitz der DGB Nord-Geschäftsstelle Mecklenburg-Vorpommern in Schwerin befinden sich ein Discounter, ein Pizza-Laden, ein Friseur, ein Bäcker. Überall verdienten die Mitarbeiter bis Ende 2014 weniger als 8,50 Euro brutto pro Stunde. Nun nicht mehr, freut sich Gewerkschaftsregionalleiter Ingo Schlüter:
    "Also, hier haben besonders viele Menschen, insbesondere übrigens Frauen, vom Mindestlohn profitiert. Hier ist Kaufkraft ins Land gekommen über den Mindestlohn. Insgesamt ist das einfach mal eine sozialpolitische, eine arbeitsmarktpolitische Reform, die den Begriff Reform auch verdient hat, wo für die Menschen was bei herumkommt."
    Ingo Schlüter zeigt auf eine druckfrische Gewerkschaftsstudie. In Norddeutschland hätten Niedrigverdiener dank des Mindestlohnes durchschnittlich 6,2 Prozent mehr verdient als 2014. Die größten Sprünge gab es in Mecklenburg-Vorpommern, wo nach der Wende die Massenarbeitslosigkeit und die Erpressbarkeit der Menschen besonders hoch waren.
    "Und das führte dann zu diesem deutlichen Negativbefund: Mecklenburg-Vorpommern - Lohnkeller der Bundesrepublik."
    Im Lohnkeller befand sich auch Ilka Burchert. Sie hat 15 Jahre lang in verschiedenen Hotels und Restaurants auf der Ostseeinsel Usedom gearbeitet - für fünf bis sechs Euro brutto pro Stunde. Nun verdient sie erstmals mindestens 8,50 Euro. Ihre Mindestlohnbilanz?
    "Also, für mich persönlich gut. Aber es gibt auch viele, die setzen ihre Leute auf 30 Stunden und zahlen dann weniger Lohn. Aber die müssen dann trotzdem für 40 Stunden arbeiten."
    Geringverdiener haben nun mehr Geld in der Tasche
    Tatsächlich hat nicht jeder Geringverdiener nun mehr Geld in der Tasche. Mal fassten Unternehmer drei Minijobs zu einer Stelle zusammen. Glück für den einen nunmehr Angestellten, Pech für die Übrigen. Mal waren viele unbezahlte Überstunden zu schrubben. Und manche Arbeitgeber rieten anfangs den Geringverdienern, ihr Einkommen weiterhin durch Harz 4 aufzustocken. Im saisonabhängigen Hotel- und Gastronomiegewerbe ist derweil vor allem diese Variante verbreitet:
    "Der Gesetzgeber schreibt vor, dass der Arbeitnehmer nicht mehr als zehn Stunden am Stück arbeiten darf, sonst gibt es Strafen. Die prüfen das wohl auch nach. Naja, und im Sommer arbeitet man ein bisschen mehr und im Winter ein bisschen weniger. Und so wird das dann halt ausgeglichen."
    Derweil findet auch der für Mecklenburg-Vorpommern zuständige Hauptgeschäftsführer beim Deutschen Hotel- und Gaststättenverband, dass der Politik mit dem Mindestlohngesetzt eine echte Reform gelungen ist. Doch freuen kann sich Matthias Dettmann darüber nicht:
    "Nein, ich bleibe bei den grundsätzlichen Aussagen: Es ist ein nie dagewesener Eingriff in die Tarifautonomie. Das ist natürlich schon schwierig, wenn man flächendeckend einen gesetzlichen Lohn installiert, der in Anklam genauso gelten soll wie in München. Da mache ich ganz große Fragezeichen. Zum anderen: Eine Auswirkung ist natürlich auch, dass durch die Einführung des gesetzlichen Mindestlohnes die Personalkosten in den Häusern um 20 Prozent - zum Teil auch mehr - gestiegen sind."
    Zimmerpreise gestiegen, keine Einbrüche im Tourismus
    Gestiegen sind auch die Zimmerpreise, dennoch entwickelte sich 2015 zum neuen Tourismusrekordjahr für MV. Die Branche kam ohne die befürchteten Serviceeinschränkungen und Umsatzeinbußen aus. Vorerst, sagt Matthias Dettmann. Für generelle Schlussfolgerungen sei es zu früh. Anfang 2016 werde der Verband die Hoteliers und Gaststättenbetreiber über die Folgen des Mindestlohnes befragen.
    Dass sich die besonders düstere Prognose einer massiven Arbeitsplatzvernichtung nicht bestätigen wird, ist dem Schweriner DEHOGA-Funktionär schon jetzt klar. Denn deutschlandweit befindet sich die Branche in einem Allzeithoch mit mehr als einer Million sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen.
    "Auch wir im Land bestätigen diesen Trend, haben rund 36.500 Sozialversicherungspflichtige in der Branche. Das sind wiederum 1.000 Beschäftigungsverhältnisse dieser Art mehr im Verhältnis zum Vorjahreszeitraum, sodass man anhand dieser Zahlen zunächst keine negative Bilanz ziehen könnte."
    Ostseeheilbad Zingst. An der Boddenseite erwartet das "Marks Hotel und Restaurant" seine Gäste - auch im Winter, wenn die meisten Häuser schließen. Ruiniert ist der Familienbetrieb des Ehepaares Marks mit den 15 bis 20 Mitarbeitern erkennbar nicht, aber:
    "Also dieses Jahr, wenn man zurückblickt, muss man sagen, die Lohnkosten fressen einen schon richtig auf. Und dann muss man auch gewisse Stunden einhalten, was in der Gastronomie ganz schwierig ist. Wo ich nicht sagen kann, der fängt um 14 Uhr an und hat seine acht Stunden rum und sagt: So liebe Gäste, ich muss jetzt Feierabend machen, weil der Gesetzgeber sagt, ich darf nicht mehr Stunden arbeiten. So ist es in der Küche eben auch. Also Mindestlohn - ja. Das greift schon tief rein."
    Wettbewerb um Arbeitskräfte steigt
    Viele Hotel- und Gaststättenbetreiber entlang der Ostseeküste haben sich jahrelang eine goldene Nase verdient – auch mithilfe schäbiger Löhne. Nun rächt sich, dass zu wenige Kollegen schon früh versucht haben, auch durch eine bessere Bezahlung rechtzeitig Fachkräfte heranzuziehen und zu halten, sagt die Zingster Hotelbetreiberin. Dass jetzt auch im Gastgewerbe von Mecklenburg-Vorpommern mindestens 8,50 Euro brutto pro Stunde zu verdienen sind, locke nun kaum noch jemanden.
    "Im Gegenteil, dass vielleicht mehr Leute aus der Gastronomie rausgehen, wo sie sagen, ich kann als Bäcker, Verkäuferin auch woanders arbeiten und bekomme meine 8,50 Euro auch. Und ich habe nicht diese Wochenenden, nicht die Feiertage und Spätdienste."
    Dann müsse man die Leute eben noch besser bezahlen, am besten endlich wieder nach Flächentarifvertrag, sagt der Schweriner DGB-Funktionär Ingo Schlüter. Der Mindestlohn sei nur ein erster Schritt heraus aus dem Lohnkeller. Übrigens: Auch an im Zweifel noch ungelernte Flüchtlinge müsse Mindestlohn gezahlt werden. Eine weitere Ausnahme wie jetzt schon für Langzeitarbeitslose und für Praktikanten dürfe die Politik nicht zulassen. Sie sei auch nicht nötig, denn es gebe vor allem im Handel und Gastgewerbe immer mehr Stellenangebote im Land:
    "Da hat man zum Beispiel eine Zunahme um acht Prozent innerhalb eines Jahres. Also, da kann mir jemand erzählen, was er will - der Mindestlohn hat diese Entwicklung jedenfalls nicht versaut."