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Ein Jahr Präsidialsystem in der Türkei
Erdogan in der Krise

Das Präsidialsystem in der Türkei gibt Staatschef Recep Tayyip Erdogan weitgehende Befugnisse. Doch ein Jahr nach der Installation dieses Systems regt sich zunehmend Kritik daran. Auch viele Parlamentarier sind unzufrieden, weil sie kaum noch etwas zu entscheiden haben.

Von Christian Buttkereit | 09.07.2019
Passanten gehen an Wahlplakate von Recep Tayyip Erdogan und Muharrem Ince in Istanbul im Juni 2018 vorbei. |
Ende Juni 2018 wurde Erdogan als Präsident wiedergewählt. Die Türkei ging damit in ein Präsidialsystem über (picture alliance / Emrah Gurel)
Am 11. Juli 2018 wurde Recep Tayyip Erdogan als erster Präsident gemäß dem neuen Präsidialsystem vereidigt. Seitdem kann er weitreichende Entscheidungen allein treffen. Er ist Staatspräsident, Regierungschef, Parteichef und Oberbefehlshaber der Türkei in einer Person. Trotz dieser Machtfülle erscheint Erdogan so schwach wie nie. Seit der verlorenen Oberbürgermeisterwahl ist die Unzufriedenheit groß und es rumort es in seiner Partei.
Erdogan: "Ich schwöre vor der großen türkischen Nation und Geschichte auf meine Ehre und meinen Stolz, dass ich mit all meiner Kraft daran arbeiten werde, meinen Auftrag, den ich übernehme, in Neutralität zu erfüllen."
So heute vor einem Jahr in Ankara. Der Schwur auf die Neutralität steht jedoch im Widerspruch zum damals neuen Präsidialsystem: Der Staatspräsident ist gleichzeitig nicht nur Regierungschef und Oberbefehlshaber der Armee, sondern auch Parteichef - und damit nicht neutral. Der Konflikt der Doppelrolle als Staats- und Parteichef wurde vor allem im Kommunalwahlkampf im März 2019 deutlich. Staatspräsident Erdogan trat bis zu acht Mal am Tag als Wahlkämpfer auf.
Super-Präsident erließ sofort drei Dekrete
Sehr zum Ärger des Vorsitzenden der größten Oppositionspartei CHP, Kemal Kilicdaroglu: "Der Staatspräsident muss unparteiisch sein. Das ganze Land hat mittlerweile begriffen, was uns das Präsidialsystem beschert hat. Das Ein-Mann-System hat die Inflation vorangetrieben, die türkische Lira entwertet und die Arbeitslosigkeit gefördert."
Dabei kann man Erdogan nicht vorwerfen, untätig gewesen zu sein. Gleich an seinem ersten Arbeitstag als Super-Präsident erließ er drei Dekrete. Mit einem ermächtigte er sich zum Beispiel, den Chef der Zentralbank abzusetzen, was er ja auch vor wenigen Tagen tat.
Es folgten mehrere Dutzend weitere Dekrete mit insgesamt mehr als 6.000 Rechtsverordnungen. Doch die Konzentration der Macht auf einen Mann kommt bei der Bevölkerung nicht immer gut an:
"Selbst in Monarchien wie Dänemark und Großbritannien haben die Parlamente das Sagen. Mag sein, dass Tayyip Erdogan ein intelligenter, guter Präsident ist, aber was ist, wenn sein Nachfolger seine Macht missbraucht? Deswegen muss die Obrigkeit unbedingt beim Volk liegen."
"Das Land darf nicht von einer einzigen Person regiert werden. Allen voran bin ich unzufrieden wegen der ständigen Preiserhöhungen. Unsere Taschen sind leer und wir können uns nichts mehr leisten."
System optimieren?
"Ich befürworte das Präsidialsystem. Viele Köche verderben den Brei. Völker, die in so einer politisch so schwierigen Geografie wie der unseren leben, benötigen Einheit und Integrität am dringendsten. Die Türkei wird heute von allen Seiten bedroht."
"Beim Referendum haben sie gesagt, es werde mit dem Land bergauf gehen. Aber wir erleben stattdessen eine steile Talfahrt. Die Leute können sich ja nicht einmal mehr ein Döner-Sandwich leisten."
Inzwischen habe man auch in Erdogans Palast begriffen, dass das Präsidialsystem Schwächen habe, sagt der Fernsehjournalist und Erdogan-Kritiker Rusen Cakir:
"Tayyip Erdogan hat sich ein auf ihn alleine zugeschnittenes System geschaffen. Doch weil nicht mehr auszuschließen ist, dass es bei der nächsten Präsidentschaftswahl nicht zur Wiederwahl reicht, grübelt die Partei gerade darüber nach, wie sie zurückrudern kann."
Tatsächlich: Kurz vorm Jahrestag sickerte in verschiedenen Medien durch, dass Erdogan offenbar mit politischen Beratern bespricht, wie das Präsidialsystem zu optimieren sei. Auch wenn der Sprecher der Regierungspartei AKP, Naci Bostanci, von Zurückrudern natürlich nichts wissen will:
"Die Medien übertreiben. Sie stellen es so dar, als werde die AKP radikale Veränderungen am System vornehmen. Das ist nicht richtig. Was wir tun, ist, dass wir über das System reden und es bewerten. Es wäre falsch, von etwas wie einer Revision zu reden.
Die gelähmte Republik
Tatsache ist: Auch viele Parlamentarier sind mit dem Präsidialsystem unzufrieden, weil sie kaum noch etwas zu entscheiden haben. Stattdessen könne Erdogan all die Kompetenzen, die er habe, gar nicht wahrnehmen, heißt es. Die Rede ist von einem Flaschenhals, in dem Entscheidungen feststecken und die Republik lähmen.
Die Unzufriedenheit könnte das Ende der AKP bedeuten. Schon seit Wochen heißt es immer wieder, ehemalige Weggefährten Erdogans wollten eine eigene Partei gründen. Darunter prominente Namen wie der einstige Staatspräsident Abdullah Gül. Erdogan selbst spielte solche Tendenzen noch vor wenigen Tagen herunter:
"Das haben wir auch in der Vergangenheit schon erlebt. Doch sie haben sich alsbald aufgelöst und sind verschwunden. Niemand erinnert sich mehr an sie. Die Abtrünnigen sind Leute, denen es an Teamgeist fehlt. Wir jedenfalls gehen weiter unseren Weg."
Allerdings künftig ohne den ehemaligen Wirtschaftsminister und Vize-Premier Ali Babacan. Der Mitgründer der AKP verließ die Partei. Als Grund gab er in einer schriftlichen Erklärung tiefe Differenzen über den Kurs der AKP unter Erdogan an und forderte eine neue Vision für die Türkei - ausgerechnet zum heutigen Jahrestag der Vereidigung Erdogans als Superpräsident.