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Ein Jahr vor der Europawahl
Von Sperrklauseln und Spitzenkandidaten

In einem Jahr wird das Europäische Parlament neu gewählt. Im Gegensatz zur Bundestagswahl gibt es für die Europawahl in Deutschland keine Sperrklausel, sodass auch Kleinstparteien den Weg im Straßburger Parlament vertreten sind. Das könnte sich ändern.

Von Annette Wilmes | 03.05.2018
    Europäisches Parlament in Straßburg
    Vom 23. bis 26. Mai 2019 soll das Europäische Parlament in Straßburg neu gewählt werden (Deutschlandradio / Frank Barknecht)
    "Wir sehen in ganz vielen Mitgliedstaaten der Europäischen Union, dass die Parteienlandschaft immer zersplitterter wird und die Extreme letztendlich aufwachsen, sodass die Mitte geschwächt wird." (Daniela Schwarzer)
    "Im Europa-Parlament sind ja an sich wesentlich mehr Parteien vertreten aufgrund der vielen Länder. Aber natürlich ist immer die Gefahr, dass es irgendwann zu bunt wird und es dann immer schwieriger wird, auch Fraktionen zu bilden." (Franziska Brantner)
    "Es gibt dort acht verschiedene Fraktionen und es gibt eine große Anzahl fraktionslose Abgeordnete, das ist mehr als in den meisten nationalen Parlamenten üblich ist. Und natürlich ohne eine Sperrklausel werden das ein paar fraktionslose Abgeordnete mehr sein und die Fraktionen selbst werden etwas heterogener sein." (Manuel Müller)
    Die nächsten Wahlen zum Europäischen Parlament werden vom 23. bis zum 26. Mai 2019 abgehalten. Mit Blick auf diese Wahl steht wieder einmal die Sperrklausel zur Debatte, die gegen die Zersplitterung des Parlaments helfen soll. Bereits im November 2012 wurden in einer Entschließung des Europaparlaments alle Mitgliedsstaaten aufgefordert, "angemessene Mindestschwellen" für die Verteilung der 751 Sitze festzulegen. In Deutschland gab es bereits eine Sperrklausel von fünf Prozent. Sie war 1953 wegen der Erfahrungen aus der Weimarer Zeit eingeführt worden.
    "Der gesamte ursprüngliche Gedanke, dass man gegen das Weimarer Modell zielen möchte, gegen die Zersplitterung ist ja auch noch zustande gekommen in einer Welt, in der die Parteienlandschaft im Prinzip eine eindimensionale war, in der wir links und rechts hatten. Und was verhindert worden ist, partiell, sind eben rechtsextremistische und linksextremistische Parteien."
    Michael Zürn, Politikwissenschaftler, Abteilungsdirektor am Wissenschaftszentrum Berlin. Mehr als sechs Jahrzehnte später gebe es in der politischen Landschaft nicht mehr das einfache Links-rechts-Schema, das gelte vor allem auch für Europa:
    "Gerade auch, dass wir längst auch eine zweite Dimension bekommen haben - pro Europa, gegen Europa, für liberal, gegen liberal, für offene Grenzen, gegen offene Grenzen - ist natürlich die gesamte Parteienlandschaft ohnehin viel, viel mehr zerfasert."
    Zuschauer warten in Brüssel vor einer Videoleinwand, die Bilder aus dem Europäischen Parlament überträgt, auf die Ergebnisse der Europa-Wahl 2014. 
    Zuschauer warten in Brüssel vor einer Videoleinwand, die Bilder aus dem Europäischen Parlament überträgt, auf die Ergebnisse der Europawahl 2014. (picture alliance / dpa / Olivier Hoslet)
    Sperrklausel gegen Zersplitterung
    Die Fünf-Prozent-Klausel in Deutschland galt auch für die Wahlen zum Europa-Parlament, bis sie 2011 vom Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig erklärt wurde. Kleine Parteien und politische Vereinigungen hatten in Karlsruhe entsprechende Anträge gestellt, sie fühlten sich in ihrem Recht auf Chancengleichheit verletzt. Denn die Fünf-Prozent-Hürde war für sie unerreichbar.
    "Die Demokratie bei den Wahlen gebietet Chancengleichheit, und das umfasst unter anderem auch die so genannte Erfolgswertgleichheit", sagt Franz C. Mayer, Professor für Europa- und Verfassungsrecht an der Universität Bielefeld. "Die Zählwertgleichheit ist völlig offensichtlich. Jede Stimme darf genau eins zählen, egal, ob man reich ist oder nicht reich, viele Steuern zahlt oder nicht. Das sind frühere Zustände gewesen, in denen das eine Rolle gespielt hat. Also Zählwertgleichheit ist gesichert. Aber die Erfolgswertgleichheit, dass meine Stimme auch wirklich am Schluss bei der Auszählung mehr oder weniger gleich zählt, das ist eben nicht ohne weiteres der Fall, wenn ich eine Sperrklausel habe."
    Deswegen müsse die Sperrklausel besonders gerechtfertigt werden. Zum Beispiel dadurch, dass ein Parlament mit zu vielen Parteien nicht mehr arbeitsfähig sein kann, weil sich keine stabilen Mehrheiten mehr herstellen lassen. Das ist die Begründung dafür, dass - im Gegensatz zur Europawahl - die Sperrklausel im Bundestag vom Bundesverfassungsgericht nicht infrage gestellt wird. Der Bundestag muss eine Regierung wählen und eine stabile Regierung dann auch stützen können. Anders sei dies auf anderen Politikebenen, erläutert Franz Mayer:
    "Und deswegen ist man sowohl im Kommunalwahlrecht - die Kommunalparlamente wählen keine Regierung mehr, wo die Oberbürgermeister direkt vom Wahlvolk bestimmt werden - und bei der Europawahl - das Europäische Parlament bestimmt eben auch keine Regierung - von den Sperrklauseln zunehmend weniger überzeugt gewesen."
    Auch keine drei statt fünf
    Nachdem die Fünf-Prozent-Klausel für die Europawahl in Karlsruhe gekippt worden war, verabschiedete der Bundestag ein neues Gesetz, das im Oktober 2013 in Kraft trat. Bei dieser Wahl sollte wenigstens eine Drei-Prozent-Klausel wirksam werden, um die Zersplitterung im Europaparlament zu vermeiden. Aber auch dieses Gesetz hatte in Karlsruhe keinen Bestand. Die Sperrklausel sei nicht nötig, um die Funktionsfähigkeit des Europäischen Parlaments zu erhalten, urteilte das Bundesverfassungsgericht am 26. Februar 2014. Eine Entscheidung, die mit knapper Mehrheit von fünf zu drei Stimmen erging und durchaus kritisch gesehen wurde. Franz Mayer:
    "Vor allem aber geht es, wenn es um das Europäische Parlament geht, schon auch um Arbeitsfähigkeit. Es geht darum, dass Mehrheiten zustande kommen. Es geht übrigens auch ganz konkret darum, dass aus einzelnen Mitgliedstaaten politische Kräfte in einem hinreichend sichtbaren Maße vertreten sind, um Einfluss zu nehmen. Von daher ist die Sperrklausel durchaus auch wichtig für die Arbeitsfähigkeit des Europäischen Parlamentes."
    Die Verfassungsrichter sahen dies anders. So fand die letzte Europawahl 2014 in Deutschland ohne Sperrklausel statt. Kleine Parteien wie die Tierschutzpartei, die Freien Wähler, die Piraten, die Familienpartei, die ÖDP, Die PARTEI und die NPD bekamen jeweils einen Sitz im Parlament, sie erzielten teilweise nicht einmal ein Prozent der Wählerstimmen. Alle Unionsbürgerinnen und Unionsbürger in Deutschland, die mindestens 18 Jahre alt sind, die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen oder einen Wohnsitz in Deutschland haben, können übrigens für einen Sitz im Europäischen Parlament kandidieren, allerdings nur auf Bundes- oder Landeslisten von Parteien oder sonstigen politischen Vereinigungen.
    Deutschland und Spanien ohne Sperrklausel
    "Zu den Sperrklauseln muss man wissen, dass es in einem Verhältniswahlrecht immer eine faktische Sperrklausel gibt. Mit anderen Worten: Man muss einen bestimmten Prozentanteil an Stimmen erringen, um überhaupt in die Sitzverteilung zu kommen."
    Bei den kleinen Mitgliedstaaten kann dieser Prozentanteil sogar weit mehr als fünf Prozent betragen. In großen Mitgliedsstaaten kann er gegen null gehen. Deshalb ist dort eine Sperrklausel sinnvoll, wenn nicht jede Splitter- oder Spaßpartei einen Sitz erlangen soll. In der Europäischen Union sind nur Deutschland, Spanien und Großbritannien zurzeit ohne Sperrklausel, wenn man die faktische Schwelle mitzählt, die für die kleinen Länder gilt. Großbritannien wird wegen des Brexits an der Wahl im nächsten Jahr nicht mehr teilnehmen. Also betrifft es mit Deutschland und Spanien nur noch zwei Länder.
    Die Frage, ob hierzulande doch noch die Sperrklausel eingeführt werden könnte, ist nicht vom Tisch. Denn es gibt eine Beschlussvorlage des Europarlaments, die eine Sperrklausel in Höhe von zwei bis fünf Prozent für Länder mit mehr als 35 Sitzen vorsieht. Darüber muss der EU-Ministerrat für Allgemeine Angelegenheiten entscheiden. Stimmt dieser zu, gilt als sicher, dass Union und SPD eine Zwei-Prozent-Hürde umsetzen würden. Damit wären die unliebsamen Kleinstparteien außen vor. Die überlegen bereits, wie sie erneut gegen eine mögliche Sperrklausel vorgehen können.
    Wichtiger als die Frage der Sperrklausel ist für die ehemalige Europa-Abgeordnete Franziska Brantner ohnehin, welche politischen Parteien ins Parlament einziehen werden. Sie fürchtet, dass die rechtsextremen und europafeindlichen Kräfte, die schon jetzt mit der ENF - "Europa der Nationen und der Freiheit" - eine starke Fraktion bilden, noch stärker werden könnten, auch mit Sperrklausel.
    "Und deswegen, glaube ich, muss unser gesamter Fokus darauf liegen, dass wir eine pro-europäische Mehrheit nächstes Jahr bei den Wahlen hinbekommen und eben nicht die Anti-Europäer und die Populisten, Rechtsradikalen stärker werden. Dazu müssen wir in Deutschland einen Beitrag leisten, aber auch europaweit. Ich glaube, dass da der Fokus auf die Sperrklausel der falsche ist, sondern es ist eine politische Debatte. Und die müssen wir überall gewinnen."
    Franziska Brantner sitzt seit 2013 für die Grünen im Bundestag, davor war sie Mitglied des Europäischen Parlaments
    Franziska Brantner sitzt seit 2013 für die Grünen im Bundestag, davor war sie Mitglied des Europäischen Parlaments (imago)
    Hohe Transparenz im Europaparlament
    Franziska Brantner gehörte der Fraktion der Grünen im Europaparlament an. Seit 2013 ist sie Mitglied des Bundestages. Sie kennt also beide Parlamente. Dass das Europaparlament im Vergleich mit den nationalen Parlamenten meist abgewertet wird, hält sie für falsch. Sie schätzt vor allem die Offenheit des Europäischen Parlaments.
    "Ich halte von dieser These, das Europa-Parlament sei kein richtiges Parlament, gar nichts. De facto ist der Bundestag wesentlich intransparenter als das Europa-Parlament. Wir haben im Bundestag keine öffentlichen Ausschusssitzungen oder nur in Ausnahmefällen. Im Europa-Parlament sind die Sitzungen alle öffentlich. Die können sie sogar sich online anschauen. Wir haben in Brüssel ein Lobby-Register, im Bundestag noch lange nicht. Wir haben wesentlich striktere Regeln darüber, was man nebenbei verdienen kann, was man offenlegen muss. Da sind wir auch im Bundestag noch längst nicht soweit. Also alles, Transparenz angeht, was Offenheit angeht, ist das Europa-Parlament wesentlich weiter als der Bundestag."
    In der alltäglichen Arbeit des EU-Parlaments habe ihr besonders gefallen, dass anhand von Sachthemen diskutiert wurde und dann auch entsprechende Mehrheiten sachbezogen und nicht entlang von Koalitionszwängen zustande kamen.
    Auch Daniela Schwarzer, Direktorin der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, hält es für wichtig, dass die Parteien im europäischen Wahlkampf besser mit ihren Inhalten sichtbar werden, die sie auf europäischer Ebene vertreten und nicht auf der nationalen Ebene stecken bleiben.
    "Inwiefern haben die Parteien gemeinsame programmatische Plattformen? Inwiefern haben sie gemeinsame Kandidaten? Und da hat jetzt das Europäische Parlament sehr, sehr deutlich gemacht, dass sie da eine klare Präferenz haben, nämlich dass das Prinzip der Spitzenkandidaten noch einmal genutzt wird. Das war bei der letzten Europawahl das erste Mal der Fall, dass die Parteienverbände letztendlich mit gemeinsamen Kandidaten in die Europawahl gezogen sind, und das Europäische Parlament hat nun deutlich gemacht, dass sie nur Kandidaten, die auch als Spitzenkandidaten in die Wahl gezogen sind, überhaupt für den Vorsitz der Europäischen Kommission in Erwägung ziehen wollen."
    Diskussion um Spitzenkandidaten
    Der Spitzenkandidat mit der stärksten Fraktion sollte Kommissionspräsident werden, das hatten die drei größten Fraktionen - Konservative, Sozialdemokraten und Liberale - vereinbart. Die Regierungschefs weigerten sich zunächst, diese Regelung zu akzeptieren. Erst nach der Wahl gaben sie nach und letztendlich setzte sich der Konservative Jean-Claude Juncker gegen den Sozialdemokraten Martin Schulz durch.
    Ob es jedoch auch bei der Wahl im kommenden Mai Spitzenkandidaten gibt, ist noch nicht abgemacht. Franz Mayer:
    "Die Verträge, die diese Frage regeln, sind an der Stelle so offen, dass es jedes Mal ein neues Diskutieren geben wird, ob es Spitzenkandidaten geben soll und ob das dann auch die automatische Entscheidung über den Kommissionspräsidenten ergibt."
    Mit dem Prinzip der Spitzenkandidaten sollte die europaweite Wahl aufgewertet werden, was zum Teil auch gelungen ist. Ulrike Guérot, Professorin für Europapolitik und Demokratieforschung an der Donau-Universität Krems, würde es als Rückschritt empfinden, wenn die nächste Wahl ohne Spitzenkandidaten stattfände.
    "Wer steht in Europa eigentlich für was? Sagen wir mal Juncker für die EVP, sagen wir Ska Keller für die Grünen, sagen wir Verhofstadt für die ALDE-Gruppe, also die Liberalen. Das würden wir wieder herausnehmen. Und ich glaube, dass es für die Bürger dann noch schwieriger wäre zu erkennen: Was wird denn da eigentlich im Europäischen Parlament verhandelt? Also, um es mal auf den Punkt zu bringen: Glyphosat, ja oder nein? Das kriegt man immer noch in die Zeitung. Aber meistens steht ja dann gar nicht dabei: Wer hat denn jetzt im Europäischen Parlament für oder gegen Glyphosat gestimmt?"
    Europäisches Parlament in Straßburg
    Blick auf das Europäische Parlament in Straßburg (Deutschlandradio / Frank Barknecht)
    Wahlbeteiligung soll wachsen
    Die Spitzenkandidaten seien ein gutes Instrument, um die europäischen Debatten zu politisieren. Ohne sie würde die ohnehin geringe Wahlbeteiligung noch weiter zurückgehen, fürchtet Guérot. 2014 gaben europaweit nur 43,09 Prozent der Wahlberechtigten ihre Stimme ab. Es sei wichtig, dass die Menschen wissen, was in Europa passiert.
    "Dafür würde man mit den Spitzenkandidaten natürlich ein Forum schaffen, dass man eben zum Beispiel Fernsehdebatten übertragen kann zwischen diesen Spitzenkandidaten in allen möglichen nationalen Fernsehkanälen. Wenn wir das nicht mehr haben als Instrument, dann nehmen wir diese Polarisierung einerseits, aber andererseits eben auch die Personifizierung von Europapolitik."
    Ähnlich wie Ulrike Guérot schätzt auch Daniela Schwarzer von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik die Wirkung der Spitzenkandidaten ein. Auch ihr ist es wichtig, eine höhere Wahlbeteiligung zu erreichen. Aber vor allem soll denen, die innerhalb der Europäischen Union daran arbeiten, das komplizierte Gefüge zu zerstören, nämlich den Populisten und Europagegnern, der Boden entzogen werden. Hier helfe es ganz klar zu formulieren, wozu wir Europa heute noch brauchen. Neben dem historischen Narrativ von Europa als Friedensprojekt seien inzwischen viele weitere Gründe wichtig geworden, so Schwarzer.
    "Denn meine persönliche Überzeugung ist, wenn ich mir anschaue, was von außen auf uns zu drängt und welche globalen Veränderungen es gibt, dann bin ich lieber eine Bürgerin in einem Zusammenschluss aus 27 Staaten, die alle im Grunde einen gewissen Wertekonsens teilen und gemeinsame Interessen haben, als eine Staatsbürgerin eines einzelnen Mitgliedstaates, das allein nicht mehr viel ausrichten kann. Das betrifft die wirtschaftliche Ebene. Das betrifft genauso die politische Ebene und immer mehr die Frage, wie wir eigentlich Sicherheit bereitstellen können - Sicherheit im ganz klassischen Sinne der Verteidigungspolitik, aber auch Fragen der inneren Sicherheit, wie wir mit Themen wie Terrorismus, Cyber usw. umgehen können. Man kann viel im nationalen Rahmen machen. Aber in der EU 27 bzw. kleineren Gruppen davon können wir diese Herausforderungen besser meistern."
     Statue "Europa" der belgischen Künstlerin May Claerhout vor dem Europäischen Parlament in Brüssel. 
    Die letzte Europawahl stand im Zeichen der Eurokrise (picture alliance / dpa )
    Europa in schwieriger Verfassung
    "Der (europäische) Föderalist" heißt ein Blog, auf dem seit 2011 unter dem Leitbild einer überstaatlichen Demokratie vor allem Fragen der europäischen und globalen Verfassungspolitik behandelt werden. Dafür verantwortlich ist der Historiker Manuel Müller, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Humboldt-Universität zu Berlin. Seit der Wahl vor fünf Jahren habe sich in der Europäischen Union wesentliches verändert, meint Manuel Müller.
    "Die letzte Wahl hat stattgefunden in einem Kontext der Krise. Man kam gerade raus aus der Eurokrise, es hat sich damals dann auch in den Wahlergebnissen niedergeschlagen. Die Erfolge der Rechtspopulisten, die Erfolge der Linkspopulisten und ein sehr schlechtes Wahlergebnis für Konservative und Liberale, die in vielen Ländern regiert hatten, die für das Ergebnis der Krise verantwortlich gemacht wurden. Seitdem sind wirtschaftliche Themen weniger bedeutend geworden, die Asylfrage nimmt jetzt einen großen Raum in der europäischen Politik ein. Der Aufstieg der Rechtspopulisten wurde etwas gebremst, könnte man sagen, aber ist immer noch ein großes Thema. Und gleichzeitig hat sich der Niedergang der großen Parteien fortgesetzt."
    In den Umfragen stehen europaweit die Sozialdemokraten und vor allem die Konservativen noch schlechter da als vor fünf Jahren, während die Liberalen in vielen Ländern zugelegt haben. Wobei man die Allianz der Liberalen und Demokraten für Europa, abgekürzt ALDE, nicht mit den Liberalen hierzulande gleichsetzen darf. Sie vereint ganz unterschiedliche Richtungen - Wirtschaftsliberale, Sozialliberale und einige neue Parteien. Und vor allem Emmanuelle Macrons "La République en Marche" wird Bewegung ins europäische Parteiensystem bringen. Ob sich die Partei der liberalen Parteifamilie anschließen oder eine neue Fraktion gründen wird, ist noch offen. Jedenfalls kann man gespannt darauf sein, was Macrons Ideen von der Neugründung Europas an Veränderungen bringen. Der Politologe Michael Zürn erwartet, dass sich die politische Landschaft im europäischen Parlament nach neuen Konfliktlinien ordnen wird und auch neue Parteifamilien entstehen könnten.
    "Wenn bisher noch quasi die anti-europäischen illiberalen Parteien wie etwa die ungarische Partei von Orbán wie automatisch bei den Konservativen eingeordnet werden, dann ist das natürlich noch Ausdruck des links - rechts Denkens. Wenn wir aber jetzt sozusagen die andere Konfliktdimension heranziehen, dann würden natürlich Merkel und Orbán auf zwei unterschiedlichen Seiten stehen. Insofern wird diese gesamte Frage der Parteienverbünde im europäischen Parlament in den nächsten zehn Jahren ohnehin erhebliche Veränderungen erfahren, da bin ich mir ziemlich sicher. Und wo sich dann Macron mit seiner Bewegung einordnet, wenn es sie denn in acht Jahren noch gibt, das wird man sehen."
    Michael Zürn wünscht sich von bevorstehenden europäischen Wahlen "eine hohe Wahlbeteiligung und einen deutlicheren Sieg der proeuropäischen Parteien."
    Und Manuel Müller, der mit seinem Blog "Der (europäische) Föderalist" seit Jahren die Entwicklung in der Europäischen Union analysiert:
    "Ich wünsche mir tatsächlich einen europäischen Wahlkampf, der Unterschiede zwischen den Parteien sichtbar macht. Dass die Parteien sich trauen, diese Unterschiede zu zeigen. Dass die nationalen Parteien sich ein bisschen zurücknehmen, dass eben die europäischen Akteure diejenigen sind, die die meiste Sichtbarkeit im Wahlkampf bekommen. Sodass eben dann im Wahlkampf deutlich wird, wofür die Europäische Volkspartei steht, wofür die Europäischen Sozialdemokraten stehen, wofür die Europäischen Liberalen stehen und dass das dann hinterher auch die Wahl der Menschen beeinflusst."
    Noch ein Jahr bis zum Urnengang
    Für den Wahlkampf bleibt noch gut ein Jahr Zeit. Ein Jahr, in dem es gelingen sollte, die Einzigartigkeit des Europäischen Parlaments deutlich zu machen, dafür plädiert der Europarechtler Franz Mayer:
    "Es gibt nichts Vergleichbares. Und bei allen Defiziten, die man immer wieder thematisieren muss und über deren Behebung oder Abmilderung man immer wieder diskutieren sollte, muss doch klar sein: Es gibt nichts Vergleichbares in der Welt zum Europäischen Parlament. Nirgendwo anders gibt es eine überstaatliche Einrichtung, die - als Parlament direkt gewählt - arbeitet. Allein dieses Alleinstellungsmerkmal ist es doch wert, immer wieder die Mühen auf sich zu nehmen, um für das Europäische Parlament zu streiten und für das Europäische Parlament und die Verbesserung des Europäischen Parlaments dann eben auch Konzepte zu entwickeln."