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Eine Anleitung für das digitale Leben
Mehr Ratlosigkeit wagen

Die Beschleunigung der digitalen Welt überfordert immer mehr Menschen. Das Leben erscheint unübersichtlicher und komplexer als jemals zuvor. Doch die Flucht in ein vermeintlich besseres Gestern hilft nicht weiter, so Dirk von Gehlen.

Von Dirk von Gehlen | 22.07.2018
    Shruggie-Emoticon
    Was weiß ich? Schulterzucken als Emoticon in der digitalen Welt (Collage Deutschlandradio)
    Wäre es nicht viel zielführender, gar nicht mehr nach der einen einfachen Lösung zu suchen? Vielleicht sollten wir uns der eigenen Ratlosigkeit stellen und sie konstruktiv zu nutzen versuchen: Überforderungsbewältigungskompetenz wäre dann die zentrale zu entwickelnde Fähigkeit für eine komplexe Gegenwart. Das perfekte Symbol dafür ist ein Emoticon aus dem Internet: der schulterzuckende 'Shruggie', der sich aus Zeichen des japanischen Katakana-Alphabets zusammensetzt. Dirk von Gehlen entwickelt am Beispiel des 'Shruggie' die Grundzüge seiner Emoji-Philosophie als Ratgeber zur Ratlosigkeit für einen gelassenen Umgang mit dem Neuen.
    Dirk von Gehlen, geboren 1975, ist Journalist, Buchautor und Crowdfunding-Pionier. Er war Chefredakteur von jetzt.de und leitet heute bei der "Süddeutschen Zeitung" die Abteilung Social Media/Innovation. Auf digitale-notizen.de bloggt er über die Veränderungen der Medienlandschaft.

    Horst Seehofer weiß Bescheid. Zweifel sind dem CSU-Innenminister fremd. Er kennt sich aus. Denn: Horst Seehofer hat einen Masterplan. Der Begriff stammt aus dem Englischen und beschreibt das perfekte Vorgehen in einer komplizierten Situation: die eine richtige Antwort, der Königsweg, die optimale Lösung - das alles meint "Masterplan". Und Seehofer hat diesen Masterplan. Jedenfalls sagt er das. "Masterplan Migration" haben seine Kommunikationsleute die Ideen genannt, die der Innenminister Mitte Juni im Streit mit der Schwesterpartei präsentierte. In dem Krach, den er damit auslöste, ist ein Aspekt etwas untergegangen, der aber sehr hilfreich ist, um sich in der komplizierten Gegenwart zurecht zu finden: der Begriff Masterplan selber.
    Wer diesen Begriff wählt, will damit deutlich machen: "Ich weiß Bescheid, Zweifel sind mir fremd. Ich kenne mich aus." Es gibt Menschen, die sich genau diese Haltung von Politikerinnen und Politikern wünschen. Gerade in einer unübersichtlichen Zeit vermittelt ihnen das Masterplan-Auftreten ein Gefühl der Sicherheit, der Struktur und der Übersicht. Sie denken: "Man muss nur dem Masterplan folgen, dann verschwindet die Unübersichtlichkeit schon wieder." Und wenn die Dinge noch nicht so sind wie gewünscht, dann kann das nur daran liegen, dass der Masterplan nicht richtig umgesetzt wurde.
    So einfach ist das.
    An dieser Stelle möchte ich ein Schulterzucken einfügen, das Sie nicht hören können. Aber vielleicht kennen Sie das Symbol fürs Schulterzucken aus dem Internet. Ein kleines Emoticon, elf Zeichen aus dem japanischen Katakana-Alphabet. Zusammengesetzt zu einer fröhlichen kleinen Figur, die ratlos mit den Schultern zuckt: der Shruggie.
    Der Shruggie glaubt nicht, dass es so einfach ist. Denn wie auch beim Unionstheater diesen Sommer gehen die groß angekündigten Masterpläne meist nicht auf. Nicht selten gibt es für Probleme nämlich nicht die eine einfache Lösung, nicht den Masterplan. Vielleicht sollten wir stattdessen anerkennen,
    "dass häufig mehr Faktoren auf eine Situation einwirken, als wir kontrollieren können."
    So jedenfalls definiert der Soziologe Armin Nassehi Komplexität - und fordert: In einer komplexen Welt brauchen wir andere Fähigkeiten, eine neue Haltung.
    Armin Nassehi, deutscher Soziologe und Sachbuchautor. Aufgenommen am 08.06.2010 in Mainz. 
    Soziologe Armin Nassehi (dpa / picture alliance / Erwin Elsner)
    Wir müssen lernen, dass ein vermeintlich zupackendes Aufbauen mit den Händen bei der nächsten Drehung dazu führt, dass man mit dem Hinterteil Dinge wieder umwirft, die man sich vorher mühsam zusammengefügt hatte. Und dass sie umfallen, liegt keineswegs daran, dass man sich so ungeschickt angestellt hat. Es gibt schlicht Verbindungen und Zusammenhänge, die man vorher nicht bedacht hat und die dann kurz vor der Verkündung des Masterplans zu Tage treten. Wer dies auf weltpolitischer Ebene beobachten will, sollte sich mal die Brexit-Verhandlungen anschauen. Aus dem Masterplan "Nur raus aus der EU" ist ein komplexes Puzzlespiel geworden, von dem sich einige der Hauptprotagonisten schon genervt zurückgezogen haben.
    Vielleicht doch alles nicht so einfach.
    Auch hier denken Sie sich bitte das schulterzuckende Emoticon hinzu: Shruggie.
    Die Welt scheint nicht nur immer komplizierter zu werden, sie ist vor allem immer komplexer. Es bestehen Abhängigkeiten, die man vorab nicht erkennen kann. Es gibt Mehrdeutigkeiten, die einfache Lösungen unmöglich machen. Der Wissenschaftsautor und Kabarettist Vince Ebert stellt dazu sehr trocken fest:
    "Komplexe Systeme haben keinen Masterplan. Viele von uns sehen das als Nachteil. Doch in Wirklichkeit ist das toll."
    Wieder ein Schulterzucken. Aus voller Zustimmung.
    Wir glauben, dass es diese eine gute Lösung geben kann
    Denn wenn wir akzeptieren, dass es den einen Masterplan nicht gibt, kann das auch befreiend sein. Wir lösen uns dann von der gesellschaftlichen Sehnsucht nach der einfachen Antwort. Denn insgeheim glauben wir bei aller Mehrdeutigkeit dann immer noch zu gerne daran, dass es diese eine gute Lösung geben kann. Unabhängig von politischer Prägung und von gesellschaftlichem Thema kann man diese Masterplanisierung der Debatte in unzähligen Bereichen beobachten. Man erhebt seinen eigenen Ansatz zur einzigen Lösung. Es folgt: eine konfrontative Polarisierung und ein emotionaler Streit, der kaum zu einem Kompromiss führen kann.
    Ein Beispiel abseits der politisch instrumentalisierten Schicksale flüchtender Menschen gewünscht? Dann fragen Sie mal bei einem Grundschulelternabend, ob die Kinder Smartphones nutzen sollen. Zur Antwort bekommen Sie zunächst die Bestseller befeuerte Vollablehnung: "Macht uns alle dumm und abhängig." Und dann im Gegenzug die euphorische Technikumarmung, die Tablet-Koffer für jede Klasse fordert. Oder Sie fragen auf einer Schriftstellertagung, ob es nicht geschlechtergerechter wäre, künftig von Schriftstellerinnen und Schriftstellern zu sprechen - statt stets nur die männliche Form zu wählen. Auch hier werden Sie Emotionen von beiden Seiten zur Antwort erhalten, wenn auch mit völlig entgegengesetztem Inhalt. Der Niedergang der deutschen Sprache wird Ihnen von der einen Seite prognostiziert - und von der anderen werden Sie hören, dass die Unterdrückung der Frau durch das generische Maskulinum auch im 21. Jahrhundert zementiert wird.
    Beides schlimm, beides dringend, alles konfrontativ.
    Keine Sorge, ich werde Ihnen jetzt zu keiner der genannten Fragen die eine richtige Antwort vorgeben. Nicht mal ein weiches "Lösung liegt sicher irgendwo in der Mitte" werden Sie von mir hören. Denn ich befürchte etwas viel Schlimmeres: Vielleicht haben gar beide Seiten Recht, die sich da so polarisierend widersprechen Denn das ist das Quälende an der Komplexität: dass es viele Wege geben kann. Die Wissenschaft spricht von Ambiguität, was Mehrdeutigkeit heißt.
    Auch hier denken Sie sich nochmal einen schulterzuckenden Shruggie hinzu.
    Vielleicht müssen wir nicht nur akzeptieren, dass die Welt komplexer und unübersichtlicher geworden ist. Vielleicht müssen wir dabei auch lernen, die Mehrdeutigkeit in möglichen Antworten auszuhalten. Ambiguitätstoleranz nennt man das. Die Fähigkeit, nicht mehr verzweifelt nach dem Masterplan zu suchen - und nach dem beruhigendem Gefühl, Recht zu haben, das damit einhergeht. In der Sprache des Internets könnte man das schwierige Wort Ambiguitätstoleranz mit den schon zitierten Zeichen aus dem japanischen Katakana-Alphabet übersetzen: mit dem fröhlichen Schulterzucken des Shruggie.
    Emoticon hat das Zeug, eine Haltung für die komplexe digitale Gegenwart zu prägen
    Der Shruggie ist fröhlich und gelassen - aber niemals gleichgültig. Die Zeichen in der Mitte des Emoticons zeigen ein freundliches Lächeln. Der Shruggie ist nicht nur die Vermenschlichung von Schriftzeichen, er ist auch auf der Seite der Menschen. Keine Wahrheit ist ihm wertvoller als die Humanität. Niemals würde er für eine Überzeugung Gewalt oder Hass rechtfertigen. Er zuckt nicht mit den Schultern, wenn Menschen leiden. Er versucht dann, aktiv zu werden. Aber nicht nach dem einfachen Muster der Alternativlosigkeit, sondern mit dem steten Zweifel, dass auch das Gegenteil richtig sein könnte. Hätte es den Shruggie schon gegeben, als Karl Popper seine Theorie vom kritischen Rationalismus formulierte, Popper hätte das Emoticon vielleicht sogar aufs Cover drucken lassen.
    Ich habe Sie gebeten, sich den Shruggie hinzuzudenken, weil ich glaube, dass das Emoticon das Zeug dazu hat, eine Haltung für die komplexe digitale Gegenwart zu prägen. Nicht nur als Gegenentwurf für die Masterplan-Macher der Politik, sondern auch in zahlreichen anderen gesellschaftlichen Bereichen. In der Arbeitswelt, im Umgang mit den Herausforderungen der Digitalisierung und womöglich sehr grundsätzlich mit allem, was neu und fremd ist. Sascha Lobo hat die Shruggie‑Haltung sogar mal als die vielleicht erste Emoji-Philosophie beschrieben. Der Shruggie wagt einen Blick auf die Welt, der pluralistisch und offen ist. Und vor allem: digital. Das Emoticon ist Kind des Internets. Irgendjemand hat dort sogar mal geschrieben, der Shruggie drücke das Grundgefühl des digitalen Zeitalters aus, das Default-Internet-Feeling. Das Internet ist ein weltweites Netzwerk, das Länder-, Sprach- und Religionsgrenzen überwindet. Allein dass es das Internet gibt, kann man als Beweis dafür lesen, dass Rassismus und Ausgrenzung überholt sind. Wenn man so will, zeigt das Netzwerk der Netze, dass Brücken stärker sind als Mauern, dass Multi-Kulti wirksamer ist als Abschottung. Menschheitshistorisch ist das ein Geschenk - und eine Herausforderung. Denn diejenigen, die in Debatten im Web ihren Masterplan verbreiten wollen, nutzen die neuen Kommunikationsmöglichkeiten nicht selten, um Abgrenzung und Hass zu predigen. Der Shruggie als Kind des Netzes kann sie und uns daran erinnern, wie die Idee einer freien und toleranten Gesellschaft funktioniert - gerade im Internet. Das fröhliche Schulterzucken ist das perfekte Symbol für eine plurale Haltung zur Welt. Es steht für Minderheitenschutz, für Toleranz und für einen ständigen Zweifel.
    Denn das ist die Triebfeder einer pluralen Demokratie, auf der eben auch das Internet beruht: dass man sich mit anderen Perspektiven konfrontiert und seine Meinung ändern kann. Das Recht auf freie Meinungsäußerung ist so lange wenig wert, wie es nur darum geht, einen immer gleichen Standpunkt zu wiederholen. Weil man vorher ja schon weiß, dass man Recht hat. Das gestatten sogar autoritäre Diktaturen. Wertvoll wird die freie Meinungsäußerung erst durch die Fähigkeit und die Bereitschaft, die Meinung auch zu ändern. Und das gelingt nur, wenn man mit der Gelassenheit des Shruggies immer wieder fragt: Was wäre, wenn das Gegenteil richtig wäre?
    In dieser Haltung wird greifbar, was Karl Popper für den zentralen Aspekt der Demokratie hielt: dass man einen guten Weg hat, eine Regierung zu wechseln. Aber diese Haltung greift nicht nur bei den großen, gesellschaftlichen Fragen. Sie funktioniert gerade auch im Alltag: Stellen Sie sich mal vor, Sie würden mit dem Shruggie auf den Grundschulelternabend oder zu den Schriftstellerinnen gehen. Sie können auch jede andere ideologisch polarisierte und damit verfahrene Situation mit dieser Perspektivöffnung verstören. Und am besten beginnen Sie damit bei sich selber: Wählen Sie ein Thema, das Ihnen wirklich am Herzen liegt. Es kann um vegane Ernährung gehen, um die Ehe für alle oder um Tierrechte. Ganz egal. Es geht nur darum, dass Sie die Perspektive wechseln. Zählen Sie dafür die fünf relevantesten Argumente auf - aber eben nicht für Ihre Meinung, sondern für die der Gegenseite. Bündeln Sie die andere, die vermeintlich falsche Meinung.
    Kriegen Sie das hin? Kommen Sie auf fünf Argumente? Gar nicht so einfach, oder? Kurt Tucholsky wird das Zitat zugeschrieben, Toleranz sei der Verdacht, der andere könne Recht haben. Diese Toleranz ist die Voraussetzung für ein demokratisches Gespräch. Der Shruggie fragt Sie: Wann waren wir zum letzten Mal in diesem Sinne tolerant?
    Um diese Toleranz zu üben, kann ein erster Schritt darin bestehen, Menschen und Meinungen zu trennen. Demokratie ist der Wettstreit von Ideen, nicht die Sammlung persönlicher Beleidigungen. Also lassen wir mal Ideen gegeneinander antreten - unabhängig von persönlichen Präferenzen und Sympathien. Der US-Ökonom Bryan Caplan hat dafür den sogenannten ideologischen Turing-Test entwickelt. Dabei geht es genau darum: Die Argumente der Gegenseite so genau zu benennen, dass diese zustimmt. Der Name geht auf den Computer-Pionier Alan Turing zurück. Als Turing‑Test bezeichnet man den Versuch eines Computers, menschliche Kommunikation zu imitieren. Der Turing-Test gilt als bestanden, wenn es einem Computer gelingt, einem Menschen in der Kommunikation vorzuspielen, er interagiere mit einem Menschen, nicht mit einer Maschine. Beim ideologischen Turing-Test geht es darum, die Position der Gegenseite einzunehmen. Also aus der anderen Perspektive auf die Welt zu schauen. Wem das gelingt, der bleibt Demokrat. Hassrede oder gar Morddrohungen verbieten sich dann von allein.
    Damit ein in diesem Sinn demokratischer Streit gelingen kann, braucht es Vorbilder: Diskussionen, die anders laufen als die "Jetzt lassen Sie mich mal ausreden"-Shows im Fernsehen. Stellen Sie sich mal vor, bei der nächsten Talkshow müssten die Diskutanten vor dem Streit den ideologischen Turing-Test durchlaufen - also die Argumente der Gegenseite benennen. Oder in politischen Kommentaren würden nicht nur persönliche Meinungen bekundet, sondern der Moment beschrieben, an dem der Kommentator seine Meinung geändert hat - weil er überzeugt wurde oder eine neue Perspektive eingenommen hat. Im deutschen Fernsehen scheint das unmöglich. Im Internet gibt es das aber: In dem Forum "Change My View" sammeln Diskutanten Momente der Meinungsänderung. Sie betreiben politischen Diskurs nicht durch Bestätigung, sondern durch Zweifel - und erzählen von dem Moment, an dem sie ihre Meinung zu einem Thema geändert haben.
    Shruggie als Gegenentwurf zu den einfachen Antworten der Masterpläne
    Zur Bundestagswahl 2017 plakatierte die AfD den Satz "Unser Land, unsere Regeln". Der Shruggie mag diesen Slogan. Denn eine der zentralen Regeln für die freiheitlich-demokratische Grundordnung in diesem Land ist jene von der pluralen Offenheit für die andere Meinung. Demokratie in diesem Land heißt, dass man auch falsch liegen kann. "Unser Land, unsere Regeln" heißt: Ich lasse den Verdacht zu, dass die Gegenseite recht hat. Ich bin offen für das Neue, für das Andere und Fremde. Darauf begründet sich die Shruggie-Haltung zur Welt - und er hätte nichts dagegen, wenn gerade die AfD sich daran halten würde.
    Der Shruggie ist der Gegenentwurf zu den einfachen Antworten der Masterpläne. Er wünscht sich im Gegenteil, dass wir aufhören, die eigene Ratlosigkeit hinter Masterplänen zu verstecken. Der Shruggie mag Politikerinnen und Politiker, die nicht Masterpläne verkünden, sondern sich zur Komplexität bekennen und ihre Bewältigungsversuche offenlegen. Man stelle sich das mal vor: Abgeordnete, die in Talkshows eingestehen: "Wir wissen es auch nicht so genau. Wir probieren aber jetzt mal diesen Ansatz aus, messen seinen Erfolg und ziehen dann Schlüsse daraus."
    Klingt albern? Dann stellen Sie sich hier bitte wieder ein Schulterzucken vor.
    Wenn alles immer schneller, komplexer und unübersichtlicher wird, dann heißt das doch auch: Niemand kann mehr alles wissen, alles überblicken und schon gar nicht alles abschätzen und einordnen. Damit ist der Shruggie sozusagen der Gegenentwurf zum Weltenlenker alter Schule. Wenn man nur eines der digitalen Gegenwartsprobleme wählt, stellt man fest, dass die alten weißen Männer, die sonst ratsuchend angerufen werden, höchstens eine Variante eines Lösungsansatzes präsentieren könnten. Stattdessen haben wir heute den Shruggie und dieser lehrt uns etwas, was der Journalist und Buchautor Christoph Kucklick "Überforderungsbewältigungskompetenz" nennt. Das sind 35 Buchstaben. Ganz schön lang. Der Shruggie hat elf Zeichen und meint das gleiche: die Fähigkeit, sich von der eigenen Ratlosigkeit nicht deprimieren zu lassen - sondern an eine gestaltbare Zukunft zu glauben.
    Denn dem Shruggie geht es darum, dass die Gesellschaft sich von der Überforderung, der Angst und der Ratlosigkeit nicht blind machen lässt - und deshalb Alternativlosigkeit akzeptiert. Er wünscht sich, dass wir die gegenteilige Position nicht aus dem Blick verlieren. Deshalb will der Shruggie Ratlosigkeit nicht bekämpfen, sondern im Gegenteil sogar fördern. Denn für ihn ist Ratlosigkeit nicht das Problem, sondern der Ansatz zu einer möglichen Lösung - oder zu vielen Lösungen. Er glaubt: Lösungen können nur entstehen, wenn wir uns dem Neuen und der eigenen Ratlosigkeit stellen. Nur so finden wir für neue Probleme auch neue Lösungen - statt es immer wieder mit den alten Ansätzen zu probieren.
    Wie das gelingen kann?
    In dem wir einen gelasseneren Umgang mit dem Neuen, dem Unbekannten und Fremden einüben. Der Shruggie empfiehlt dazu einen Spaziergang im Park. Dieser kann uns gelassener machen - gerade in aufgeheizter Debatte. Wenn wir Glück haben, können wir im Park sogar ein Haha-Erlebnis haben. Also einen Moment der Erkenntnis, der auf einer Erfindung beruht, die man Haha nennt. Es handelt sich dabei um einen Trick aus der Gartenbaukunst des frühen 18. Jahrhunderts. Erfunden wurde das Haha vom britischen Landschaftsarchitekten Charles Bridgeman. Er entwarf zahlreiche Schlossparks und Gärten und kam als erster auf die Idee, eine Mauer nicht Stein auf Stein nach oben zu bauen, sondern quasi im Boden zu versenken - als sehr steilen Graben. Bridgeman drehte das Prinzip der Mauer um: Er ließ Gräben mit steiler Böschung so eng am Parkrand ausheben, dass sie für Mensch und Tier unüberwindbar waren, aber einen freien Blick über die Grenzen des Parks ermöglichen. Erst wenn man direkt vor dem Graben steht, sieht man, dass dieser nicht überwindbar ist - was ein Gefühl des Erstaunens auslöst, das sich im merkwürdigen Namen niederschlägt. Haha!
    Der Shruggie mag dieses Gefühl des Erstaunens. Es öffnet den Blick. Es ist die Grundlage für neue Ansätze, die Vorausetzung für ein anderes Denken. Man findet das Haha im Schlosspark zu Versailles und in München beim Nymphenburger Schloss. Aber man sollte sie im übertragenen Sinn viel häufiger finden. Denn ein Haha kann auch unser tägliches Leben schöner machen: Wenn wir uns einen offenen Blick gestatten. Wenn wir unsere eigenen Gewohnheiten und Prämissen in Frage stellen, wenn wir es wagen, über die gedanklichen Mauern hinweg zu schauen. So kann man Neues entdecken - auch in dem, was man schon zu kennen glaubt. Man spricht in Umkehrung des Déjà-vu von einem Vuja-de. Bei einem Déjà‑vu meint man in einer fremden Umgebung etwas Vertrautes zu sehen. Ein Vuja-de hingegen beschreibt die Fähigkeit, im Bekannten etwas Neues zu entdecken.
    Das Haha der Gartenbaukunst ist die architektonische Antwort auf die angebliche Alternativlosigkeit und die Masterpläne der Vereinfacher. Es ermöglicht einen Perspektivwechsel. Hans Georg Gadamer hat mal gesagt, Bildung sei die Fähigkeit, Dinge aus der Perspektive eines anderen zu betrachten. In diesem Sinn in Bildung zu investieren, erscheint nicht nur wegen der polarisierten Debatten überfällig - man kann sogar sofort damit selber beginnen: indem man sich im Sinn des ideologischen Turing-Tests mit fremden Meinungen konfrontiert. Indem man den Verdacht zulässt, dass das Gegenteil richtig sein könnte.
    Denn nur weil eine Situation gerade ausweg- oder alternativlos erscheint, muss das ja nicht immer so bleiben. Womöglich gelingt der nächsten Generation etwas, was der aktuellen Generation unmöglich, weil unlösbar erscheint. Wenn das so ist, dann muss man festhalten: Die Menschen, die Lösungen finden werden, leben heute schon. Vielleicht gehen sie noch in die Schule und werden in einer Welt erwachsen, die ihre Eltern und Großeltern gerade überfordert. Der Soziologe Heinz Bude kam unlängst im Interview mit der "Süddeutschen Zeitung" zu dem Schluss:
    "Wir haben es immer mehr mit unlösbaren Problemen zu tun."
    Wenn das stimmt, dann fällt den Eltern und Großeltern die Aufgabe zu, ihren Kindern nicht Lösungen, sondern Fähigkeiten zu vermitteln, die man mit einem Schulterzucken in vermeintlich aussichtsloser Lage vergleichen kann. Keine zynische Distanzierung, kein dümmliches Veralbern - sondern die offene Frage: Was, wenn das Gegenteil richtig wäre?
    Alles, was man heute über Kreativität weiß, läuft auf diesen Punkt hinaus, den man auch vor einem Haha hat: einen Moment der Überraschung. Einen Moment, an dem jemand anders denkt, sich etwas erlaubt - und damit für einen Meinungswechsel sorgen und neue Ideen inspirieren kann.
    Der Shruggie steht für diesen Moment der Offenheit - und man findet ihn nicht nur im Netz. Unter dem Schlagwort "New Work" breitet sich die Haltung, für die er steht, auch in der Arbeitswelt immer weiter aus. Das Masterplan-Modell des allwissenden Chefs hat in immer mehr Firmen ausgedient. Stattdessen setzt man auf interdisziplinäre Teams, die nach so genannten agilen Methoden geführt werden. Das "Scrum" genannte Organisationsprinzip überträgt Verantwortung in die Abteilungen. Ziele werden abgestimmt und die Teams entscheiden dann selbstständig darüber, wie sie die Ziele erreichen können. Der Vorgesetzte führt hier nicht mehr über Kontrolle, sondern über Vertrauen. Mancherorts verstehen sich Chefs gar als Coach ihrer Mitarbeiter, dessen Ziel es ist, das Team im Sinne des Unternehmens besser zu machen.
    New Work ist ein Schlagwort, das sich aus den Ideen des Philosophen Frithjof Bergmann speist, der schon Anfang der 1980er-Jahre in der Nähe von Detroit ein "Zentrum für Neue Arbeit" gründete - als Reaktion auf die drohende Entlassungswelle in der dortigen Autoindustrie. Die bestimmende Idee des Zentrums: Die Arbeiter sollten etwas tun, was sie "wirklich, wirklich wollen". In einem Interview beschreibt Bergmann unlängst eine Folge seines Ansatzes:
    "Das bedingt, dass sich unser Schulsystem viel konsequenter auf Potenzialentfaltung konzentriert, statt die jungen Menschen fit zu machen für einen Arbeitsmarkt, den es nach deren Schulabschluss so gar nicht mehr geben wird."
    Denn wer kann glaubhaft voraussagen, wie die Arbeitswelt in fünf oder zehn Jahren aussehen wird?
    Eben - zuckt der Shruggie auch hier mit den Schultern.
    Es braucht neue Formen der Zusammenarbeit
    Sicher scheint die Unbeständigkeit zu sein. Man spricht von der so genannten VUCA-Welt. Diese vier Buchstaben bilden ein Akronym aus den Begriffen Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität. VUCA ist eine Welt, in der einfache Lösungsvorgaben nicht mehr greifen. Um zu verhindern, dass Mitarbeiter in einer solchen Welt überfordert von der eigenen Angst quasi gelähmt werden, nutzt die New Work-Bewegung die Ideen der Shruggie-Haltung und versucht, ein gelassenes Verhältnis zum Neuen zu entwickeln. Sie fördert die Bereitschaft, Unbekanntes auszuprobieren. Wenn eine allwissende Chefin keine klaren Voraussagen mehr treffen kann, wächst die Anforderung an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, eigenverantwortlich und situationsbezogen reagieren zu können.
    Dafür braucht es neue Formen der Zusammenarbeit: Diversität und die Bereitschaft, das Unbekannte und Neue zu denken. Der Soziologe Armin Nassehi überträgt diese Form der interdisziplinären Teams auch auf die Politik. In einem Interview mit der Wochenzeitung "Die Zeit" schlägt er mehr Gremien vor, die wie der Deutsche Ethikrat funktionieren - als Sammlung unterschiedlicher Perspektiven aus unterschiedlichen Bereichen. Das Ziel: auf diese Weise auf neue Denkansätze zu kommen. Weil nur so ausreichend Komplexität aufgebaut werden kann, sagt Nassehi und kommt zu dem Schluss:
    "Ich glaube ja, dass uns Komplexität nicht sprachlos macht, sondern zu neuen Möglichkeiten führt."
    Das ist die vielleicht wichtigste Antwort, die sich im Schulterzucken des Shruggie manifestiert: die Hoffnung auf eine gestaltbare Zukunft. Denn egal wie komplex und überfordernd die Gegenwart zu sein scheint, der Shruggie glaubt daran, dass durch eigenes Zutun eine bessere Zukunft möglich sein kann. Der Autor Wolf Lotter hat in seinem gerade erschienen Buch "Innovation - Streitschrift für barrierefreies Denken" einen lesenswerten Appell genau für diese Fähigkeit vorgelegt. Darin schreibt er:
    "Innovation ist, in einem Satz, der berechtigte Anlass für die Hoffnung, dass es besser wird. Der Beweis, dass Zukunft existiert."
    Diese Form der Innovationsfähigkeit braucht keine Masterpläne, sondern etwas sehr viel Banaleres: Hoffnung und Zuversicht. Wie wäre es, fragt sich der Shruggie, wenn Politiker nicht mehr nur die Sorgen der Menschen ernst nehmen, sondern vor allem ihre Hoffnungen? Wie würde Politik sich verändern, wenn wir im Umgang mit dem Neuen nicht mehr zunächst auf die Gefahren hinweisen würden, sondern auf die Möglichkeiten? Man würde im Sinne des Haha eine Weitung der Perspektive feststellen, man würde nach vorne schauen und aktiv gestalten. Denn das ist das Wesen von Hoffnung, dass sie uns zeigt, dass wir durch unser eigenes Zutun den Lauf der Welt gestalten können.
    So hat es jedenfalls die US-Autorin Rebecca Solnit mal perfekt auf den Punkt gebracht. Sie schreibt:
    "Hoffnung ist die Umarmung des Unbekannten und dessen, was man nicht wissen kann. Hoffnung ist eine Alternative zu der Gewissheit, die Optimisten und Pessimisten gleichermaßen ausdrücken. Optimisten denken alles werde sich zum Guten wenden ganz ohne unser Zutun; Pessimisten nehmen die gegenteilige Haltung ein - beide finden darin eine Entschuldigung dafür, nicht selber aktiv zu werden."