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Eine Religion ringt mit der Moderne

Die Scharia gilt vielen im Westen als Synonym für eine archaische Religion, auch weil Extremisten behaupten, nur sie würde Gottes Willen richtig auslegen. Doch seit Langem schon ist auch die Scharia Gegenstand von intensiven Reformdebatten unter Muslimen.

Von Jan Kuhlmann | 17.07.2013
    Die Scharia ist für viele ein Synonym für allerlei Böses im Namen des Islam: Handabhacken bei Diebstahl, Steinigung von Ehebrecherinnen, Todesstrafe bei Glaubensabfall. Doch so simpel ist die Sache nicht, denn die Scharia ist kein festes und schon gar kein starres und für alle Zeiten unveränderliches Gesetzbuch, sagt der Tübinger Jura-Professor Mathias Rohe.

    "Sie ist ein komplexes System der Normen des Islam religiöser Art, aber auch rechtlicher Art. Und nicht nur der einzelnen Gebote und Verbote, sondern vor allem auch der Methoden, wie man die Quellen überhaupt auffindet und interpretiert. Also kurz und gut: ein hoch komplexes System von Normen."

    So legt die Scharia genau fest, mit welchen Methoden die Rechtsgelehrten zu islamkonformen Normen und Vorschriften kommen. Sie stützt sich vor allem auf zwei Quellen: Das ist zu allererst der Koran. Keine Regelung der Scharia darf dem heiligen Buch der Muslime widersprechen. Fast genauso wichtig ist die Sunna – das sind die Worte und Taten des Propheten Muhammad. Doch wenige Regelungen in Koran und Sunna sind so klar, dass es keine Deutung bräuchte. Das öffnet den Raum für unterschiedliche Interpretationen. Relativ strikt sind die Regelungen der Scharia, wenn es um die Beziehung zwischen Mensch und Gott geht: Kein gläubiger Muslim stellt die fünf Gebete am Tag oder die Wallfahrt nach Mekka infrage. In anderen Bereichen jedoch zeigt sich die Scharia sehr wandlungsfähig, sagt Mathias Rohe.

    "Sie ist höchst flexibel in irdischen Dingen, das heißt der Regelung von Verhältnissen zwischen Menschen in dieser Welt, sprich insbesondere im gesamten Bereich des Rechts. Das heißt, dass man aus einer Fülle von möglichen Interpretationen auswählen kann, welche man die für die Zeit, für den Ort geeignete hält. Man kann mit der Scharia beispielsweise begründen, dass polygame Ehen eingegangen werden dürfen. Man kann aber auch wie der tunesische Gesetzgeber begründen, dass das verboten sei, und sogar unter Strafe stellen. Beide Interpretationen stützen sich auf die Scharia."

    So ist die Scharia letztlich so rückwärtsgewandt und so modern wie die Person, die sie auslegt. In der Praxis zeigt sich das islamische Recht bis heute vielerorts in konservativem Gewand. Zum Leidwesen der Reformer.

    "Viele muslimische Gelehrte sagen: Wenn der Islam überleben soll und wenn er einen Universalitätsanspruch hat, dann muss sich die Auslegung, die Anwendung auch nach den Umständen von Zeit und Ort richten. Ich denke, es ist ein Teil der Erfolgsgeschichte des Islam, dass es ihm oft gelungen ist, sich in ganz hohem Maße diesen Lebensumständen anzupassen."

    Das galt insbesondere für die Frühzeit des Islam. In seinen ersten Jahrhunderten blühte die Debattenkultur. Zu den wichtigsten Methoden der muslimischen Rechtsgelehrten zählte damals der sogenannte Idschtihad. Er steht für selbstständiges Denken und Schlussfolgern. Durch kritische Reflexion kamen die Gelehrten zu eigenen Urteilen. Doch mit der Zeit erstarrte die Debattenkultur, der Idschtihad verlor seine Bedeutung. Als verbindlich galten stattdessen die Interpretationen der wichtigsten Rechtsgelehrten aus dem Mittelalter – bis in die Moderne hinein wurden sie übernommen. Die Reformer wollen damit aufräumen und haben den Idschtihad wiederbelebt, sagt Jura-Professor Rohe.

    "Der Schlüssel dürfte tatsächlich die Bereitschaft gewesen sein, in ganz, ganz großem Umfang, sich von alten Interpretationen zu lösen und dem eigenständigen neuen Nachdenken Raum zu geben. Darüber gibt es Streit, wer das darf und in welchem Umfang, aber man hat das Tor sehr, sehr weit geöffnet."

    Die Reformer verstehen etwa den Koran nicht wörtlich, sondern versuchen, aus ihm Prinzipien herauszulesen – die sie dann auf die heutige Zeit übertragen. Die Grenzen zwischen reformorientierten und traditionalistischen Gelehrten sind fließend. Das Reformdenken hat sich in vielen islamischen Ländern schon seinen Weg in die Praxis gebahnt, oft zugunsten von Frauen und Kindern, sagt Jura-Professor Rohe. Ein Beispiel: die Anhebung des Mindestheiratsalters.

    "In vielen Staaten ist das Mindestalter mittlerweile dort angelangt, wo man sagen kann, das ist dann auch eine freiwillige Entscheidung der jeweils Betroffenen. Es wird versucht, die Polygamie einzudämmen. Es wird versucht, im Verwaltungsbereich Frauen eigenständige Handlungsmöglichkeiten zu geben, ihnen Wege zu öffnen zum Berufsleben, ohne dass sie ihren Ehemann um Erlaubnis fragen müssen, ihre Position bei der Scheidung und nach einer Ehescheidung zu verbessern, etwa beim Unterhaltsrecht. Oder auch Verbesserungen im Erbrecht, wo dann Kinder und Enkel mittlerweile besser wegkommen, als es früher der Fall war."

    Weil Muslime im Westen inzwischen als starke Minderheiten leben, wird längst auch hier über die Scharia diskutiert, zum Teil sehr heftig. Für die gläubigen Muslime geht es darum, die Scharia mit dem freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat in Einklang zu bringen. Das kann, muss aber kein Widerspruch sein, je nach Auslegung des islamischen Rechts. Rohe macht eine wichtige Veränderung aus.

    "Und wir dürfen nicht übersehen, dass sich ganz Neues entwickelt im Islam im Westen, in Europa, in anderen westlichen Staaten, wo wir eine starke Tendenz erleben, die Scharia als eine ethische Leitlinie zu interpretieren und damit auch zu entrechtlichen. Das heißt gar keinen Anspruch für die Ordnung der Rechtsordnung zu stellen, sondern Scharia zu deuten als eine ethisch-moralische Grundlage."

    Die Scharia ist dann nur noch ein Leitfaden, an dem sich Muslime orientieren. Auch die noch junge islamische Theologie in Deutschland ist geprägt von Reformdenken. Der Münsteraner Professor Mouhanad Khorchide etwa will unter der Scharia nur bestimmte universale Prinzipien verstehen: den Monotheismus zum Beispiel, Gerechtigkeit oder die Freiheit des Menschen. Es sei nicht Aufgabe des Islam, Gesetze zu erlassen, sagt Khorchide.

    "Von den 6236 koranischen Versen sind es gerade 80 Verse, die juristische Maßnahmen ansprechen, die die Gesellschaftsordnung betreffen. Aus 80 Versen von insgesamt 6236 Versen kann man nicht behaupten, der Koran sei ein Gesetzesbuch, der Islam eine Gesetzesreligion oder aus dem Koran kann man ein juristisches Schema ableiten. Was wir heute Scharia nennen, ist nichts anderes als ein menschliches Konstrukt, die Summe der Bemühungen der Gelehrten, den Islam zu interpretieren."