Die Biografie der Stadt beginnt mit ihrer Zerstörung.
Am 8. Tag des jüdischen Monats Ab, also Ende Juli des Jahres 70 n. Chr., befahl Titus, der Feldherr über die viermonatige Belagerung Jerusalems, seinem gesamten Heer, die Erstürmung des Tempels im Morgengrauen vorzubereiten. Zufällig jährte sich am kommenden Tag die Zerstörung Jerusalems durch die Babylonier, die mehr als 500 Jahre zurücklag.
So schildert Simon Sebag Montefiore nach historischen Quellen die Eroberung Jerusalems durch die Soldateska des römischen Feldherrn Titus. Jerusalem als jüdische Siedlung gibt es danach nicht mehr. Aber der Ort bleibt ein Ziel der jüdischen Sehnsucht. Er wird auch ein Ziel moslemischer und nur wenig später auch christlicher Sehnsucht werden - Jerusalem scheint ein fast magischer Endpunkt zu sein für vielfältige Wunschträume, Projektionen und Begehrlichkeiten.
1190 brach Richard Löwenherz in das Heilige Land auf, um Jerusalem von den Muslimen unter der Führung von Saladin zu befreien.
Er war rothaarig, athletisch, von unbändiger Lebenskraft und ebenso ungestüm und extrovertiert, wie Saladin geduldig und subtil war. Seine wahre Liebe galt dem Krieg, er presste England skrupellos aus, um seinen Kreuzzug zu finanzieren, und er erklärte scherzhaft: "Wenn es einen Käufer gegeben hätte, hätte ich London verkauft."
Richard Löwenherz zu beschreiben, wie er gen Jerusalem zieht - das ist das Handwerk des Historikers. Bezeichnend für Montefiores Erzählweise aber sind die kleinen Anmerkungen, die unten auf der Seite stehen.
Der älteste Pub in Nottingham "Ye Old Trip to Jerusalem", stammt aus der Zeit von Richards Kreuzzug.
Selbst in solchen Details zeigt sich, dass Geschichte, auch wenn sie alt ist, immer noch gegenwärtig ist.
Der englische Historiker und Schriftsteller Simon Sebag Montefiore hat ein Buch über Jerusalem geschrieben, das er eine "Biografie" nennt. Die Stadt ist bei ihm eine Person, und zwar weniger eine handelnde als eine behandelte Person. Sie erscheint als ein obskures Objekt der Begierde, das nahezu jeder besitzen wollte, egal wie schäbig zu Zeiten ihr Äußeres war.
Montefiore hat in Cambridge Geschichte studiert und ist bekannt geworden durch Publikationen über russische Themen - er hat eine Biografie von Grigori Alexandrowitsch Potjomkin, geschrieben, jenem genialen Blender, und eine Biografie von Joseph Stalin, jenem blutsaufenden Diktator. Aus beiden Kategorien finden sich reichlich Figuren in seinem Jerusalem-Buch, das nicht allein aus dem wissenschaftlichen Interesse des Historikers, sondern auch aus dem familiären Hintergrund des Autors entstanden ist.
Die Montefiore waren im 19. Jahrhundert eine reiche jüdische Familie aus der Größenordnung der bekannteren Rothschilds, und sie engagierten sich mit viel Geld und Einflussnahme für die Juden in Jerusalem. Simon Sebag Montefiore schreibt in seinem Vorwort.
Ich habe den Eindruck, dass ich mich mein Leben lang darauf vorbereitet habe, dieses Buch zu schreiben. Seit meiner Kindheit bin ich durch Jerusalem gestreift. Dank meiner familiären Verbindungen zu dieser Stadt (...) lautet mein Familienmotto: "Jerusalem".
Montefiore schildert die Geschichte Jerusalems von ihrer Frühzeit unter König David -
... als David die Burg Zion eroberte, war Jerusalem bereits alt...
- bis zum Sechs-Tage-Krieg im Juni 1967. Farbig und prall beschreibt der Autor die Gestalten der Geschichte. Die frühen Eroberer aus biblischen Zeiten, die Kreuzritter, die türkischen Potentaten - einer von ihnen trat mit der Angewohnheit hervor, den Menschen in seiner Umgebung entweder Nasen oder Ohren abzuschneiden oder ihnen ein Auge zu rauben - und gelegentlich auch alles zusammen.
Neben herausragenden Psychopathen finden sich auch undurchsichtige Abenteurer wie der englische Hauptmann Monty Parker, ein Indiana Jones aus eigener Selbstüberschätzung, der um 1910 in Jerusalem nach der Bundeslade aus dem Alten Testament graben ließ. Dabei benahm er sich so ungeschickt, dass er es schaffte, den einzigen gemeinsamen Aufstand von Juden und Moslems auszulösen.
Und auch in diesem Fall lohnt sich - wie fast immer - die Fußnote: Parker wird mit wenigen Strichen porträtiert als bekennende Flasche und Großmaul, dessen einzige Leistung in der erklärten Absicht bestand, das Vermögen seiner Vorfahren restlos durchzubringen.
Das Faszinierende an Jerusalem ist, dass diese Stadt nie eine wirtschaftliche Bedeutung hatte - abgelegen vom Meer, von Handelsrouten und ohne nennenswerte Landwirtschaft. Am Ende des Buches erscheint es dem Leser, als habe dieses Jerusalem immer nur davon gelebt - und darunter gelitten -, dass ihm von religiösen oder politischen Parteien eine Bedeutung zugedacht wurde.
Montefiore erzählt so lebendig, dass man wie bei einem Krimi das Buch nicht aus der Hand legen kann. Gerade die Epoche der 30er- und 40er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts verschlingt man wie einen Thriller des englischen Meisters Eric Ambler.
Hat man diese Biografie gelesen, fühlt man sich matt und leer. Man begreift die Machtspiele, die auf dem Stadtplan von Jerusalem ausgetragen wurden. Man sieht erstaunt die gelegentlich ins Wahnhafte umschlagenden religiösen Idiosynkrasien. Man sieht auf den Seelen der Menschen die Narben und Schründe, die aus diesen Machtspielen entstanden sind: die Traumatisierungen aus Hass, Betrug, Massenvergewaltigungen und Blutbädern.
Und man hofft mit dem Autor gegen jede vernünftige Erwartung, es könne eines Tages besser werden. Am Ende seines herausragenden Buches schildert Montefiore zwei Familien, die die Grabeskirche beschützen. Nach wenigen Sätzen sind wir in der Romanwelt von Franz Kafka.
Die Nusseibehs und Judehs öffnen die Grabeskirche seit mindestens 1192, als Saladin die Judehs zu "Hütern des Schlüssels" ernannte und die Nusseibehs zu "Hütern der Kirche des Heiligen Grabes". Die beiden Familien beäugten sich in ständiger Rivalität. "Die Nusseibehs haben nichts mit uns zu tun", erklärt der 80-jährige Judeh, der seit 20 Jahren den Schlüssel aufbewahrt, "sie sind bloß Türhüter!" Nusseibah betont: "Die Judehs dürfen weder die Tür noch das Schloss anrühren."
Das ist der Stand seit 1192!
Simon Sebag Montefiore: "Jerusalem: Die Biographie".
S. Fischer Verlag, 880 Seiten, 28 Euro. ISBN: 978-3-100-50611-5
Am 8. Tag des jüdischen Monats Ab, also Ende Juli des Jahres 70 n. Chr., befahl Titus, der Feldherr über die viermonatige Belagerung Jerusalems, seinem gesamten Heer, die Erstürmung des Tempels im Morgengrauen vorzubereiten. Zufällig jährte sich am kommenden Tag die Zerstörung Jerusalems durch die Babylonier, die mehr als 500 Jahre zurücklag.
So schildert Simon Sebag Montefiore nach historischen Quellen die Eroberung Jerusalems durch die Soldateska des römischen Feldherrn Titus. Jerusalem als jüdische Siedlung gibt es danach nicht mehr. Aber der Ort bleibt ein Ziel der jüdischen Sehnsucht. Er wird auch ein Ziel moslemischer und nur wenig später auch christlicher Sehnsucht werden - Jerusalem scheint ein fast magischer Endpunkt zu sein für vielfältige Wunschträume, Projektionen und Begehrlichkeiten.
1190 brach Richard Löwenherz in das Heilige Land auf, um Jerusalem von den Muslimen unter der Führung von Saladin zu befreien.
Er war rothaarig, athletisch, von unbändiger Lebenskraft und ebenso ungestüm und extrovertiert, wie Saladin geduldig und subtil war. Seine wahre Liebe galt dem Krieg, er presste England skrupellos aus, um seinen Kreuzzug zu finanzieren, und er erklärte scherzhaft: "Wenn es einen Käufer gegeben hätte, hätte ich London verkauft."
Richard Löwenherz zu beschreiben, wie er gen Jerusalem zieht - das ist das Handwerk des Historikers. Bezeichnend für Montefiores Erzählweise aber sind die kleinen Anmerkungen, die unten auf der Seite stehen.
Der älteste Pub in Nottingham "Ye Old Trip to Jerusalem", stammt aus der Zeit von Richards Kreuzzug.
Selbst in solchen Details zeigt sich, dass Geschichte, auch wenn sie alt ist, immer noch gegenwärtig ist.
Der englische Historiker und Schriftsteller Simon Sebag Montefiore hat ein Buch über Jerusalem geschrieben, das er eine "Biografie" nennt. Die Stadt ist bei ihm eine Person, und zwar weniger eine handelnde als eine behandelte Person. Sie erscheint als ein obskures Objekt der Begierde, das nahezu jeder besitzen wollte, egal wie schäbig zu Zeiten ihr Äußeres war.
Montefiore hat in Cambridge Geschichte studiert und ist bekannt geworden durch Publikationen über russische Themen - er hat eine Biografie von Grigori Alexandrowitsch Potjomkin, geschrieben, jenem genialen Blender, und eine Biografie von Joseph Stalin, jenem blutsaufenden Diktator. Aus beiden Kategorien finden sich reichlich Figuren in seinem Jerusalem-Buch, das nicht allein aus dem wissenschaftlichen Interesse des Historikers, sondern auch aus dem familiären Hintergrund des Autors entstanden ist.
Die Montefiore waren im 19. Jahrhundert eine reiche jüdische Familie aus der Größenordnung der bekannteren Rothschilds, und sie engagierten sich mit viel Geld und Einflussnahme für die Juden in Jerusalem. Simon Sebag Montefiore schreibt in seinem Vorwort.
Ich habe den Eindruck, dass ich mich mein Leben lang darauf vorbereitet habe, dieses Buch zu schreiben. Seit meiner Kindheit bin ich durch Jerusalem gestreift. Dank meiner familiären Verbindungen zu dieser Stadt (...) lautet mein Familienmotto: "Jerusalem".
Montefiore schildert die Geschichte Jerusalems von ihrer Frühzeit unter König David -
... als David die Burg Zion eroberte, war Jerusalem bereits alt...
- bis zum Sechs-Tage-Krieg im Juni 1967. Farbig und prall beschreibt der Autor die Gestalten der Geschichte. Die frühen Eroberer aus biblischen Zeiten, die Kreuzritter, die türkischen Potentaten - einer von ihnen trat mit der Angewohnheit hervor, den Menschen in seiner Umgebung entweder Nasen oder Ohren abzuschneiden oder ihnen ein Auge zu rauben - und gelegentlich auch alles zusammen.
Neben herausragenden Psychopathen finden sich auch undurchsichtige Abenteurer wie der englische Hauptmann Monty Parker, ein Indiana Jones aus eigener Selbstüberschätzung, der um 1910 in Jerusalem nach der Bundeslade aus dem Alten Testament graben ließ. Dabei benahm er sich so ungeschickt, dass er es schaffte, den einzigen gemeinsamen Aufstand von Juden und Moslems auszulösen.
Und auch in diesem Fall lohnt sich - wie fast immer - die Fußnote: Parker wird mit wenigen Strichen porträtiert als bekennende Flasche und Großmaul, dessen einzige Leistung in der erklärten Absicht bestand, das Vermögen seiner Vorfahren restlos durchzubringen.
Das Faszinierende an Jerusalem ist, dass diese Stadt nie eine wirtschaftliche Bedeutung hatte - abgelegen vom Meer, von Handelsrouten und ohne nennenswerte Landwirtschaft. Am Ende des Buches erscheint es dem Leser, als habe dieses Jerusalem immer nur davon gelebt - und darunter gelitten -, dass ihm von religiösen oder politischen Parteien eine Bedeutung zugedacht wurde.
Montefiore erzählt so lebendig, dass man wie bei einem Krimi das Buch nicht aus der Hand legen kann. Gerade die Epoche der 30er- und 40er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts verschlingt man wie einen Thriller des englischen Meisters Eric Ambler.
Hat man diese Biografie gelesen, fühlt man sich matt und leer. Man begreift die Machtspiele, die auf dem Stadtplan von Jerusalem ausgetragen wurden. Man sieht erstaunt die gelegentlich ins Wahnhafte umschlagenden religiösen Idiosynkrasien. Man sieht auf den Seelen der Menschen die Narben und Schründe, die aus diesen Machtspielen entstanden sind: die Traumatisierungen aus Hass, Betrug, Massenvergewaltigungen und Blutbädern.
Und man hofft mit dem Autor gegen jede vernünftige Erwartung, es könne eines Tages besser werden. Am Ende seines herausragenden Buches schildert Montefiore zwei Familien, die die Grabeskirche beschützen. Nach wenigen Sätzen sind wir in der Romanwelt von Franz Kafka.
Die Nusseibehs und Judehs öffnen die Grabeskirche seit mindestens 1192, als Saladin die Judehs zu "Hütern des Schlüssels" ernannte und die Nusseibehs zu "Hütern der Kirche des Heiligen Grabes". Die beiden Familien beäugten sich in ständiger Rivalität. "Die Nusseibehs haben nichts mit uns zu tun", erklärt der 80-jährige Judeh, der seit 20 Jahren den Schlüssel aufbewahrt, "sie sind bloß Türhüter!" Nusseibah betont: "Die Judehs dürfen weder die Tür noch das Schloss anrühren."
Das ist der Stand seit 1192!
Simon Sebag Montefiore: "Jerusalem: Die Biographie".
S. Fischer Verlag, 880 Seiten, 28 Euro. ISBN: 978-3-100-50611-5