Dienstag, 19. März 2024

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EKD-Kulturbeauftragter Claussen
"Religion in der Kunst: faszinierend und verstörend"

Wenn Künstler sich existentiellen Fragen stellen, drücke sich in ihrer Kunst oft Religiöses aus, so der EKD-Kulturbeauftragte Johann Hinrich Claussen - auch wenn die Künstler selbst nicht religiös sind. Für ihn als Theologen sei das interessant, sagte Claussen im DLF.

Johann Hinrich Claussen im Gespräch mit Andreas Main | 25.11.2019
Johann Hinrich Claussen, Kulturrbeauftragter der EKD - Berlin Februar 2016
Johann Hinrich Claussen, Kulturrbeauftragter der EKD. (Deutschlandfunk/ Andreas Schoelzel)
Andreas Main: Johann Hinrich Claussen ist der Kulturbeauftragte der EKD – der Evangelischen Kirche in Deutschland. Als Kulturbeauftragter hat Johann Hinrich Claussen viele Aufgaben, um die es jetzt und hier nicht gehen soll. Es soll darum gehen, was einem Theologen, der sich professionell mit Kulturfragen beschäftigt, in jüngster Zeit aufgefallen ist – an Spuren des Religiösen in Kunst und Kultur. Was ihn überrascht hat. Was ihn fasziniert hat – auch jenseits dessen, was in den Feuilletons rauf und runter besprochen wird. In der Hoffnung, dass für Sie und für mich der eine oder andere Tipp abfällt, der das Leben schöner macht. Schön, dass Sie sich die Zeit genommen haben, Johann Hinrich Claussen, für ein Gespräch, das wir in unserem Berliner Funkhaus – uns gegenübersitzend – aufgezeichnet haben. Guten Morgen, Herr Claussen.
Johann Hinrich Claussen: Guten Morgen, Herr Main.
"Ich habe eine wunderbare Serie entdeckt"
Main: Herr Claussen, so wie die meisten Theologinnen und Theologen sind auch Sie primär ein Leser. Aber lassen Sie uns nicht mit Lektüretipps beginnen, nehmen wir ein anderes Genre: Film und Fernsehen. Was ist Ihnen da zuletzt untergekommen an der Schnittstelle von Religion und Kultur, was Sie weiterempfehlen können und wollen?
Claussen: Ja, natürlich will ich immer erst mal über Bücher sprechen, das darf ich jetzt nicht, also rede ich über Fernsehserien und es gibt ja Netflix - und das ist eine riesige Wunderkammer.
Main: Es gibt auch noch andere Anbieter.
Claussen: Viel, ich mache jetzt auch keine Werbung. Aber natürlich auch noch den Deutschlandfunk und Deutschlandradio und alles Mögliche, aber das jetzt nicht, sondern: Da habe ich eben eine wunderbare Serie entdeckt und mit meiner Frau bis zu Ende durchgeguckt – voller Begeisterung: "Shtisel", eine wunder-, wunderbare und sehr seltsame Serie. Es geht darum, dass - zum ersten Mal - die Familiengeschichte einer ultraorthodoxen Familie in Jerusalem erzählt wird.
Ultra-orthodoxe Juden beten vor dem Neujahrsfest Rosch Haschana an der Klagemauer in Jerusalem.
Die Serie "Shtisel" spielt im ultraorthodoxen Milieu in Israel (dpa-Bildfunk / AP / Ariel Schalit)
Eigentlich wie so eine Soap-Opera, also nicht ganz so doof, aber wie eine Soap-Opera aus der Perspektive einer Familie mit Familienfesten, Streit, Liebe, Hochzeit, Nichthochzeit und aber eben keine normale Durchschnittsfamilie oder die ganz Reichen – wie im Denver Clan –, sondern richtig ultraorthodoxe Juden. Und das ist großartig.
"Menschen als Menschen wahrnehmen"
Main: Das ist ganz großes Kino. Mir scheint vor allem, dass da nicht alle Klischees bedient werden, rund um Haredim, Rechtgläubige – oder wie wir sagen – Ultraorthodoxe. Was ist denn das Spezifische, das so Andere, wie da Religion im Alltag dargestellt wird aus Ihrer Sicht?
Claussen: Also, erstens ist es wunderbar. Denn es ist kein großes Kino, sondern ganz schlicht und einfach gemacht, sehr konzentriert.
Main: Offensichtlich mit wenig Geld.
Claussen: Ganz wenig Geld, also richtig low budget. Aber gute Qualität. Aber nichts desto trotz kein großer Aufwand, man wird nicht abgelenkt. Zweitens ein ganz unverstellter Blick auf Menschen. Und das sind nun mal besondere Menschen in einer besonderen Umgebung. Aber es sind erst mal Menschen. Da ist der störrische Vater, da ist dann die seltsame Großmutter, da ist der Sohn, der nicht ganz klar kommt im Leben und nicht weiß, wohin er will. Es sind erst mal Menschen.
Und das ist das Besondere, gerade in Israel, wo eben die Religiösen und die Säkularen auch nicht miteinander sprechen, sondern total getrennte Welten darstellen – abgetrennt voneinander –, hat man hier die Chance zumindest in der Fiktion, es ist ja nicht echt, sondern es ist ja Fiktion, aber in der Fiktion sich hineinzudenken, hineinzufühlen in eine Welt, die einem ganz fremd ist, und diese Menschen dort als Menschen wahrzunehmen.
"Eine ganz großartige Video-Künstlerin"
Main: Johann Hinrich Claussen, EKD-Kulturbeauftragter, über Spuren des Religiösen in der Kunst. Wir haben uns natürlich vor der Sendung kurz abgestimmt, worüber wir reden wollen. So weiß ich, dass wir jetzt in der Region bleiben, in Israel, und zwar, wenn es darum geht, welche bildenden Künstler Ihnen gerade besonders am Herz liegen. Es ist Nira Pereg. Johann Hinrich Claussen, was sollten wir über diese Künstlerin wissen?
Claussen: Also, Nira Pereg ist eine ganz großartige Video-Künstlerin, die inzwischen auch doch ganz gut bekannt ist, die aus einer ganz anderen Perspektive Videofilme, aber dargestellt in großen Installationen, eben über dieses Verhältnis von säkularen und nichtsäkularen Menschen, religiösen oder unterschiedlich religiösen Menschen in Israel gedreht hat.
Man kann das entweder in großen Ausstellungen sehen, Biennale oder in Tel Aviv, also wirklich in großen, wunderbar gemachten Installationen. Man kann aber auch im Internet einfach die Clips sehen und sie macht es eben ganz anders als "Shtisel", wo das Konfliktthema schon umschifft wird. Also, "Shtisel" kann man natürlich vorwerfen, dass diese Serie den scharfen Konflikt zurückfährt, um eben die Menschen mal anzuschauen – zur Abwechslung.
Nira Pereg macht es anders und sie hat zum Beispiel – das schließt wunderbar an – einen Clip gedreht darüber, wie ultraorthodoxe Juden, vor allem deren Kinder oder Söhne, ihre Stadtteile absperren am Freitagnachmittag für die Sabbath-Ruhe. Man sieht eigentlich nur zusammengeschnitten, wie da diese Straßensperren hin und her geschrammt und geschrubbt werden und ein Stadtteil sich absperrt.
"Das Ausgrenzende, das Abgrenzende"
Main: Das ist das Exklusive, was Religion auch haben kann, das Ausgrenzende, das Abgrenzende. Und sie erzählt das oder dokumentiert dies ganz eindeutig aus einer säkularen Perspektive.
Claussen: Genau, sie ist eine säkulare, israelische Künstlerin, die aber interessanter Weise in ihrer Selbstäußerung dann doch – lässt sich ja nicht vermeiden – irgendwas Religiöses zeigt, indem sie ein besonderes Verhältnis zur Sprache und zur Sprachlichkeit für sich reklamiert.
Israelische Kontrollstelle in Hebron im Westjordanland/Palaestina: Ein Israelischer Soldat in Uniform steht vor einem Wachhäuschen, das mit einer gemalten israelischen Flagge angestrichen ist.
Eine israelische Kontrollstelle in Hebron im Westjordanland (imago images / Winfried Rothermel)
Das kommt aber in dem Clip selber nicht vor, sondern da wird nur zusammengestellt, da wird nur gezeigt, was da passiert, einmal jetzt diese Absperrungsmaßnahmen, das sieht anfangs aus wie Slapstick, fast komisch, ist es aber gar nicht. Oder eben ganz großartig über die von Muslimen und Juden gemeinsam und gegeneinander genutzte Grablege, Grabhöhle der Patriarchen in Hebron.
"Religion ist faszinierend, interessant, verstörend"
Main: Zwischenbilanz: was lernen wir aus diesen so unterschiedlichen Genres über Religion?
Claussen: Ja, dass das faszinierend, interessant, verstörend ist, und dass man sich mit schnellen Urteilen ein bisschen Zeit lassen darf.
Main: Wie sind Sie auf die Arbeiten dieser Künstlerin – Nira Pereg – gestoßen?
Claussen: Ach, ich sitze gerade an einem Buchvorhaben über besondere, seltsame, erstaunliche, erschreckende religiöse Orte. Da war ich auch auf der Suche nach simultan genutzten, heiligen Räumen, es gibt ja in Deutschland die Tradition der…
Main: Simultankirchen.
Claussen: Genau. Die Simultankirchen. Das ist aber alles ganz friedlich. Und es gibt aber in anderen Ländern und Orten – wie in Hebron eben auch – Simultan-Moschee-Synagogen. Da sieht es anders aus. Dann fand ich diesen künstlerischen Blick darauf – also nicht nur den journalistischen –, sondern den künstlerischen Blick besonders interessant.
"... welche kulturellen Folgen das Christentum hatte"
Jörg Lauster: "Die Verzauberung der Welt"
C.H.Beck, 734 Seiten, 34,95 Euro
Main: Über seltsame, religiöse Orte reden wir dann, wenn es soweit ist. Johann Hinrich Claussen, lassen Sie uns jetzt zum Markenkern des Theologen kommen, zur Theologie. Welche theologischen Werke, die vielleicht auch für ein breiteres Publikum anschlussfähig sind, sind Ihnen so wichtig, dass Sie das empfehlen würden?
Claussen: Also, aus der jüngeren Vergangenheit – es ist vor vier oder fünf Jahre erschienen: "Die Verzauberung der Welt" von Jörg Lauster. Jörg Lauster ist Theologieprofessor in München und hat eine wunderbare Kulturgeschichte des Christentums geschrieben. Hat also aufgezeigt, erzählt, wunderbar auch bebildert, welche kulturellen Folgen das Christentum hatte. Das ist ein wunderbares Buch, gehört in jedes gebildete Haus hinein. Es ist auch ein Hausbuch, ein Lesebuch: Man kann sich auch einzelne Kapitel, die einen gerade interessieren, herausgreifen. Ich gucke da immer wieder rein und hole es mir aus dem Bücherregal.
"Der größte theologische Bestseller"
Rudolf Otto: "Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen"
C.H.Beck, 294 Seiten, 14,95 Euro
Main: Und darüber hinaus ein theologisches Werk älteren Datums?
Claussen: Ja, wir haben ja das Rudolf-Otto-Jubiläum, das auch bei "Tag für Tag" außerordentlich gut gefeiert worden ist. Ich bin immer fasziniert vom Hauptwerk von Rudolf Otto. Das ist auch sein dünnstes Buch. Es ist ein ganz schlankes, kurzes Buch, in dem eigentlich Wesentlichstes und immer noch Interessantestes über Religion zu lesen ist.
Rudolf Otto
Der evangelische Theologe Rudolf Otto (Universität Marburg)
Main: Und zwar "Das Heilige".
Claussen: "Das Heilige", stimmt, habe ich ganz vergessen den Titel zu nennen. "Das Heilige", das ist auch der größte theologische Bestseller, den es, glaube ich, gibt. Jedenfalls im 20. Jahrhundert. Und es ist eben wirklich ein kurzes, knackiges Buch. Die Grundthese: Religion lebt aus der Spannung zwischen dem Erhabenen, dem Anziehenden und dem Faszinierenden und dem Erschreckenden.
Main: Das Fascinosum und das Tremendum.
Claussen: Und aus dieser Spannung heraus entfaltet er eine ganze religiöse Welt.
Main: Wem können Sie dieses Buch nicht empfehlen?
Claussen: Menschen, die es einfach haben wollen.
Main: Was ist das Komplexe an diesem Buch?
Claussen: Das Komplexe ist, dass es eben Religion nicht in einem einzigen Gefühl, stillgestellt, darstellt, also Religion ist immer Recht haben, Religion ist immer nur zur Ruhe kommen, ist immer nur getröstet werden. Sondern man muss schon Lust haben an existenzieller Aufgespanntheit, an Dynamik und Konflikt.
Was wäre, wenn es die Reformation nicht gegeben hätte?
Kingsley Amis: "The Alteration"
NYRB Classics, 256 Seiten, 17 Euro
Main: Soweit also zur theologischen Literatur. Am Ende des Tages lesen wir Normal-Bildungsbürgerinnen und -bürger dann aber doch auch den Roman – am Ende des Tages – und auch im Bett. Da haben Sie uns, also was Romane betrifft, ein älteres Werk mitgebracht aus dem Jahr 1976 von Kingsley Amis, ein Science Fiction, von dem ich, auch wenn ich mich jetzt vielleicht zum Narren mache, bisher nichts gehört habe: "Die Verwandlung", "The Alteration". Was ist der Clou dieses Romans?
Claussen: Ja, dieses Buch hat mir geholfen, ich sollte vor kurzem einen Vortrag zum Reformationsjubiläum halten und da viel mir eigentlich nichts mehr zu ein. Und dann kam ich zum Glück auf Kingsley Amis. Das war nach dem Zweiten Weltkrieg einer der zentralen Figuren der englischen Literatur, gehört zu den jungen, zornigen Männern um John Osborne und Philip Larkin. Und der hat dann aber in den 70er Jahren einen lustigen Dreh genommen in die Pulp Fiction, also auch in die, sozusagen, reine Unterhaltungs- und Quatschliteratur und hat das Genus der Alternative History, also der alternativen Geschichte - sozusagen umgedrehte Science Fiction - für sich genommen und erzählt 1976: Die Reformation hat nicht stattgefunden, denn Martin Luther ist nach Rom gegangen und hat da einen Deal gemacht. Am Ende wurde Martin Luther zum Papst gewählt – Germanian I. – und hat dann einen Kreuzzug gegen Heinrich VIII. in England vollzogen und dort die Abtrünnigkeit zurückgenommen. Europa 1976 – die Reformation ist nicht geschehen – Europa ist ganz und gar katholisch.
Also, es ist wahnsinnig clever gemacht. Man kriegt den Eindruck, was eigentlich die Reformation für einen Bruch in das europäische Leben hineingesetzt hat, und zwar alle Bereiche: Kultur, Politik, Soziales. Also durch die Reformation ist ganz wesentlich das Element des Bruchs, der individuellen Freiheit, aber auch der Nichteinigkeit nach Europa gesetzt worden. Das ist das eine.
Das Erfurter Luther-Denkmal in der Kontur von hinten
Wären Martin Luther wie hier in Erfurt auch Denkmäler gesetzt worden, wenn er katholischer Papst geworden wäre? (imago/Klaus Martin Höfer)
Und das andere ist, dass man durch dieses Buch, obwohl es so skurril sich liest und es manchmal auch abseitig und witzig ist, kriegt man den Eindruck, dass die Reformation eben ein europäisches Geschehen ist, kein deutsches Sondergut, sondern es bestimmt die gesamte europäische Geschichte. Sie ist dadurch mitbestimmt, welche Reformationsgeschichten die unterschiedlichen Länder jeweils erlebt haben. Und dafür kriegt man einen Sinn durch die Vorstellung, die Reformation hat es gar nicht gegeben, sie ist ausgefallen.
"Gar nicht mehr so leicht, tolle Romane zu finden"
Stefan Hertmans: "Die Fremde"
Hanser, 304 Seiten, 23 Euro
Main: Um den Kreis zu schließen zu einem Roman, der wiederum kreist ums Jüdische, genauer ums Jüdisch-Christliche, es ist ein zeitgenössischer Roman, zugleich ein Historienroman. Es ist Stefan Hertmans "Die Fremde". Worum geht es in diesem Roman?
Claussen: Also, erst mal ist es gar nicht mehr so leicht, tolle Romane zu finden – finde ich. Also, ich tue mich schwer damit, mich wirklich für ein Buch zu begeistern. Das letzte Mal, dass ich mich richtig begeistert habe, ist für "Die Fremde" von Stefan Hertmans.
Stefan Hertmans ist ein belgischer Autor, der in Belgien und in den Niederlanden intensiv gelesen wird. Er hat einen wunderbaren Roman über seinen Großvater geschrieben – "Krieg und Terpentin" – und eben diesen Roman "Die Fremde". Und da geht es um Folgendes: Er hat ein zweites Zuhause in Südfrankreich, Monieux, und dort stößt er auf eine Geschichte. Dort zieht er sich immer hin zum Schreiben zurück und stößt auf eine Geschichte, die ihn nicht mehr loslässt.
In seinem kleinen Örtchen hat es einmal eine Synagoge gegeben. Die wurde im Zuge eines Pogroms während der ersten Kreuzzugswahnsinnszustände vernichtet. In dieser Synagoge, in dieser Synagogengemeinschaft, hat eine junge Frau gelebt, die ursprünglich eine Christin war. Dieser Spur folgt er. Das ist eine historische Spur, natürlich ganz dünn. Der folgt er und baut daraus und erzählt daraus, imaginiert daraus einen großen Roman über eine junge Frau. Vigdis, die eben aus einer normannischen Familie stammt, sich verliebt in David, den Sohn des Rabbiners. Die beiden fliehen. Sie konvertiert zum Judentum – eine damals, im Mittelalter, geradezu ja, gar nicht denkbare Möglichkeit.
Der flämische Schriftsteller Stefan Hertmans
Der flämische Schriftsteller Stefan Hertmans (© Michiel Hendryckx)
Sie kommen dann an diesen kleinen Ort, dort wird der Mann getötet, ihre Kinder werden verschleppt. Sie reist auf der Suche nach den verschleppten Kindern bis nach Ägypten. In Kairo tatsächlich gibt es Dokumente, die gefunden wurden in einer sogenannten Geniza, also in einer dieser Schriften-Friedhöfe. Dort gibt es Dokumente, die ihren Namen und ihre Person benennen. Das gehört zu dem kargen Gerüst an Fakten, die man weiß. Aus denen malt – mit großer Meisterschaft – Stefan Hertmans ein eindringliches, wunderbares Buch, bei dem man diese Figuren wirklich lieben lernt, mit ihnen zugleich entsetzt ist über Kreuzzüge, Fundamentalismen, Flüchtlingsströme.
Und das Wunderbare ist, er geht ganz nah hinein in die Geschichte. Zugleich macht er nicht den Fehler, den manche historische Romane begehen, dass sie so tun, als ob die so reden wie wir heute, sondern er respektiert auch die Distanz, die Fremdheit dieser Figuren, vor allen Dinge der Hauptfigur – der Fremden.
"Weil das so fremd ist, kommt es einem so nahe"
Main: Das heißt dann aber auch, dass das sehr fremd bleibt, sehr fern bleibt oder sehen Sie dennoch etwas in diesem Roman, was Sie als brisant oder aktuell bezeichnen würden?
Claussen: Gerade, weil das so fremd ist, kommt es einem so nahe. Das ist die Meisterschaft des Erzählens. Und ohne, dass er es jetzt platt aktualisiert, hat man beim Lesen sofort Gedanken an Religionskonflikte heute, Fundamentalismen, Kreuzzugsmentalitäten, Terrorismus, religiös aufgeladene Gewalt. Das kommt einem sofort, wie von selbst beim Lesen, ohne dass Stefan Hertmans es einem auf die Nase drücken würde. Ich kann gar nicht verstehen, warum dieses Buch in Deutschland seit 2017 - da ist es auf Deutsch erschienen, nicht so richtig bekannt ist. Es ist ein wunderbarer Roman.
Main: Nun haben wir oder haben Sie diverse Beispiele genannt für Spuren des Religiösen in der Kunst. Wenn man zeitgenössische Kunst sich anschaut: Dass Religion durchaus ein Riesenthema ist und vielleicht auch sogar mehr als vor ein paar Jahren - teilen Sie diesen Eindruck?
Claussen: Also, ob mehr, weiß ich nicht. Aber ich glaube, dass ganz, ganz viele große Künstler, wenn sie in die Tiefe gehen und sich existenziellen, letzten Fragen stellen, wie von selbst auf spirituelle, religiöse Themen, Symbole, Fragestellungen kommen. Natürlich sind heutige Künstler und Künstlerinnen nicht mehr so kirchlich sozialisiert, wie das früher der Fall war. Das hat manchmal aber auch den Vorteil, dass sie sich daran nicht mehr so abarbeiten müssen, an dem furchtbar frommen Elternhaus, sondern da freier sind. Aber, wenn sie sozusagen eine bestimmte Intensität erreichen, muss es nicht, aber kann es geschehen, dass sozusagen Religiöses sich ausdrückt, und das ist dann für mich als Theologen natürlich wahnsinnig interessant.
Main: Der EKD-Kulturbeauftragte, Johann Hinrich Claussen, über Spuren des Religiösen in der Kunst. Danke für Ihre Einschätzung und auch für Ihre Empfehlungen. Danke, Johann Hinrich Claussen.
Claussen: Vielen Dank, lieber Herr Main.
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