
Stromschläge am Gehirn – und das als Therapie? Bei vielen löst diese Vorstellung Angst und Schrecken aus. Zu stark sind die Assoziationen mit schmerzhaften Krampfanfällen, eingesetzt, um schwierige Patientinnen und Patienten unter Kontrolle zu bringen.
Umso überraschender ist es, dass die Elektroschocktherapie – offiziell Elektrokonvulsionstherapie (EKT) – bis heute klinisch angewendet wird und für Menschen mit schweren, therapieresistenten Depressionen oft die letzte Hoffnung sein kann. Laut Bundesärztekammer ist sie für bestimmte psychiatrische Erkrankungen sogar die bestmögliche Behandlung.
Inhalt
- „Einer flog über das Kuckucksnest“: Warum hat die Elektroschocktherapie einen schlechten Ruf?
- Heilsamer Schock: Wann wurde die Elektrokonvulsionstherapie entwickelt?
- Depressionen – und kein Medikament hilft: Wann wird die EKT eingesetzt?
- Hohe Heilungsrate: Wie hoch liegen die Erfolgschancen von Elektrokonvulsionstherapie?
- Behandlung unter Vollnarkose: Was passiert bei einer EKT?
- Serotonin-Rezeptoren im Gehirn: Wie wirkt die die Elektrokrampftherapie?
- Kognitive Probleme: Welche Nebenwirkungen hat die Therapie?
„Einer flog über das Kuckucksnest“: Warum hat die Elektroschocktherapie einen schlechten Ruf?
Mehr als 5.000 Menschen werden in Deutschland jedes Jahr mit der sogenannten Elektrokonvulsionstherapie behandelt. Viele auch erfolgreich. Trotzdem eilt der umgangssprachlich auch als Elektrokrampf- oder Elektroschocktherapie bezeichneten Behandlungsmethode ein schlechter Ruf voraus. Angsteinflößende Darstellungen in Büchern, Videospielen, Filmen und Songs bestimmen die Vorstellung der Elektrokonvulsionstherapie in der öffentlichen Wahrnehmung.
Vielen fällt vor allem der nach einer Romanvorlage von Ken Kesey entstandene Film „Einer flog über das Kuckucksnest“ ein, der von einer psychiatrischen Anstalt in den USA handelt. Jack Nicholson spielt einen widerspenstigen Insassen, der gegen seinen Willen auf der Station festgehalten und mit allen Mitteln - auch Elektroschocks - zum Schweigen gebracht wird.

“Ich habe mir vorgestellt: Elektrischer-Stuhl-Stromschläge, also quasi wie eine Art Folter“, erzählt Jana, die wegen postnataler Depressionen in Behandlung war – und der eine Elektrokonvulsionstherapie vorgeschlagen wurde.
Die Vermengung von Gewalt, Unterdrückung und vermeintlicher Heilung, wie sie in „Einer flog über das Kuckucksnest“ thematisiert wird, kommt nicht von ungefähr. Sie ist Teil der Entstehungsgeschichte der Elektrokonvulsionstherapie und der Geschichte der institutionalisierten Psychiatrie. Es ist eine Geschichte von Zwang und Fehltritten, die man bis heute mit dieser Behandlung verbindet.
Heilsamer Schock: Wann wurde die Elektrokonvulsionstherapie entwickelt?
Bereits in der Antike gab es die Vorstellung, dass ein Schock eine heilsame Wirkung haben kann. Diese – durchaus legitime – Vorstellung führte in der Medizingeschichte allerdings zu einer ganzen Reihe inhumaner Behandlungsmethoden.
Während und nach dem Ersten Weltkrieg kehrte eine Unzahl an Männern schwer traumatisiert von der Front zurück. Mediziner wollten sie mittels Schock behandeln. Dafür wurden verschiedene Medikamente angewandt, um Krampfanfälle auszulösen – beispielsweise Insulin. Die Krämpfe waren bisweilen so stark, dass Patienten Frakturen an der Wirbelsäule erlitten. Sogenannte “Kriegszitterer” wurden auch schon während des Krieges mit Stromstößen geschockt, damit man sie wieder an die Front schicken konnte.

1938 etablierte der italienische Psychiater und Neurologe Ugo Cerletti endgültig die Elektrokonvulsionstherapie. Anfänglich wurde sie vor allem benutzt, um Schizophrenie zu heilen. Es stellte sich aber bald heraus, dass die Elektrokonvulsionstherapie bessere Ergebnisse in der Behandlung von Depressionen und psychotischer Episoden erzielen konnte. Innerhalb weniger Jahre verbreitete sich die EKT auf der ganzen Welt und löste die riskanteren medikamentös induzierten Schocktherapien ab.
Die Elektroschocktherapie ist schon damals wirksam und verhältnismäßig sicher, wird aber auf psychiatrischen Stationen angewandt, in denen ein autoritäres Menschenverständnis herrscht und Patientinnen und Patienten oft einfach nur ruhiggestellt werden.
Depressionen – und kein Medikament hilft: Wann wird die EKT eingesetzt?
Die medizinischen Leitlinien – also die Vorgaben, wie Depressionen zu behandeln sind – sind ziemlich klar. Erst wird ein Antidepressivum ausprobiert, wenn das nach drei Wochen nicht wirkt, ein zweites.
Wirkt auch das nicht, gelten die Patienten als „therapieresistent“. Dann haben Psychiater und Psychiaterinnen die Möglichkeit, auf eine Kombination aus Medikamenten zurückzugreifen. Auch Lithium oder Ketamin können eingesetzt werden. Aber die stärkste Empfehlungsstufe fällt auf die Elektrokonvulsionstherapie.
Hohe Heilungsrate: Wie hoch liegen die Erfolgschancen von Elektrokonvulsionstherapie?
Die Heilungschancen bei der Elektrokonvulsionstherapie liegen im Vergleich zu anderen Behandlungsmethoden recht hoch. Für eine koreanische Metastudie wurden 25 Jahre EKT-Daten ab 1995 analysiert. Es zeigte sich: Die Elektrokonvulsionstherapie hilft in 60 Prozent therapieresistenter Fälle von Depression. Andere Studien kommen auf bis zu 80 Prozent Heilungsrate.
Die Bundesärztekammer hat 2003 in einer Stellungnahme verkündet, dass die EKT für bestimmte psychiatrische Erkrankungen die bestmögliche Behandlung darstellt und mit einem geringen Risiko verbunden ist. In Deutschland ist man aber immer noch zurückhaltend. In Ländern wie Schweden oder den USA wird die Elektroschocktherapie weitaus häufiger durchgeführt.
Hilfsangebote für Menschen mit Depressionen: Wer das Gefühl hat, an einer Depression zu leiden oder sich in einer scheinbar ausweglosen Lebenssituation zu befinden, sollte nicht zögern, Hilfe anzunehmen. Hilfe bieten zum Beispiel auch die Telefonseelsorge in Deutschland unter 0800 111 0 111, das Info-Telefon Depression unter 0800 3344533 oder die Stiftung Deutsche Depressionshilfe auf ihrer Website.
Behandlung unter Vollnarkose: Was passiert bei einer EKT?
Über einen Zeitraum von ein paar Monaten bekommen Patienten in immer größeren Abständen Elektrokonvulsionstherapien. Beispielsweise erst dreimal die Woche, dann zweimal, schließlich nur noch alle paar Wochen.
Eine einzelne Behandlung ist dabei relativ unspektakulär. Der Patient wird unter Vollnarkose behandelt. Er erhält muskelentspannende Medikamente und bekommt vom gesamten Prozess nichts mit. Der Patient liegt also längst nicht mehr zuckend im Bett.
Ist der Patient oder die Patientin unter Narkose, wird mit diesem Gerät ein Stromimpuls an das Gehirn gesendet. Ein so ausgelöster Anfall dauert zwischen 20 und 60 Sekunden. Sichtbar ist er am Körper des Patienten nur an einem leichten Zucken der Wangenpartie im Gesicht – weil die Stromimpulse hier direkt die Nerven aktivieren.
Serotonin-Rezeptoren im Gehirn: Wie wirkt die die Elektrokrampftherapie?
Bei der Elektrokonvulsionstherapie werden unter anderem Serotonin-Rezeptoren aktiviert. Der Serotoninlevel im Gehirn steigt. Das wiederum führt zu einem Umorganisieren des Gehirns. Einfach ausgedrückt: Die Therapie hilft dabei, dass das Gehirn sich selbst heilt.
In mit Magnetresonanztomografie geführten Studien konnte beobachtet werden, dass sich nach einer Behandlung im Gehirn neue Neuronen bilden und neue Synapsen formen.
Kognitive Probleme: Welche Nebenwirkungen hat die Therapie?
Die Therapie kann durchaus gravierende Nebenwirkungen haben. Dazu gehören vor allem Gedächtnisverlust und Konzentrationsschwierigkeiten. Beispielsweise kann es einem erst einmal schwerfallen, ein Buch zu lesen. Eine Metastudie von 2022 ergab, dass etwa die Hälfte aller EKT-Behandelten mit temporären kognitiven Einschränkungen rechnen muss.
Von Gedächtnislücken sind rund 50 Prozent der Behandelten betroffen. In fast allen Fällen sind Erinnerungen rund um die Therapie nicht mehr abrufbar. “Nach der allerersten Behandlung wusste ich nicht, warum ich im Krankenhaus bin“, berichtet beispielsweise eine Patientin. Auch, dass sie vor Kurzem ein Kind entbunden hatte, fiel ihr nicht mehr ein. In seltenen Fällen kann es auch passieren, dass Erinnerungsinseln aus Zeiten vor der Behandlung verloren gehen.
Auch wenn die Nebenwirkungen drastisch sind. Man muss bedenken, dass schwere Depressionen oft akut lebensbedrohlich sind.
lkn