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Elizabeth Anderson: „Private Regierung“
Wie Arbeitgeber über ihre Beschäftigten herrschen

Die Sozialphilosophin Elizabeth Anderson sägt an den Grundfesten des Wirtschaftsliberalismus. In ihrem jüngsten Buch zeigt sie auf, wie Arbeitgeber als eine Art "private Regierung" willkürliche Herrschaft über ihre Mitarbeiter ausüben können.

Von Matthias Becker |
Im Vordergrund ist das Cover des Buches "Private Regierungen", im Hintergrund sitzen mehrere Menschen an mehreren Bildschirmen.
Im Neoliberalismus kann sich eine Firma verhalten wie ein souveräner Herrscher: Sie erlässt Gesetze, bestraft und belohnt, setzt faktisch Recht (Suhrkamp / Imago / Sven Simon)
Im amerikanischen Pennsylvania betreibt der Versandhändler Amazon eines seiner Warenlager. Während einer Hitzewelle vor einigen Jahren stieg die Innentemperatur über 39 Grad Celsius. Die Lagerarbeiterinnen baten darum, wenigstens das Tor zur Laderampe öffnen zu dürfen, um frische Luft hereinzulassen. Nein, sagte das Management, bei offener Laderampe könne es zu Diebstählen kommen.
"Stattdessen ließ Amazon Rettungswagen vorfahren, die diejenigen Arbeitskräfte in Empfang nehmen sollten, die zusammenbrechen würden. Wenn sie tatsächlich zusammenbrachen, bekamen sie Minuspunkte und wurden gefeuert, wenn sie zu viele davon anhäuften."
So berichtet es Elizabeth Anderson in ihrem Buch "Private Regierung" und fügt zahllose weitere Beispiele an, wie Arbeitskräfte rücksichtslos gegängelt und ausgebeutet werden. In den Vereinigten Staaten sagt die Hälfte der Beschäftigten, ihnen sei schon einmal Lohn grundlos vorenthalten worden. Zwei Drittel fürchten Sanktionen, wenn sie Verletzungen oder Krankheit melden.
Es geht Elizabeth Anderson nicht darum, mit solchen Statistiken Empörung zu schüren. Vielmehr wundert sich die Philosophin darüber, warum sich sonst niemand wundert.
"Warum erkennen wir einen solch allgegenwärtigen Teil unserer sozialen Verhältnisse nicht als das, was er ist? Stattdessen reden wir so, als ob Arbeitnehmer von ihren Vorgesetzten nicht beherrscht werden. Warum sprechen wir, als ob sie bei der Arbeit frei sind und die einzigen Gefahren für unsere individuelle Freiheit vom Staat ausgehen?"
Gleichheit als Ziel
Um diese Fragen zu beantworten, schlägt die Autorin einen historischen Bogen zurück bis zu den Anfängen der bürgerlichen Gesellschaft. Als im englischen Bürgerkrieg König und Parlament um die Macht kämpften, ging es den Kritikern der Königsherrschaft vor allem um Gleichheit. Darum, Standesunterschiede und Privilegien abzuschaffen. Die egalitäre Überzeugung zeigt sich an ihrer Selbstbezeichnung als "Levellers", "Gleichmacher". Um Gleichheit zu verwirklichen, setzten sie auf den Markt.
"Die Leveller erblickten in freien Märkten eine wichtige Komponente einer Gesellschaft von Gleichen, da sie die Chancen der Individuen vervielfachten, ein Leben zu führen, das durch persönliche Unabhängigkeit charakterisiert war."
So argumentierten später auch Denker wie Adam Smith, Thomas Paine oder Abraham Lincoln. Wo Verträge frei ausgehandelt werden, könne es keine Unterdrückung geben.
Soweit bekannt. Elizabeth Anderson weist nun mit viel Quellenarbeit nach, dass bei den Klassikern des Liberalismus zwar Handwerker auftauchen, Händler, unabhängige Bauern und kleine Manufakturen, aber keine Großunternehmen oder abhängig Beschäftigte, keine Konzerne oder besitzlosen Arbeiter.
Im 19. Jahrhundert machte die industrielle Revolution aus den liberalen Hoffnungen ein überholtes Ideal. Und dennoch, argumentiert die Autorin, schleppten wir dieses ideologische Erbe bis heute mit uns.
"Es wird noch immer unentwegt die gleiche Rechtfertigung für die Marktgesellschaft vorgebracht – dass sie die persönliche Unabhängigkeit der Arbeiter vor willkürlicher Autorität schützen würde – die sich in Hinblick auf ihre ursprüngliche Ambition längst als gescheitert erwiesen hat. Wie Patienten, die eine ihrer Körperhälften nicht wahrnehmen können, kann eine große Klasse dem Liberalismus zuneigender Denker und Politiker eine Hälfte der Ökonomie nicht wahrnehmen: jene Hälfte, die sich jenseits des Marktes abspielt, nachdem der Arbeitsvertrag geschlossen wurde."
Zahme Folgen der Kritik
Diese halbseitige mentale Lähmung aufzulösen, ist die Absicht von "Private Regierung". Anderson will, "den Boden dafür bereiten, dass wir Fragen der Autorität und Kontrolle auf die politische Agenda setzen können". Innerhalb gewisser gesellschaftlicher Normen und rechtlicher Vorgaben verhalte sich das Management wie ein Souverän: Es erlässt Gesetze, bestraft und belohnt, es setzt faktisch Recht. Die Autorin nennt das private Regierung, "willkürliche, nicht rechenschaftspflichtige Autorität".
Auf das Gegenargument, der oder die Beschäftigte könne doch durch Kündigung seine Freiheit ausüben, antwortet sie:
"Das ist, als sage man, Mussolini sei kein Diktator gewesen, denn die Italiener hätten doch auswandern können."
Elizabeth Anderson kritisiert einige theoretische Grundlagen des Wirtschaftsliberalismus. Ihre politischen Folgerungen sind dann überraschend zahm. Als historische Darstellung taugt das Buch nur bedingt.
Aber: "Private Regierung" weist mit Nachdruck auf eine Leerstelle und ein Tabu hin. Deswegen lohnt sich die Lektüre.
Elizabeth Anderson: "Private Regierung. Wie Arbeitgeber über unser Leben herrschen (und warum wir nicht darüber reden). Aus dem Amerikanischen von Karin Wördemann,
Suhrkamp Verlag, 259 Seiten, 28 Euro.