
Dass Tim hier zur Schule gehen kann, das stand bis ein paar Tage vor Beginn des Schuljahres noch gar nicht fest. Denn nachdem Susanne ihren Sohn vor ziemlich genau einem Jahr angemeldet hatte, bekam sie eine Absage. Und erst nach langen Auseinandersetzungen mit der Schulbehörde und nachdem sie einen Anwalt eingeschaltet hatte, durfte Tim hier in die fünfte Klasse gehen. Susannes Aussagen sind deshalb nachgesprochen worden.
"Es gibt noch zwei andere Kinder bei uns in der Straße. Tim und die beiden sind befreundet. Und alle drei haben sich am Gymnasium angemeldet. Und die beiden anderen haben kurz danach eine Zusage bekommen. Nur wir haben von der Schule einen Brief bekommen, dass es für Tim keinen Platz gibt. Dass er auf eine andere Schule muss, obwohl die viel weiter entfernt ist. Dabei wohnen wir von den drei Familien am nächsten zur Schule."
"Es waren zu viele Kinder angemeldet für die 84 Plätze. Dann haben sie ausgelost, und Tim war auf Platz 85. Da haben Sie Pech gehabt, hat der Schulleiter gesagt. Wir haben dann gehofft, dass noch jemand absagt, damit wir auf Platz 84 aufrücken. Aber das war nicht der Fall."
Es blieb dabei: Tim sollte auf die andere, viel weiter entfernte Schule gehen. Seine Mutter Susanne wollte sich damit nicht abfinden. Sie forschte nach und stellte fest: Ein anderes Kind, das viel weiter weg wohnte, war vorgezogen worden, weil dessen Familie angeblich seit ein paar Wochen einen neuen Wohnsitz in unmittelbarer Nachbarschaft des Gymnasiums hatte. Doch dabei handelte es sich nur um eine Scheinadresse, fand Susanne heraus. Ihr Anwalt sorgte dann dafür, dass das andere Kind den Schulplatz nicht bekam und stattdessen Tim auf das Gymnasium wechseln durfte.
"Diese andere Familie wollte ihr Kind einfach hier auf der Schule haben. Ich finde das unverschämt, die hätten meinen Sohn dafür rausgedrängt auf eine andere Schule, weg von seinen Freunden. Die haben überhaupt nicht darüber nachgedacht, was das für andere bedeutet."
"Es ist eigentlich die ganze Palette der Motivationen, von Leuten aus der Nachbarschaft, die einfach den bequemen Schulweg suchen, bis hin zu Leuten, die wirklich quer durch die ganze Stadt fahren, weil sie sich verschiedene Schulen angeschaut haben und zu einem sehr begründeten Urteil gelangt sind, diese Schule zu wählen, an der sie dann anmelden."
"Das kollidiert sogar sehr stark, weil natürlich die Eltern, die im unmittelbaren Umfeld einer Schule wohnen, sagen dann nach den Anmeldungen, wenn sie keinen Platz bekommen haben: Warum kommt jemand aus einem ganz anderen Stadtteil und darf hier einen Schulplatz einnehmen? Und ich, der ich quasi zwei Straßen weiter wohne, nicht? Das ist natürlich eine Brisanz, die so etwas in diesem Elternwillen steckt der freien Schulwahl, aber das ist zurzeit überhaupt nicht auszuschließen, da die Schulen vom Schulgesetz her zwar das Umfeld der Schule und die räumliche Nähe einbeziehen können in ihre Wahl, aber die freie Elternwahl steht sozusagen noch darüber."
"Der Wechsel auf Klasse 5, das ist ein Riesenthema. Ich weiß von Familien, die fangen schon im Herbst, so September ungefähr, an und schauen sich Schulen an, verschiedene Schulen, und gehen auch mit ihrem Kind hin, sich die Schule ansehen. Das muss man sich vorstellen, dass dieses Vierte-Klasse-Kind auch bei der Schulwahl mitsprechen soll, und dann in Hessen so bis 5. März wird dann der Antrag, die Bewerbung für die weiterführende Schule abgegeben. Das ist ein Riesenthema. Und in Frankfurt war es so, dass im letzten Jahr ungefähr 600 Schülerinnen und Schüler ihren Platz an der Wunschschule nicht bekommen haben."
"Manche versuchen, von vornherein zu tricksen. Also, bei uns in der Praxis als auch das, was ich in Gerichtsentscheidungen lese: Der Scheinwohnsitz ist oft aufgefallen, und da haben sich die Eltern sehr blamiert, weil, man hat ja falsche Angaben in einem förmlichen Dokument gemacht, das man an den Staat schickt. Das ist also sehr nach hinten losgegangen. Aber es gibt immer wieder Eltern, die das versuchen."
"Deshalb ist es ganz wichtig, dass die Eltern sehr viel Ernsthaftigkeit und sehr viel Sorgfalt bei diesem Bewerbungsformular oder Antragsformular aufwenden. Das ist alles, was der Schulleiter hat. Und da muss alles drin sein. Auch in so einer Kürze, dass er es auch bei hunderten, bei tausenden von Bewerbungsformularen erfassen kann, schnell erfassen kann. Da machen die Familien die meisten Fehler, schreiben gar nichts rein. Wenn der Schulleiter das Kriterium Geschwisterkind, Sprachenfolge, ein bestimmtes Abitur, weil die Mutter Französin ist beispielsweise, französisches Abitur gewollt - diese ganzen Kriterien müssen auf diesen ein, zwei, drei Seiten des Formulars stehen, sonst weiß der Schulleiter, der die Entscheidung über die Aufnahme trifft, ja gar nicht, worum es geht. Also, da müssen die Eltern sehr, sehr sorgfältig arbeiten."
Sagt Marcel Helbig, Sozialwissenschaftler und Professor für Sozialforschung am Wissenschaftszentrum Berlin. Marcel Helbig untersucht in seiner Forschung das Bildungssystem und seine Ungerechtigkeiten. Und die Gründe, warum einzelne Akteure - zum Beispiel Eltern - bestimmte Entscheidungen treffen.
"Also man will keine Schule, wo der Migrantenanteil zu hoch ist; man guckt nach bestimmten, also wenn es um die weiterführenden Schulen dann geht, dass es eine musische Spezialisierung gibt, eine naturwissenschaftliche. Wobei das eigentlich relativ Blödsinn ist so früh, mit der fünften Klasse schon, die Entscheidung zu fällen, was quasi nun die Begabung meines Kindes dann schlussendlich sind."
"Ich glaube, es ist wichtig, dass wir wegkommen von der Idee, dass Schule im Grunde genommen eine Konsumeinrichtung ist: Ich schicke meine Kinder da hin, und dann? Die Schule soll sich drum kümmern. Ich glaube, es ist schon wichtig, dass sich Eltern mit der Frage auseinandersetzen: Wer ist mein Kind? Wie lernt mein Kind? Wie kann ich dieses Kind geeignet unterstützen?"
"Was ist die bessere Schule? Das sind ja auch Entscheidungen, die völlig im Dunkeln halt stattfinden. Wir haben kaum Bundesländer, die wirklich auf Schulebene Daten zur Verfügung stellen, auf deren Grundlage ich irgendwie eine informierte Entscheidung treffen kann! Das einzige Beispiel, was mir eigentlich einfällt, was so ein bisschen was mitgibt, ist Berlin, wo sehr, sehr detaillierte Schulprofile vorliegen."
Mit anderen Worten: Trotz der Daten aus den detaillierten Schulprofilen stützen sich Eltern dann doch wieder auf einige wenige, nur bedingt aussagekräftige Kennwerte wie den Abiturdurchschnitt. Sie leiten daraus die Schulwahl für ihr Kind ab, nach dem Motto: Diese Schule hat immer gute Abitur-Durchschnitte, also wird mein Kind dort ebenfalls ein gutes Abitur machen.
"Mit Raten ist dann natürlich schlecht. Im Grunde kann man dann fast nur noch trösten, zumal es wirklich für einige Eltern dann, weil sie selber berufstätig sind oder wie auch immer, eine rein pragmatische Ebene hat, die problematisch ist. Aber auch die Schulen selber - die meisten wählen das Losverfahren - können in dem Moment dann auch nichts mehr daran ändern."
Das Losverfahren. Wie fair kann es sein, wenn der Schulbesuch vom Glück einer Verlosung abhängt?
"Tja, ist ein Losverfahren gerecht? Es schafft eine scheinbare Gerechtigkeit, aber es gibt keine Alternative, wo man sagen könnte: Die führt zu gerechteren oder besseren Ergebnissen. Das ist leider so. Dass ein Losverfahren für ein Kind und für die Eltern völlig unbefriedigend ist, das ist uns natürlich klar," Marcel Helbig.
In ein gut gestaltetes Mischverfahren, sagt Pisa-Forscher Andreas Schleicher, könne man auch den Elternwillen einbauen - vorausgesetzt, die Schulen bieten alle vergleichbar guten Unterricht.
"Also, gute Beispiele sind in Europa die Niederlande, wo fast alle Schulen freie Schulen sind und die auch völlig unterschiedlich arbeiten. Die Regierung stellt dort aber sicher, dass die Qualität dieser Schulen gewährleistet ist. Alle Schulen leisten im Grunde gute Arbeit, es gibt dort im Grunde auch einen geringeren Einfluss von sozialem Hintergrund auf Bildungsleistungen, als man das in Deutschland feststellen kann. Also: Qualität, Chancengerechtigkeit sind dort gesichert, aber mit einer erheblich größeren Vielfalt an Ideen im Schulsystem, zwischen denen Eltern wählen können und müssen."
"Nur ist auch wichtig, dass das Bildungssystem selber Eltern bei der Schulwahl unterstützt. Ansonsten ist es so, dass die Kinder aus günstigem sozialem Umfeld dann auch in die besten Schulen kommen. Und dann kann sogar Schulwahl noch soziale Unterschiede weiter verstärken. Also ist es schon wichtig, dass das Bildungssystem transparent ist, dass alle Schulen gute Leistungen bringen, dass also Schulwahl nicht bedeutet: Ich muss mich zwischen einer guten oder einer weniger guten Schule entscheiden, sondern zwischen Schulen mit verschiedenen Arbeitsweisen."
"In Hessen geben Eltern die Bewerbung an die Grundschule ab, und die geben sie an die Schule, die als Erstwunsch genannt ist. Was die Schulleitung mit dieser Bewerbung der Familie dann tatsächlich macht, das wissen wir eigentlich nicht. Und das halte ich auch für ein großes Problem. Es steht keiner daneben und guckt, dass die das wirklich ordnungsgemäß machen wie zum Beispiel bei der Lottozahlenziehung."
Strittige Fälle, die später vor Gericht landen, sind zwar ein Teil ihrer Arbeit. Doch mit langwierigen juristischen Verfahren um die Schulwahl sei letztlich auch den betroffenen Kindern nur selten geholfen.
"Sehr oft begegnen mir Eltern, die gar nicht wissen, was sie genau in dieses Formular, in diesen Antrag geschrieben haben. Ich bohre dann ziemlich nach - die können sich nicht erinnern. Eine Kopie haben sie nicht gemacht, Handyfoto haben sie nicht gemacht. Also die wissen gar nicht, haben sie eine Begründung reingeschrieben? Haben sie Kriterien hingeschrieben? Haben sie nur einen Satz reingeschrieben? Drei Worte? Bisschen ausführlicher? Sie können sich nicht mehr erinnern. Und auf dieser Grundlage können wir keine Verfahren führen. Weil, ich kann niemandem raten, in ein Verfahren zu gehen, wenn sich dann am Ende rausstellt: Die Eltern haben diese Kriterien gar nicht hingeschrieben."
"Ich habe auch erlebt, dass der erste Zorn, die erste Enttäuschung verraucht ist und dann diese eigentlich nicht gewollte Schule eigentlich dann doch ganz okay war. Ich habe also schon in der zweiten Instanz ein Verfahren dann zurückgezogen, weil das Kind nach Hause kam am vierten Schultag: Es hat jetzt eine neue Freundin, am Samstag wird gleich Übernachtungsparty gemacht, und dann war die glücklich auf der Schule, auf die eigentlich von Anfang an niemand wollte."
Auch Schulleiterin Bettina Kubanek-Meis plädiert für Gelassenheit. Denn einerseits, sagt sie, würden die Kinder oft viel leichter mit der neuen Umgebung klarkommen als manche Eltern. Und andererseits sei das deutsche System, bei allen Unzulänglichkeiten, doch insgesamt auch gar nicht so schlecht.
"Ich denke, die Abkehr von der - in Anführungszeichen - Willkür der Schulleiter, eben aufzunehmen, wessen Nase ihm passt, ist natürlich auch eine Entwicklung, die zu bevorzugen ist."
Eine Errungenschaft, die der demokratischen Gesellschaft gut zu Gesicht steht: Dass grundsätzlich jeder Schüler und jede Schülerin in Deutschland die Chance hat, jede Schule zu besuchen.