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Emanuel Richter
Seniorendemokratie. Die Überalterung der Gesellschaft und ihre Folgen für die Politik

Demokratie statt Demenz lautet die Devise des Politologen Emanuel Richter. Ältere Menschen machen die Mehrheit der Wahlberechtigten in Deutschland aus - daher sollten sie sich auch breiter politische engagieren. In seinem neuen Buch "Seniorendemokratie" analysiert Richter, wie dies gelingen könnte.

Von Christina Janssen | 15.06.2020
Buchcover; im Hintergrund: Senioren verfolgen als Besucher im Deutschen Bundestag eine Debatte.
Emanuel Richter fordert in seinem Buch das politische Engagement der großen Wählergruppe der Senioren (Buchcover:Suhrkamp/ Hintergrund:dpa/ Wolfgang Kumm)
Wenn man den demografischen Wandel als Machtfrage betrachtet, ist diese längst entschieden: Als Wählergruppe haben Seniorinnen und Senioren in Deutschland schon heute zahlenmäßig das stärkste Gewicht.
Zuwanderung und Migration, schreibt Emanuel Richter weiter, könnten diese Entwicklung bremsen, nicht aber verhindern. Sein Vorwurf: In der Politik würden derzeit lediglich die wohlfahrtsstaatlichen Probleme wahrgenommen, die sich daraus ergeben - das steigende Armutsrisiko der Senioren und die Folgen für die Rentenpolitik, die Gesundheitsfürsorge oder seniorengerechte Lebensformen.
"Was bei alledem jedoch fehlt, ist die tiefere Auseinandersetzung mit den demokratischen Aspekten dieser Entwicklung. Will man eine lebendige Demokratie, dann braucht man tatkräftige, politisch umsichtige Akteure. Das gilt ganz besonders in Zeiten bedrohlich anwachsender populistischer Bewegungen, in denen schrill tönende Meinungsführer eher mit politischer Empörung aufwarten als mit konstruktiven Vorschlägen."
"Sozialen Spaltpilz" unter den Senioren überwinden
Jene "tatkräftigen Akteure" wären in Richters idealer Welt: die Senioren. Ihr Engagement konzentriere sich derzeit noch auf die eigene Interessengruppe, auf Aktivitäten in der Nachbarschaftshilfe oder Seniorenbeiräten beispielsweise. Richter möchte mehr. Er plädiert dafür, ältere Menschen aller sozialen Milieus als Treiber und Träger einer lebendigen Demokratie zu aktivieren, als Anwälte für die Anliegen aller Generationen. Dazu müsse an erster Stelle die Kluft zwischen "Luxussenioren" und "Armutsrentnern" überwunden werden.
"Es ergibt sich die Notwendigkeit einer umsichtigen politischen Ermunterung jener Senioren, die unter prekären materiellen Lebensbedingungen zu leiden haben. Mit ansprechend ausgearbeiteten Informationsangeboten, Schulungen und niederschwelligen Beteiligungsangeboten müssen jene Senioren an die Politik herangeführt werden, die sich bislang vernachlässigt und ausgegrenzt sehen."
Forderung nach einer radikalen Gleichheitspolitik
Eine "Aufwärtsspirale": Wer sich engagiert und dabei die Erfahrung macht, etwas bewirken zu können, dessen Selbstwertgefühl steigt. Die positiven Auswirkungen auf die Gesundheit wurden in Studien vielfach nachgewiesen.
"In der Republik Irland ist in diesem Zusammenhang im Jahr 2015 eine interessante Gesetzesnovelle, der so genannte "Assisted Decision-Making Capacity Act" verabschiedet worden. Er hebt die Rechte älterer Menschen und insbesondere ihr Recht auf Selbstbestimmung hervor und schafft konkrete Regeln, mit denen vor allem geistig beeinträchtigte Personen ihre politischen Rechte wahrnehmen können – nämlich dank einer präzise definierten Assistenz durch geschultes Personal. Das Motto dieses ermutigenden Teilhabegesetzes für gesunde wie für ‚verletzliche‘ Senioren lautet: ‚Nothing about you, nothing without you‘ – ‚Nichts über dich hinweg, nichts ohne dich‘".
Ayten Dogan von der SPD fordert die aktive Unterstützung von Kandidaten mit Migrationshintergrund in allen Parteien.
Einstieg in die Politik - Wo ist die Tür für Migranten?
Der Anteil von Menschen mit Migrationsgeschichte in der Politik ist besonders gering. Viele Migranten bleiben auch nur kurz. Zu den Gründen gehört – neben klassischer Diskriminierung –, dass Themen und Habitus nicht passen. Für einen Einstieg Richtung Landtag oder Bundestag braucht es Unterstützung durch "Gatekeeper".
Das Prinzip der Solidarität steht für Richter an oberster Stelle. Dabei lehnt er sich mit einzelnen Forderungen weit aus dem Fenster. Etwa wenn er für eine "staatlich verordnete Vermögensumverteilung" argumentiert, bis hin zu einer "konfiskatorischen Erbschaftssteuer", die private Vererbung durch "Beschlagnahmung" einschränkt. Es sind dies allerdings nur kleine linksutopistische Eskapaden im Rahmen einer insgesamt ausbalancierten Argumentation.
"Nur unter der Voraussetzung einer entschlossenen Gleichheitspolitik, die sich der Verbesserung der sozialen Lage unter den schlecht versorgten Rentnern widmet, kann die Überalterung zu einem demokratischen Gewinn führen. Die öffentlichen Diskussionen um eine ‚Grundsicherung‘ im Alter, eine staatliche Zusatzversorgung zum Ausgleich einer mangelnden Rentenversorgung, zeigen jedenfalls die einzuschlagende Richtung auf."
Jugendkult und Konsumzwang setzen Ältere unter Druck
Emanuel Richter, Jahrgang 1953, gehört der Generation an, über die er schreibt. Er lehrt Politologie an der RWTH Aachen und tritt regelmäßig als Experte im Nachrichtensender Phoenix in Erscheinung. Hinter dem wissenschaftlichen Duktus seines Buches – Achtung: spröde Sprache! – tritt seine sozialdemokratische Grundhaltung deutlich hervor. Um seine politischen Forderungen herzuleiten, unternimmt Richter im ersten Teil seines Buches spannende Exkurse, etwa zu den Altersbildern in Vergangenheit und Gegenwart.
"Mal verfällt man in eine Altersmelancholie, die nur die Hinfälligkeit und die Einbußen an Lebensqualität vor Augen hat; mal strahlt man eine naive Zuversicht aus, die das Alter als glänzende Errungenschaft betrachtet und die gewachsene Lebenserfahrung preist."
Für Richter überwiegt der zweite Aspekt, frei von naiver Verklärung. Allerdings dürften lebenserfahrene Senioren heute eigentlich keine Senioren mehr sein: Im "Sog einer neoliberalen Dynamik" seien ältere Menschen gezwungen, das Altern hartnäckig zu verleugnen. Jugendkult und Konsumzwang sind die Stichworte. Eine weitere Gefahr sieht Richter in der Ausdehnung der Lebensarbeitszeit. Dieser Trend könnte die Ruheständler künftig ihrer Freiräume für politische Betätigung berauben.
Richters Analyse trifft im Grundsatz auf alle Teile der Gesellschaft zu. Eine wichtige Botschaft lässt er dabei außen vor: Wer sämtliche sozialen Gruppen im Rentenalter aktiv einbinden möchte, sollte nicht nur am Ende der Kausalkette ansetzen, sondern auch am Anfang. Hier schließt sich der Kreis zur Bildungs- und Migrationspolitik. An welchem Punkt der dringendste Handlungsbedarf besteht, müssen Politiker und letztlich wir alle mit Blick auf endliche Ressourcen immer wieder neu bewerten.
Emanuel Richter: Seniorendemokratie. Die Überalterung der Gesellschaft und ihre Folgen für die Politik,
Suhrkamp, 261 Seiten, 20,00 Euro.