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Empirische Wahlforschung
Was Wähler vom politischen System der EU halten

Europa hat keineswegs geschlossen auf die Corona-Pandemie reagiert. Nationale Alleingänge und Grenzschließungen haben das nur im Ansatz gezeigt. Welche Auswirkungen aber könnte eine solche Krise auf das Wählerverhalten und die Einstellung zu Europa haben?

Von Matthias Hennies | 27.08.2020
Rote Punkte zeigen auf einer digitalen Karte die Ausbruchszentren von COVID-19 in Europa an.
Ist mehr oder weniger Zusammenhalt durch die Coronakrise in Europa entstanden? (Unsplash / Clay Banks)
Zu Europawahlen gehen die Bürger der EU seit 1979. Anfangs warfen rund 62 Prozent einen Wahlzettel in die Urne, doch mit Beginn des neuen Jahrtausends sank das Interesse deutlich. Eine Trendwende setzte etwa ab 2009 ein: Von gut 40 Prozent kletterte die Beteiligung wieder auf über 50 Prozent.
Die Statistik zeigt die Höhe der Wahlbeteiligung bei den Europawahlen in den Jahren von 1979 bis 2019. Im Jahr 2019 lag die Wahlbeteiligung bei den Europawahlen bei 50,62 Prozent.
Die Statistik zeigt die Höhe der Wahlbeteiligung bei den Europawahlen in den Jahren von 1979 bis 2019. (Statista / EU)
Auslöser waren ausgerechnet die großen Krisen, meint Professor Stefan Vogenauer, Chef des Max-Planck-Instituts für Europäische Rechtsgeschichte in Frankfurt am Main: "Krisen in der EU wurden als nationale oder globale Krisen wahrgenommen und Krisen, die nur die EU betrafen, waren eigentlich Thema politikwissenschaftlicher Diskussionen in der FAZ. Was wir aber jetzt seit der Euro-Krise und der Migrationskrise sehen, also seit 2009, ist, weil wir so starken Integrationsfortschritt haben und weil so viele Dinge in Griechenland oder in Italien auch uns betreffen, dass die Krisen der EU im Wählerverhalten eine unmittelbare Auswirkung haben."
Starke Befürworter und radikale Gegner
Die Wahlbeteiligung wurde aber auch von einem weiteren Faktor beeinflusst: dem zunehmenden Streit über die EU, der hochemotionalen Konfrontation zwischen Pro-Europäern und Europa-Skeptikern, so Thomas König von der Universität Mannheim: "Die wird dadurch bestimmt, dass man tatsächlich das andere Lager nicht mehr als Konkurrenz wahrnimmt, sondern gewissermaßen hasst. Das finden wir tatsächlich, dass es auch innerhalb des Europäischen Parlaments eine Lagerbildung gibt zwischen starken Befürwortern, die faktisch verschmelzen und kaum noch Unterschiede aufweisen und auf der anderen Seite eben radikale Gegner, die das Antilager bilden. Was wir darüber hinaus über die Zeit festgestellt haben, ist, dass diese Lagerbildung schon in den 90ern punktuell zu beobachten war und dass die Bürger dann sich erst damit identifizierten seit der Finanzkrise 2007/2008, die hat also einen Bruch innerhalb der Wählerschaft ausgelöst."
Zustimmung zum Regierungssystem der EU
Professor König betreibt empirische Wahlforschung. Mit seinem Team hat er zuletzt 1000 Bürger in 13 Mitgliedsländern zur EU befragt. Überrascht hat die Forscher, wie positiv sich eine breite Mehrheit zum politischen System der Union äußerte, egal ob die Befragten aus Ost- oder West-, Nord- oder Süd-Europa, aus reichen oder armen Ländern kamen: "Es gibt doch eine ziemlich hohe Unterstützung dafür, wie die europäische Politik funktioniert, zum Beispiel dafür, dass Rat und Parlament gemeinsam entscheiden. Dann wollen sie, dass mehrheitlich entschieden wird - auch nicht unbedingt nachvollziehbar, wenn man bedenkt, dass es ja immer mehr um nationale Souveränität mancherorts geht – dann würde man doch eher für Einstimmigkeit plädieren. Wir hätten erwartet, dass in Polen und Ungarn mehr Einstimmigkeit vorherrschen würde."
Schließlich ist die Souveränität eines Landes besser gewahrt, wenn es nicht von einer Mehrheit überstimmt werden kann. Die skeptische Haltung der Regierungen in Polen und Ungarn gegenüber der EU wirkte sich aber auf die Bewertung des Europäischen Gerichtshofs aus: Die Bürger dieser Länder wünschen, dass die nationalen Gerichte in Streitfragen das letzte Wort haben sollen. Die Mehrheit der Befragten dagegen möchte die letzte Entscheidung dem EuGH überlassen.
Manfred Weber (CSU), Fraktionsvorsitzender der Europäischen Volkspartei (EVP) im Europaparlament in Brüssel. 
Weber: "Wir müssen Zukunft schaffen für die junge Generation"
Der Vorsitzende der EVP-Fraktion im Europaparlament mahnt bei den geplanten EU-Hilfsgeldern eine sinnvolle Verwendung der Gelder annt. Das Geld müsse vor allem in Zukunftsprojekte fließen.
Kein Demokratie-Defizit?
Das Europäische Parlament würden die Bürger gern stärken: Es soll das Recht erhalten, Gesetzesvorschläge einzubringen. Dieses "Initiativrecht" ist bisher allein der EU-Kommission vorbehalten. Grundsätzlich sehen die Bürger aber kein Demokratie-Defizit im politischen Aufbau der Gemeinschaft. Eine Ursache könnte sein, meint David Hilpert, Doktorand in Thomas Königs Team: "Dass viele Wähler kein klares Bild haben vom exakten institutionellen Aufbau der EU – wenn es jetzt darum geht, wie sich die einzelnen Institutionen zusammensetzen und wo jetzt die Regierungen der Mitgliedsstaaten einen unmittelbaren Einfluss haben."
Dazu passt ein Ergebnis aus Hilperts jüngster Umfrage: Er wollte wissen, welche Faktoren die Einstellung der Bürger zu Europa bestimmen und stellte fest: Weitaus wichtiger als Alter oder Geschlecht, Nationalität oder Einkommen ist die Haltung der Partei in ihrem Heimatland, mit der sie sich am stärksten identifizieren.
"Wir reden da circa von einem Faktor Drei, also im Großen und Ganzen sehen wir, dass die Partei-Identifikation den weit größten Unterschied ausmacht" – und auch darüber entscheidet, ob man sich zum Lager der EU-Befürworter oder der Skeptiker zählt.
Viele Wissenschaftler sehen ein Risiko darin, dass die nationale Politik die Europawahlen dominiert anstelle europäischer Themen. Thomas König warnt: Weil die Wahlgebiete nach Ländern zugeschnitten sind, könnte sich dadurch der Graben zwischen den beiden Lagern weiter vertiefen.
"Von daher wäre es mal angebracht, nachzudenken, wie man das Wahlsystem verändern kann, auch europäisieren kann, so dass eben nicht – und das haben wir in Deutschland bei der Vereinigung auch gemacht – nicht ein Wahlgebiet Ost entsteht und ein Wahlgebiet West entsteht, sondern dass man ein Wahlsystem hat, wo die europäische Partei mit einem europäischen Kandidaten und einem europäischen Programm Stimmen hat."