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"Endlich frei! Endlich frei!"

"Die Ungarn haben den ersten Stein aus der Mauer gelöst", sagt Horst Teltschik über deren Ermöglichung der Flucht für viele DDR-Bürger im August 1989 - für Menschen also, die nur eines im Sinn hatten: Freiheit.

    Jochen Spengler: Heute vor 20 Jahren fand an der ungarisch-österreichischen Grenze das "Paneuropäische Picknick "statt. Am 19. August 1989 öffnete sich kurz ein kleines Tor im eisernen Vorhang. Per Mundpropaganda und durch Flugblätter hatten viele DDR-Bürger in Budapest mitbekommen, dass es an diesem Tag eine Gelegenheit zur Flucht geben könnte. Viele machten sich auf den Weg an die Grenze bei Sopron. Hunderten gelang es dann, tatsächlich nach Österreich zu kommen.
    Der Bundesregierung in Bonn zeigte das einerseits, was auf einmal möglich war; andererseits kam es darauf an, angemessen zu reagieren. Schon einige Tage später reisten der ungarische Regierungschef Nemeth und Außenminister Horn zu einem geheimen Treffen nach Deutschland.
    Horst Teltschik war 1989 stellvertretender Leiter des Bundeskanzleramts. Mit ihm hat mein Kollege Gerwald Herter über das "Paneuropäische Picknick" und die Wiedervereinigung gesprochen.

    Gerwald Herter: Herr Teltschik, dass Sie als enger Mitarbeiter des früheren Kanzlers Helmut Kohl immer daran glaubten, dass die Wiedervereinigung kommen würde, liegt auf der Hand. Aber wann im Jahr 1989 oder im Sommer 1989 wussten Sie, dass die Wiedervereinigung möglich war?

    Horst Teltschik: Ich habe diese Veränderungen praktisch persönlich vor Ort miterleben können in zahllosen Gesprächen, sodass ich schon im Juli mal in einem Interview im Bonner "Generalanzeiger" gesagt habe, die deutsche Frage steht wieder auf der Tagesordnung der internationalen Politik. Das Ergebnis war, dass ich von der SPD und von der FDP zur Entlassung aufgefordert worden bin, weil es keiner wahr haben wollte.

    Herter: Die schwierige Frage ist die nach dem entscheidenden Faktor. Gorbatschow würde sagen, an ihm hat es gelegen; Kohl würde sagen, an seiner klugen Politik hat es gelegen; die Ungarn würden sagen, sie haben den Vorhang aufgemacht und deswegen konnte alles funktionieren. Wie bewerten Sie das?

    Teltschik: Ich bewerte das so, dass alle Entwicklungen zusammengewirkt haben und zusammenwirken mussten. Ohne Präsident Gorbatschows Politik der Perestrojka und Glasnost wäre dieser Prozess nicht in Gang gekommen, aber die Polen sagen zurecht, wir waren die ersten mit der Solidarnosc-Bewegung. Helmut Kohl hat im Dezember 1989 im ungarischen Parlament zu recht gesagt, die Ungarn haben den ersten Stein aus der Mauer gelöst, weil sie die Grenze geöffnet haben für die DDR-Flüchtlinge. Wir haben ja im Jahr 1989 rund 120.000 DDR-Flüchtlinge über Ungarn und die Tschechoslowakei gehabt. Also diese ganzen Prozesse gehören zusammen, aber am Ende würde ich schon sagen, der Hauptverdienst gehört Michail Gorbatschow.

    Herter: Kommen wir zum "Paneuropäischen Picknick", das eben am 19. August 1989 stattfand. Können Sie sich noch erinnern, was Sie empfunden haben, als Sie diese Bilder gesehen haben?

    Teltschik: Das Faszinierendste war immer die gleichbleibende Aussage der DDR-Bürger im Fernsehen. Wenn sie von westlichen Journalisten gefragt wurden, kam im Prinzip immer nur die gleiche Aussage: endlich frei! – Endlich frei! – Ich wünsche mir bis heute, dass unsere Bürger in den neuen Bundesländern sich daran erinnern, dass das wesentliche Ziel nicht ein materielles war, sondern der Wunsch nach Freiheit. Das stand damals bei diesen Flüchtlingen absolut im Vordergrund und das scheinen manche vergessen zu haben.

    Herter: Wenn wir schon bei den materiellen Dingen sind, Sie haben es angesprochen: Die ungarische Regierung wollte unterstützt werden. Es gab wenige Tage nach dem "Paneuropäischen Picknick" ein Geheimtreffen mit dem Außenminister Horn und dem Ministerpräsidenten Nemeth. Auf Schloss Gymnich fand das Ganze statt und da haben die Ungarn klar gesagt, dass sie einen Kredit brauchen, oder?

    Teltschik: Das begann ja schon viel früher. Das begann schon Mitte der 80er-Jahre. In Gymnich, August 1989, ging es vor allem darum, dass Nemeth und Horn von sich aus erklärt haben, sie werden die Grenze für die DDR-Flüchtlinge jetzt endgültig öffnen, und die große Sorge beider war, dass vor allem Russland mit dem Stopp der Energielieferungen antworten könnte. Und die Frage war, wäre Deutschland bereit, gegebenenfalls die Energieversorgung aufrechtzuerhalten beziehungsweise Ungarn weiterhin wirtschaftlich, finanziell, politisch zu unterstützen. Und es war völlig klar für Helmut Kohl und auch Hans-Dietrich Genscher, hier zu sagen, ihr könnt euch auf uns verlassen.

    Herter: Was wäre denn passiert, wenn da in Ungarn der Eiserne Vorhang nicht aufgegangen wäre? Hätte es dann ein anderes Land gegeben, oder hätte man verhandeln müssen und hätte sich die Sache ein bisschen verzögert?

    Teltschik: Der Prozess hätte sich vielleicht etwas verzögert, aber der Druck im Kessel ist ja von Tag zu Tag gestiegen. Sie hatten ja Zehntausende von DDR-Flüchtlingen in Ungarn. Das entwickelte sich in Richtung von Größenordnungen, die für ein kleines Land wie Ungarn letztlich wirtschaftlich unerträglich wurden. Wenn sie Nemeth und Horn damals erlebt haben, die wussten: Es gibt keine Alternative.

    Herter: Das wussten andere nicht. Die DDR-Führung hat damals natürlich auch von sich reden gemacht. Honecker hat dieses "Paneuropäische Picknick" kommentiert und gesagt, die seien da rübergezwungen worden über die Grenze. Da muss sich doch der Eindruck verdichtet haben, dass Honecker in einem Stadium war, dass er die Dinge wirklich nicht mehr in der Hand hatte.

    Teltschik: Das ist ja der gesamte Eindruck im Jahr 1989, dass sie es mit der SED mit einem Politbüro zu tun hatten, das zu großen Teilen überaltert war, zum Teil Honecker selbst senil war. Er war nicht mehr in der Lage, den Ernst der Lage in seinem eigenen Land einzuschätzen, geschweige die Entwicklung im Warschauer Pakt zu erkennen. Er war auch völlig uneinsichtig.

    Herter: Im Nachhinein betrachtet hätte man natürlich früher wissen können, dass die DDR wirtschaftlich am Ende war. Der Bundesnachrichtendienst hat sich immer um die Lage in der DDR gekümmert. Wirtschaftliche Aufklärung gehörte zu einer der Kernaufgaben. Warum wussten Sie nicht früher Bescheid, dass die DDR pleite war?

    Teltschik: Ja, das ist eine sehr gute Frage. Ich kann nicht bestätigen, was Sie gesagt haben, dass der Bundesnachrichtendienst in der Lage gewesen sei, die wirtschaftliche Lage in der DDR so aufzuklären, dass wir konkret gewusst hätten, wie schlecht die Situation in der DDR tatsächlich war, und das war wirklich eine der größten Schwächen.

    Herter: Herr Teltschik, nach so langer Zeit, 20 Jahre später, kann man auch selbstkritisch sein. Mal abgesehen von dieser Fehleinschätzung, wie Sie sagen aufgrund von mangelnden Informationen, was hätte beim Politmanagement von Bonner Seite aus besser laufen müssen in diesem Jahr 1989?

    Teltschik: 1989 ist aus meiner Sicht alles optimal gelaufen. Die Frage richtet sich eher darauf, was ist nach der Wiedervereinigung bei dem Wiederaufbau der neuen Bundesländer versäumt worden. Darauf muss sich Kritik richten. Aber ich muss Ihnen sagen, das ist im Nachhinein auch leichter als in dem Jahr 1989/90. Von daher kann man sagen okay, im Prinzip ist eigentlich alles friedlich verlaufen, was ganz entscheidend ist. Es hätte ja einer beginnen können zu schießen – seien es die DDR-Sicherheitskräfte, oder seien es russische Soldaten. Von daher kann ich sagen, es ist optimal gelaufen. In dem Aufbau der neuen Bundesländer hätte man wahrscheinlich einiges anders machen müssen, aber das ist im Nachhinein auch leichter gesagt, als es damals war.

    Spengler: Horst Teltschik, vor 20 Jahren Berater von Helmut Kohl, im Gespräch mit meinem Kollegen Gerwald Herter.