Dienstag, 23. April 2024

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Endlich mal erklärt
Darf man Schriftstellern kulturelle Aneignung vorwerfen?

Das Leben schreibt die besten Geschichten. Doch wenn Autorinnen und Autoren nur aus ihrem eigenen Erfahrungsfundus schöpfen dürften, wäre die Literatur um viele Geschichten ärmer. Fiktion bedeutet schließlich, sich in andere Köpfe, unbekannte Kulturen und fremde Lebenswelten zu versetzen.

Von Maike Albath | 03.07.2020
Zeitgenössische Zeichnung des französischen Dichters. Flaubert wurde am 12. Dezember 1821 in Rouen geboren und starb am 8. Mai 1880 in Croisset bei Rouen. Seinen literarischen Durchbruch erlangte er mit dem Roman "Madame Bovary" (1857).
"Madame Bovary, das bin ich!" - Gustave Flaubert fühlte sich in die Rolle seiner Protagonistin ein (dpa / picture alliance / Kultur)
Anfang 2020 gingen Latinos streng ins Gericht mit der US-amerikanischen Schriftstellerin Jeanine Cummins, Enkelin einer puerto-ricanischen Großmutter: Sie schlage in ihrem Roman "American Dirt" Profit aus der Lage an der mexikanischen Grenze, schlachte das Schicksal von Flüchtlingen aus, bediene sich aus dem Fundus fremder Erfahrungen und dürfe sich als jemand, der die Sache nur von außen betrachte, ohnehin nicht dazu äußern. Eine dreiste Form von Geschichten-Klau.
Das Wesen von Literatur
Berechtigte Vorwürfe? Nein, denn damit verkennen die Kritiker das Wesen von Literatur. Fiktion bedeutet ja gerade, sich in eine fremde Psyche, ein anderes Geschlecht, ein anderes Lebensalter und in andere kulturelle Zusammenhänge hinein zu versetzen. Darin besteht nun mal die Eigenart des schöpferischen Schaffens. "Madame Bovary, c’est moi", lautet das berühmte Bekenntnis von Gustave Flaubert. Und wenn man es weiterdenkt, dann dürften Frauen nicht mehr über männliche Helden, niemand mehr über Kinder und schon gar nicht über Tiere schreiben. Historische Stoffe wären auch tabu, schließlich hat man damals noch nicht gelebt.
Auf einem aufgeschlagenen Kunstlexikon liegt eine Brille
Spezialwissen der Kultur - Endlich mal erklärt Postdramatik? Dystopie? Keine Ahnung. Jede Kulturszene pflegt ihre Fachausdrücke, weil sie griffig sind und zutreffend. Wir erklären endlich mal die Begriffe der Spezialsprachen und antworten auf Fragen, die man sich vielleicht nicht zu stellen traut. Denn Arroganz war gestern.
Keine "Maria Stuart", kein "Tom Sawyer", keine "Alice im Wunderland", kein Mr. Darcy in Jane Austens Roman "Stolz und Vorurteil", kein Giovanni in "Giovannis Zimmer" - denn James Baldwin war schwarz, schrieb aber in diesem Roman nur über Weiße. Für die Beurteilung von Romanen dürfen einzig und allein literarische Kriterien gelten. Auch Jeanine Cummins Roman hätte man mit der Frage nach dem Umgang mit dem Stoff, dem Hinweis auf klischierte Figuren, formalen Einwänden und einer Analyse der geschickten Marketingstrategie sehr viel wirkungsvoller beikommen können.
Analyse versus Moral
Man kann schärfste Kritik üben und einer Schriftstellerin auch impliziten Rassismus vorwerfen, wenn man dafür Belege anführt – die Grundlage dafür muss eine fundierte Analyse sein, nicht ein moralischer Einwand. Wer darauf besteht, dass nur Betroffene erzählen dürfen, missachtet, was Fiktion im Kern ausmacht und stellt die universalistischen Grundlagen unserer Kultur insgesamt in Frage. Dann verrammelt sich jeder in seiner eigenen, partikularen Identität und ein Austausch mit anderen wäre gar nicht mehr möglich. Schließlich lesen wir, um uns in ganz und gar fremde Gefühls- und Lebenswelten hineinzuversetzen.