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Endlich mal erklärt
Warum spielen so viele Frauen Männerrollen?

Bis ins 17. Jahrhundert blieb der Beruf des Schauspielers hauptsächlich Männern vorbehalten. Als dann in England ab 1660 in Shakespeares Stücken die ersten Frauen auf der Bühne standen, war das eine Sensation - und der Weg hin zu Frauen in "Hosenrollen" nicht mehr weit.

Von Barbara Behrendt | 02.05.2020
Undatierte Aufnahme der Schauspielerin Marlene Dietrich, gekleidet in einem Frack und mit Zylinder auf dem Kopf
Zeigte sich gern im Frack und Zylinder: Die Schauspielerin Marlene Dietrich in Herrenkleidung (imago / United Archives)
Keine Figur ist dabei durch die Jahrhunderte hinweg häufiger von einer Frau gespielt worden als Shakespeares "Hamlet". Vor allem im 19. Jahrhundert zur Zeit des Romantizismus. Das hatte auch mit der Interpretation zu tun, Hamlet wohne mit seiner Feinsinnigkeit, Zauderhaftigkeit, Gefühlsbetontheit eigentlich eine weibliche Seele inne.
Eine Frau als Hamlet
Doch der Eindruck, dass heute ungewöhnlich viele Männerrollen mit Frauen besetzt werden, täuscht keineswegs. In den vergangenen Jahrzehnten hat diese Praxis wieder zugenommen. Gar nicht en vogue sind solche geschlechter-indifferenten Besetzungen in Zeiten von Naturalismus oder in politischen Systemen, die ein geschlossenes, stereotypes Geschlechterbild propagieren. Ende des 19. Jahrhunderts, als man sich der naturalistischen Darstellung verpflichtet fühlte, mochte die Kritik Adele Sandrocks Wiener 'Hamlet' überhaupt nicht. Empört war man auch im faschistischen Spanien, als Nuria Espert in den 1960er Jahren als erste Frau Spaniens den Hamlet gab.
Auf einem aufgeschlagenen Kunstlexikon liegt eine Brille
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Es hat also weniger mit Theatermoden zu tun als mit gesellschaftlichen Veränderungen, wenn heute wieder mehr Frauen entgegen ihrem Geschlecht oder unabhängig davon besetzt werden. Es ist ein Zeichen der Emanzipation – zunächst einmal aus strukturellen Gründen. Fast alle Ensembles sind heute immer noch zu zwei Dritteln mit Männern besetzt, denn im klassischen Drama gibt es deutlich mehr Männer als Frauenrollen. Warum? Weil diese Dramen über die Jahrhunderte von Männern geschrieben wurden. Das heißt: Möchte ein Theater auf mehr Gleichberechtigung setzen und engagiert mehr Schauspielerinnen, passiert es leicht aus praktischen Gründen, eine Frau als Mann zu besetzen – eine Übergangsphase, bis neue Stücke mit mehr Frauenrollen auf den Spielplänen stehen.
Die meisten Hauptfiguren sind Männer
Noch dazu sind die Frauenfiguren der klassischen Dramen oft einseitig angelegt: ‚Das Käthchen von Heilbronn‘, ‚Hamlets Ophelia‘, Othellos ‚Frau Desdemona‘ – Inbegriffe der liebenden, sich verzehrenden Frau, die am Ende für oder durch ihren Geliebten stirbt. Andererseits sind da auch ‚Medea‘, ‚Penthesilea‘ oder die Eheschlachten von Edward Albee. Doch die meisten Haupt- und Heldenfiguren bleiben Männer.
Die Besetzungen sind jedoch nicht immer nur "Verlegenheitsentscheidungen" aus Mangel an guten Frauenrollen.(*) Schließlich geben die Frauen in Männerrollen fast nie vor, Männer zu sein. Entweder das Geschlecht wird auf der Bühne kaum thematisiert: Sandra Hüller als 'Hamlet' kann als Mann oder als Frau in einer lesbischen Liebe mit Ophelia gelesen werden; Stefanie Reinsperger kann am Berliner Ensemble 'Baal' sein und zugleich eine temperamentvolle Blondine. Das ist keine Travestie, sondern eine Durchlässigkeit von Geschlechterzuschreibungen. Oder aber die Figur wird klar als weiblich uminterpretiert. Mit Ibsens Volksfeind erlebte man das zuletzt häufiger – aus dem Badearzt Stockmann wurde eine Badeärztin mit häuslichem Ehemann.
So können Geschlechterklischees durchaus einmal durchbrochen werden. Man sollte diese Umbesetzungen allerdings nicht überbewerten. Über sie lässt sich oberflächlich rasch eine politische Aktualität behaupten, die inhaltlich dann nicht immer eingelöst wird. Besteht die einzige Inszenierungsidee darin, eine Frau den 'Hamlet' spielen zu lassen, bleibt der Abend flach. Mitunter kann auch der ganze Abend ins Ungleichgewicht geraten, weil das Stück durch die Umbesetzung ein modernes Heute zeigt, ohne die politischen Gegebenheiten der Entstehungszeit mit zu übersetzen.
(*) Formulierung präzisiert