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Endlich mal erklärt
Warum werden mehr Romane als Theaterstücke inszeniert?

Viele Theaterspielpläne lesen sich wie die Titel in der Klassiker-Abteilung der Buchhandlung: Kafka, Tolstoi, Dostojewski. Solche Adaptionen haben eine lange Tradition. Aber sie gelingen nur, wenn die Romane mit ihren Bildern und ihrer Atmosphäre für das Theater sinnlich übersetzt werden.

Von Barbara Behrendt | 31.07.2020
Abak Safaei-Rad, Lea Draeger, Hanh Mai Thi Tran in Anna Karenina oder Arme Leute NACH Lew Tolstoi UND Fjodor Dostojewski IN EINER FASSUNG VON Oliver Frljić UND Ludwig Haugk REGIE Oliver Frljić BÜHNE Igor Pauška KOSTÜME Sandra Dekanić LIVEMUSIK Daniel Regenberg DRAMATURGIE Johannes Kirsten
Die Romane Lew Tolstois werden heute noch gerne als Theaterstück inszeniert - wie hier als "Anna Karenina oder Arme Leute" am Gorki Theater in Berlin (Ute Langkafel Maifoto / Gorki Theater Berlin)
Die Adaption von epischen Stoffen ist so alt wie das Theater selbst. Schon in der Antike haben Aischylos, Euripides und Sophokles Dramen geschrieben, die auf die Erzählungen Homers zurückgehen. Auch Shakespeare hat epische Texte als Grundlage für seine Königsdramen benutzt. Sie alle haben die Geschichten jedoch als Quelle, als Anregung für ein ganz eigenständiges Kunstwerk genutzt. Dramaturgie, Sprache, Figuren sind darin individuelle Interpretationen.
Für die Bühne passend gemacht
Das heutige Dramatisieren von Romanen bedeutet dagegen meist ein reines "Passendmachen" für die Bühne. Der Autor der Bühnenfassung steht zurecht im Hintergrund – geworben wird mit dem Namen des Romanautors, dessen Werk oft zu einem praktikablen Zwei- bis Dreistünder schrumpft. Reader’s-Digest-Verfahren nennt man das, wenn nur das Handlungsskelett und die Höhe- und Wendepunkte übrig bleiben. Diese Art des Anpassens eines epischen Stoffes hat in den letzten rund 15 Jahren deutlich zugenommen.
Romanadaptionen können nur gelingen, wenn die Bühnenfassung nicht ins reine Nacherzählen verfällt. Die Kunst liegt darin, die Atmosphäre, die Bilder, Töne, Gerüche sinnlich fürs Theater zu übersetzen. Regisseure wie Sebastian Hartmann und Frank Castorf können das oft meisterhaft.
Auf einem aufgeschlagenen Kunstlexikon liegt eine Brille
Spezialwissen der Kultur - Endlich mal erklärt Postdramatik? Dystopie? Keine Ahnung. Jede Kulturszene pflegt ihre Fachausdrücke, weil sie griffig sind. Wir erklären endlich mal die Begriffe der Spezialsprachen und antworten auf Fragen, die man sich vielleicht nicht zu stellen traut. Denn Arroganz war gestern.
Doch was ist der Reiz der Romanadaption? Wollen die Theater schlicht auf den Erfolg des Buchs aufspringen? In Zeiten der sinkenden Zuschauerzahlen und des Legitimationsdrucks, unter dem die Theater stehen, ist das durchaus eine Motivation. Doch die Konjunktur der Romanapation hängt auch mit der inneren Entwicklung des Theaters zusammen, auf zwei verschiedene Arten:
Romane bieten mehr Freiheiten als ein Stück
Zum einen lassen Romane Regisseuren deutlich mehr Freiheit als ein Theaterstück – nicht zufällig inszeniert ein postdramatischer Regisseur wie Frank Castorf seit Jahrzehnten Dostojewski: Dessen Romane kann er nach Belieben ausschlachten, er kann hinzufügen, weglassen, ohne Figuren arbeiten, fünf Schauspielerinnen eine Figur spielen lassen – ganz wie er will. Das passt zu einem Theater wie dem deutschen, in dem der Regisseur den Ton angibt, nicht der Autor – und in dem es im Geist der Postdramatik keine stringente Handlung und lediglich Figurensplitter gibt.
Zum Anderen sehnt sich das Publikum, gerade wegen dieser postdramatischen Entwicklung, nach großen Stoffen, vielschichtigen Figuren, wie sie in den Klassikern der Weltliteratur zu finden sind. Mit dem Versprechen, in diese monumentalen Werke einzutauchen, lockt das Theater sein Publikum.
Neue Stücke schreiben zu lassen? Zu teuer
Warum man nicht einfach Theaterautoren neue Stücke schreiben lässt, statt Romane mehr schlecht als recht zu adaptieren, bleibt eine große Frage. Viele Regisseure würden antworten: Weil es kaum mehr große Theaterautoren und vielschichtige neue Stücke gibt. Hier beißt sich die Katze in den Schwanz: Diese wichtigen Stücke gibt es deshalb nur noch selten, weil Dramatiker und Dramatikerinnen an den Bühnen keinen großen Stellenwert mehr haben – sie sind schlecht bezahlte und wenig geachtete Dienstleister, vor deren Arbeit Regisseure oft wenig Respekt zeigen.