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Endlich mal erklärt
Was wird gespielt im Theater ohne Publikum?

Seit mehr als einem Jahr sind die Bühnen wegen Corona fast durchgehend geschlossen. Ein „Theater ohne Publikum“ gab es aber schon lange vor dem Beginn der Covid-19 Pandemie, allerdings war etwas völlig anderes damit gemeint. „Worum geht es im "Theater ohne Publikum?“

Von Eberhard Spreng | 08.05.2021
Eine farbmonochrome Aufnahme mehrerer Stuhlreihen von Nebel umgeben.
Was ist das Theater ohne Publikum? (Unsplash / Alex Avalos)
Das Theater ohne Publikum ist so etwas wie ein Gespenst im Schauspiel des 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts. Bertolt Brecht trieb einst die Idee um, aus dem klassischen Theater mit dem passiven Publikum einen Raum für kollektive Erfahrungen zu machen, die Trennung von Kunstproduktion und Kunstrezeption zu überwinden und die Unterscheidung von Publikum und Bühne aufzulösen. Seine Lehrstücke, entstanden in der Zusammenarbeit mit den Komponisten Weill, Hindemith und Eisler, sollten mit bewusst einfacher Dramaturgie von Laien dargestellt werden. Im Akt der Beteiligung sollten sie quasi am eignen Leib gesellschaftlich relevante Erfahrungen machen. Dabei waren auch innerhalb des Konzeptes Improvisation durchaus erwünscht.
Auf einem aufgeschlagenen Kunstlexikon liegt eine Brille
Spezialwissen der Kultur - Endlich mal erklärt
Postdramatik? Nie gehört. Dystopie? Keine Ahnung. Jede Kulturszene pflegt ihre Fachausdrücke, weil sie griffig sind und zutreffend. Wir erklären endlich mal die Begriffe der Spezialsprachen und antworten auf Fragen, die man sich vielleicht nicht zu stellen traut. Denn Arroganz war gestern.
So entstanden zwischen 1929 und 1934 Schulopern. Lehrstücke wie der "Ja-Sager", der "Nein-Sager", "Die Maßnahme", "Die Ausnahme und die Regel" gehörten zu Brechts Theaterexperimenten. Konflikte zwischen Individuum und Gemeinschaft machte er immer wieder zum Thema. Im relativ neuen Medium Hörfunk sollten die Zuhörerinnen und Zuhörer den Part des Chores übernehmen, indem sie dessen Passagen daheim am Apparat mitsingen. Brecht ging es im Theater um Neuerungen, nicht um Erneuerungen. Sein Vorhaben blieben Experimente, die Zeiten änderten sich.

Theater als kollektiver Erfahrungsraum

Im Verlauf der 1960er-Jahre nahm der Theatertheoretiker Andrzej Tadeusz Wirth, der in Europa nur knapp der Verfolgung durch Hitler und Stalin entkommen war, Brechts Idee wieder auf und formulierte sie um. Er sah in Brechts Lehrstücken die Verbindung von zwei utopischen Entwürfen. Zum einen dem einer veränderbaren Gesellschaft, zum andern dem eines Metatheaters, in dem Spielen und Zuschauen zwei Seiten des theatralen Agierens sind. Ein kollektiver Erfahrungsraum, wo Performer gleichzeitig Handelnde und Zuschauende sind. Maßgeblich bei Wirth ist nun nicht mehr der lenkende Blick der Regie, sondern die Gruppendynamik der Beteiligten. 1982 gründete der Theatermeister in Gießen das berühmt gewordene Institut für angewandte Theaterwissenschaft, Abgekürzt: ATW, anagrammatisch angelehnt an die Initialen des Meisters Andrzej Tadeusz Wirth.
Aus Theater wird nun seit den 1990er-Jahren Performance. Zahlreiche Gruppen wie She She Pop, Gob Squad und Rimini-Protokoll und Einzelkünstler wie René Pollesch und Hans-Werner Kroesinger sind Absolventen in Gießen und waren Schüler eines Meisters, dem allerdings alles ferner lag, als aus seinen Ideen eine regelrechte Methode oder Schule zu machen. Und doch ist sehr viel von dem, was in den letzten Jahrzehnten auf der performativen Ebene an Immersion, Partizipation und Interaktion geschah, mit Brechts und Wirths "Theater ohne Publikum" verbunden.

Aus dem Zuschauen wird Handeln

Für den Theaterwissenschaftler Hans-Thies Lehmann, bekanntermaßen der Schöpfer des Begriffs "Postdramatisches Theater", ist Brechts Lehrstück die Theorie von einem Theater als "Möglichkeitsraum". Hier hat das "Schau-Spiel" bestenfalls marginale Bedeutung, dagegen tritt die gemeinsame Situation in den Vordergrund der Wahrnehmung. Statt eines fiktiven Themas oder einer fiktiven Handlung wird deren Herstellung erfahrbar. Statt des Bildes wird das Schauen selbst zum Gegenstand der Wahrnehmung. Das klingt vielleicht abstrakt, aber jeder kennt solche Theatersituationen, wenn das Saallicht angeht und das Publikum sich äußern, sich irgendeiner Teilgruppe anschließen soll, bleiben oder ins Foyer gehen soll, seine Position im Raum ändern. Andere Theaterabende sind von vornherein für das bewegliche Publikum gedacht. Natürlich werden dann die anderen Zuschauerinnen und Zuschauer sichtbar, und ohne mindestens ein Lächeln, eine Geste, ein Zeichen der höflichen Verständigung untereinander ist all das undenkbar. Aus dem Zuschauen wird Handeln, aus der Situation wird "Theater ohne Publikum."