Mittwoch, 17. April 2024

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Entlastung bei Pflegekosten
„Die größte Pflegesäule wird außen vorgelassen“

76 Prozent aller Pflegebedürftigen werden zu Hause betreut. Die geplante finanzielle Entlastung für die Pflege im Heim bringt den Angehörigen dieser Pflegebedürftigen also nichts, sagt Susanne Hallermann von der Interessensvertretung „Wir pflegen“ im Dlf. Dabei drohe gerade ihnen der finanzielle Abstieg.

Susanne Hallermann im Gespräch mit Sandra Pfister | 14.08.2019
Eine ältere Frau hält die Hände ihres Mannes, der im Rollstuhl sitzt.
Noch immer werden Pflegebedürftige vor allem zu Hause gepflegt (picture alliance/dpa Themendienst/Mascha Brichta)
Sandra Pfister: Wenn Eltern gebrechlich werden, dann wird das für viele Kinder eine Belastungsprobe. Die, die ihre Eltern selbst pflegen, arbeiten häufig bis zur völligen Erschöpfung. Doch auch die, die pflegen lassen oder die Eltern ins Heim geben, erleben oft eine Zerreißprobe: eine finanzielle. Denn die Pflegekosten gehen vielen Familien an die Substanz. Das soll sich jetzt ändern. Die Regierung hat heute einen Gesetzentwurf eingebracht. Mit dem will sie Kinder weitgehend davon befreien, für die Pflege ihrer Eltern bezahlen zu müssen.
Darüber reden wir jetzt mit Susanne Hallermann von "Wir pflegen", einer bundesweiten Interessenvertretung von Angehörigen von Pflegebedürftigen. Guten Tag, Frau Hallermann!
Susanne Hallermann: Guten Tag, Frau Pfister.
Pfister: Frau Hallermann, Sie haben selbst jahrelang Ihre Oma gepflegt, später kam Ihre Großmutter dann ins Pflegeheim und parallel dazu, haben Sie mir erzählt, auch noch Ihr Vater. Als Tochter aber auch als Enkelin, sind Sie in so einem Fall unterhaltspflichtig. Wenn die Bundesregierung jetzt in Aussicht stellt nur noch diejenigen, die mehr als 100.000 Euro im Jahr verdienen, müssen zum Unterhalt der Pflegebedürftigen beisteuern, hätte Ihnen das geholfen?
Hallermann: Mir in meiner damaligen Situation nicht, weil ich aufgrund meiner Pflegeleistung meinen Beruf erst verkürzen und anschließend aufgeben musste, um der Pflege zuhause gerecht zu werden, weil meine Oma dementiell immer mehr abrutschte und ich bin da ganz ganz schnell in den Hartz IV-Bezug gekommen, also in ALG II. Da ist man dann ausgenommen von den Zuzahlungen.
Pfister: Das heißt, Sie hätten für die Pflege finanziell sowieso nicht gerade stehen können. Nun gibt es eine Menge berufstätige Menschen, die ja für die Pflege der Eltern zahlt. Ist das, was die Bundesregierung jetzt auf den Weg bringt insofern für Sie sinnvoll?
Wer zuhause pflegt, schultert die Hauptlast – und droht abzurutschen
Hallermann: Ja, auf jeden Fall. Das ist ein ganz deutliches, positives, politisches Signal. Mit der Botschaft, das eben die Pflegekosten nicht wie bisher mit hohem Anteil von den Familien geschultert werden müssen, sondern dass es jetzt als gesamtgesellschaftliche Aufgaben gesehen wird, indem man ja die Kommunen mit in die Verantwortung nimmt.
Pfister: Ist 100.000 Einkommen denn für Sie eine vernünftige Grenze oder ist das willkürlich?
Hallermann: Ich glaube nicht, dass es willkürlich ist. Es war ja vorher deutlich geringer und es ist jetzt eben erstmal eine Zahl und es ist ein Aufschlag. Es ist ein kleiner Schritt in die richtige Richtung und es betrifft eben nur den kleinen Teil der pflegenden Angehörigen, die eben ihre Lieben stationär untergebracht haben. Der Großteil der Menschen, die pflegebedürftig sind, mit über 76 Prozent, wird ja nach wie vor zu Hause betreut.
Pfister: Die profitieren von dieser Reform nämlich nicht beziehungsweise ihre Angehörigen profitieren davon nicht.
Hallermann: So ist es. Das sind manchmal Nachbarn, Arbeitskollegen, Freunde, Partner, die sind von dieser Reform Null betroffen. Die größte Pflegesäule, die wir haben in Deutschland, wird hier außen vorgelassen.
Pfister: Was würden Sie sich da wünschen - in dem Bereich für eine Reform?
Hallermann: Ein ganz deutliches, starkes Signal, dass die Menschen, die die Pflege in Deutschland zum Großteil leisten, sozialrechtlich abgesichert sind, dass Sie nicht in den Hartz-IV-Bezug geraten, wie es mir passiert ist, aber auch zig Tausend anderen. Wir haben mit unserer Initiative "Armut durch Pflege" – wir erreichen zigtausend Menschen in ähnlicher Situation, die das Ganze auch berichten und das kann man auch hinterher nicht wiederaufholen: Also ich bin jetzt berufstätig, aber die 20 Jahre, die ich gepflegt habe, die kann ich durch noch so viel Arbeit gar nicht wieder reinholen. Das heißt, ich werde im Alter wahrscheinlich von Grundsicherung leben und das ist diskriminierend für die Menschen, die die Hauptlast der Pflege in Deutschland schultern. Da wünschen wir uns, dass es eine Pflegersatzleistung gibt, eine Lohnersatzleistung und haben dazu auch Positionspapiere erarbeitet.
"Gelder gehören ins familiäre System"
Pfister: Die Kommunen und der Städtetag sagen nun, da werden sich noch mehr Angehörige für ein Heim entscheiden, wenn sie finanziell nicht mehr für die Kosten gerade stehen müssen nach dieser Reform. Glauben Sie, das ist ein stichhaltiges Argument?
Hallermann: Nein, das glaube ich nicht, und da haben die Kommunen auch wirklich jahrelang gepennt. Denn das ist im siebten Altenbericht der Bundesregierung schon festgelegt worden und erarbeitet worden. Wenn man sagt: Pflege ist mir was wert, Pflege ist gesamtgesellschaftliche Aufgabe, sind die Kommunen in der Pflicht. Das wurde damals schon so festgelegt. Und die Kommunen haben auch etwas Entlastung, dadurch dass sie diese ganzen Anträge nicht mehr bearbeiten. Dass jetzt mehr Menschen ins Heim gehen, glaube ich nicht, denn das ist ein kleiner Teil. Also jeder sollte die Wahl haben, möchte ich ins Heim oder möchte ich von meinen Lieben gepflegt werden. Aber der Wunsch ist ja nach wie vor bei über 90 Prozent der Menschen, dass es so lange wie es geht, zuhause möglich ist – und da gehören die Gelder hin. Also wenn man sagt, über 76 Prozent der Menschen werden zuhause gepflegt, dann müsste ich auch über 76 Prozent der Gelder in dieses familiäre System stecken.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.