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Entmystifizierung einer Niederlage

Stalins Reich wurde mit Propaganda-Epen über die ruhmreiche Schlacht der Roten Armee an der Wolga geradezu überschwemmt. 1946 erschien jedoch ein Roman, der dem staatlichen Wunschbild nicht entsprach: Viktor Nekrassovs "Stalingrad" zeigte, dass auch die Sieger Menschen waren. Jetzt wird das Buch in deutscher Sprache wiederveröffentlicht.

Von Klaus Kuntze | 28.01.2013
    1946 fand sich in der renommierten Zeitschrift "Znamja" eine literarische Ersterscheinung. Die Hauptfigur, Leutnant Kershenzew, erzählt.

    "Der Adjutant, Leutnant Sawrassow, kommt: 'Zwei von den Leuten fehlen schon. Sidorenko aus der ersten Kompanie und Kwast aus der zweiten. Am Abend waren sie noch da.' Schirjajew hört schweigend zu.
    'Diese beiden sind schon nicht mehr aufzufinden. Sind schon zu Hause, diese Verteidiger. Sie haben ausgekämpft.'"


    Wenig später hört Leutnant Kershenzew einen Soldaten nörgeln.

    "Die Sache nähert sich anscheinend ihrem Ende. Die ganze Front weicht zurück. Wenn es uns auch bei Moskau gelungen war, die Deutschen aufzuhalten, so haben sie sich doch jetzt mächtig vorbereitet. Sie haben eine Luftwaffe und Luftwaffe bedeutet heutzutage alles. Man muss den Tatsachen vollkommen nüchtern ins Auge blicken. Schlimmstenfalls muss man den Wagen im Stich lassen sich irgendwie nördlich oder südlich durchschlagen."

    Der Roman, der hier in Auszügen abgedruckt wurde, hieß "Stalingrad", sein bis dahin unbekannter Autor, Viktor Nekrassow. In der Tageszeitung "Izvestija" mokierte sich ein gewisser Sergej Iwanow:

    "Mit der Veröffentlichung hat die Zeitschrift "Znamja" dem jungen Autor keinen Gefallen getan. Dem Werk fehlt es an Reife."

    Iwanow drückte aus, was nach Kriegsende allgemeine Auffassung war. Denn vier Jahre nach dem Überfall durch die Hitler-Wehrmacht hatte sich die Sowjetunion befreit, Deutschland musste im Mai 1945 kapitulieren. Den Sieg errungen hatte die Rote Armee. Propaganda und beflissene Schriftsteller priesen makelloses Heldentum und selbstlose Aufopferung.
    Und dann "In den Schützengräben von Stalingrad", bei Nekrassow eine Rote Armee mit Fahnenflüchtigen und Defätismus ohne Bestrafung, ohne Politkommissar!?

    Dass Nekrassows Text nicht in Gänze veröffentlicht werde, hatte der mächtige Vorsitzende des Schriftstellerverbands, Alexander Fadejew, verlangt. Als mustergültig sollte sein eigener Roman gelten: "Die junge Garde": jugendliche Kommunisten, die heldenhaft für die sozialistische Heimat ihr Leben opferten.

    Nekrassows Roman erschien trotzdem, und er wurde im Frühjahr 1947 sogar mit dem Stalin-Preis ausgezeichnet. - Danach meldete sich übrigens in der "Izvestija" wieder jener Sergej Iwanow. Diesmal stand in seinem Leserbrief:

    "Die Veröffentlichung war ein großes Verdienst der Redaktion, sie kann stolz auf diesen Treffer sein."

    Es folgten hohe Auflagen, Übersetzungen und als Krönung, 1956 mit dem Titel "Soldaty" – die Soldaten - eine Verfilmung.

    O-Ton "Soldaty": "Wir haben uns also aufgemacht, nach Osten, immer nach Osten, manchmal zu Fuß und wenn es sich ergab mit einem Wagen. Drei Soldaten, die schon die halbe Ukraine durchzogen hatten..."

    Film- wie Romanhandlung setzen im Juli 1942 ein, als dem Icherzähler, Leutnant Kershenzew, und seiner Einheit befohlen wird, vor der unaufhaltsamen Wehrmacht nach Osten auszuweichen. Der Roman endet im Februar 1943, Kershenzew ist aus dem Lazarett entlassen und beobachtet:

    "Die lange grüne Schlange der gefangenen Deutschen kriecht hinunter zur Wolga. Schweigen. Hinterdrein ein Sergeant, jung, stupsnasig, zwischen den Zähnen eine lange gebogene Pfeife mit einer Troddel. Er zwinkert mir im Gehen zu."

    Eine Odyssee liegt dazwischen. Kopfloser Rückzug, widersprüchliche Befehle, Feindberührung, Schutz suchen, durchhalten, das eigene Leben retten. Dann ab September 1942 Stalingrad. Nekrassow macht deutlich: Plan oder Strategie sind nicht erkennbar, es mangelt an allem. Dagegen die überlegene deutsche Luftwaffe, die Panzer, die zermürbende Artillerie. Der Einsatzbereitschaft der niederen Ränge und ihrem Mut stehen oft Bürokratie, Eitelkeit und widersprüchliche Befehle der Kommandanten im Wege. Höhepunkt der Erzählung ist die stur befohlene Erstürmung eines Wasserturms, bei der unnötig Soldatenleben
    geopfert werden.

    "Frei von dichterischen Ausschmückungen und auf unmittelbaren Erlebnissen beruhend, ist der Roman einfach, aufrichtig und frei von jeder Politik."

    Der Kritiker Gleb Struwe beschrieb hier, was Nekrassows "In den Schützengräben von Stalingrad" von der Linientreue der sowjetischen Kriegsliteratur unterschied.

    In dieser unaufdringlichen Aufrichtigkeit liegt die Antwort auf die Frage, was das Buch zum Klassiker machte.

    Ein Klassiker übrigens auch mit dem ersten westdeutschen Erscheinen 1949 in einer Auflage von 100.000 auf Zeitungspapier gedruckten Exemplaren als Rowohlt-Rotationsroman und nicht beachtet als Buch im Verlag der Sowjetischen Militäradministration im Osten. Die verunsicherte Nachkriegsgesellschaft fand bei Nekrassow Antworten. Die sowjetischen Sieger, die Kriegsgegner waren Soldaten, waren Menschen; Stalingrad erschien hier ohne Politkommissare, ohne General Winter und die vermeintlichen slawischen Untermenschen. Eine Niederlage wurde entmystifiziert.

    Viktor Nekrassov: Stalingrad
    Nikol-Verlag, 368 Seiten, 7,99 Euro (Neuauflage Februar 2013)
    ISBN: 978-3-86820-178-9