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"Er ist als Staatsfeind eingeschätzt worden"

Werner Schulz verteidigt Joachim Gauck gegen die Kritik von Mitgliedern der DDR-Bürgerbewegung, der neu gewählte Bundespräsident sei kein echter DDR-Bürgerrechtler gewesen. Schulz vermutet, dass "irgendwelche anderen Animositäten" bei den Äußerungen eine Rolle spielten.

Bettina Klein sprach mit Werner Schulz | 19.03.2012
    Bettina Klein: Während Joachim Gauck also heute sein Amt als Bundespräsident offiziell übernimmt, wollen wir noch mal auf einige Aspekte der Diskussion um ihn schauen, die in den vergangenen Wochen bereits eine Rolle gespielt haben. Elf Theologen, die in der Wendezeit aktiv waren, haben vor einigen Wochen eine Erklärung unterschrieben, in der sie auf Distanz zu Gauck gingen. Sie haben darauf hingewiesen, dass sie einen anderen Freiheitsbegriff hätten, und haben sich dagegen verwahrt, wenn Gauck nun mit der Bürgerbewegung gleichgesetzt würde. Friedrich Schorlemmer, ebenfalls evangelischer Theologe aus Wittenberg, hat bei uns im Deutschlandfunk am Samstagmorgen Gauck vorgeworfen, er würde anders als die anderen Bürgerrechtler einer nur individuellen Freiheit anhängen.

    O-Ton Friedrich Schorlemmer: "Ihm ist, denke ich, die individuelle Freiheit das Wichtigste geblieben, während anderen auch die Freiheit der anderen und damit auch die Unteilbarkeit der Menschenrechte, nämlich der bürgerlichen und der sozialen, wichtig gewesen ist. Da gibt es sicher auch eine Differenz zwischen der früheren Bürgerbewegung und Joachim Gauck."

    Klein: So weit also Friedrich Schorlemmer. – Am Telefon begrüße ich Werner Schulz, einst aktiv im Neuen Forum in der DDR, heute für Bündnis 90/Die Grünen im Europaparlament. Ich grüße Sie, Herr Schulz.

    Werner Schulz: Schönen guten Tag, Frau Klein.

    Klein: Interview mit Friedrich Schorlemmer (MP3-Audio) Wir haben gerade Herrn Schorlemmer gehört, der sagt, die Bürgerbewegung, das sind die einen, Gauck ist der andere. Spricht denn nun Herr Schorlemmer für die Bürgerbewegung der ehemaligen DDR, oder auch nur für einen Teil derselben?

    Schulz: Nein. Herr Schorlemmer hat schon immer ein bisschen für sich gesprochen, und vor allen Dingen wundere ich mich, dass er diesen Freiheitsbegriff so herleitet. Also links ist das ja nun wahrlich nicht. Selbst im Kommunistischen Manifest von Karl Marx steht, dass die Freiheit des Einzelnen die Voraussetzung für die Freiheit aller ist, und in unserem Grundgesetz ist ja von der Würde des Menschen oder der Würde des Einzelnen die Rede. Also es sind Individualrechte, die Freiheitsrechte. Demonstrationsfreiheit, Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit, das sind Individualrechte. Es geht um die Freiheit des Einzelnen. Aber Gauck hat da ja nicht aufgehört, bei ihm war der Freiheitsbegriff immer mit Verantwortung verbunden, also Freiheit in Verantwortung, das heißt auch für soziale Fragen.

    Klein: Wie beurteilen Sie die Wortmeldung Ihrer ehemaligen Mitstreiter?

    Schulz: Also crazy, ich war darüber sehr unglücklich und auch traurig. Ich verstehe das auch alles gar nicht so. Ich weiß nicht, da spielen irgendwelche anderen Animositäten eine Rolle und sicherlich, dass manche aus der hohen Kirchturmwarte der Evangelischen Akademie heraus die Graswurzelarbeit gar nicht gesehen haben, die Joachim Gauck in Rostock geleistet hat, als Gemeindepfarrer, als Jugendpfarrer in Rostock. Das ist die Arbeit gewesen, die letztendlich ... Ich habe immer gesagt, die Evangelische Kirche ist das Basislager der friedlichen Revolution, die diese Menschen möglich gemacht hat, Protestanten im wahrsten Sinne des Wortes, die sich im Herbst 1989 diese Diktatur nicht mehr haben bieten lassen.

    Klein: Müssen wir auch noch einmal daran deutlicher erinnern, dass die Bürgerrechtsbewegung der DDR, nachdem das gemeinsame Ziel erreicht war, nämlich die Alleinherrschaft der SED zu beenden, dass, nachdem dieses Ziel erreicht war, es eigentlich keinen gemeinsamen Nenner mehr darüber gab, wie es weitergehen soll? Nicht wenige waren gegen die Wiedervereinigung, sie befürchteten den Ausverkauf des Sozialismus und haben die Erklärung "Für unser Land" unterschrieben, der auch Egon Krenz seine Unterschrift gegeben hat.

    Schulz: Und hat die damit beerdigt, diese Erklärung. Das war ja der Traum von einer kleinen smarten sozialistischen DDR. Wenn man so will: Joachim Gauck hat ja mal den Satz geprägt, wir träumten vom Paradies und wachten auf in Nordrhein-Westfalen. Also er hat sich da mit eingeschlossen. Aber einige sind immer noch nicht aufgewacht, noch nicht mal in Nordrhein-Westfalen – nicht das schlechteste Land, um auf den Boden der Tatsachen zu kommen, wie wir momentan sehen. Da findet ja gerade eine sehr interessante politische Entwicklung statt. Das heißt, manche träumen immer noch von einem kleinen Paradies, was es natürlich in dieser Weise auf Erden wahrscheinlich nicht geben wird.

    Klein: Muss man auch noch mal die Rolle der evangelischen Kirche in der DDR benennen? Sie haben es auch gerade noch mal kurz angedeutet. Für die aktiv zu sein und zum Beispiel Themen aus den Basisgruppen aufzunehmen allein war ja mit Risiken behaftet und auch mit erheblichen Nachteilen, zum Beispiel für die eigenen Kinder, wenn die nicht Mitglied von FDJ und Pionierorganisationen wurden. Ist das ausreichend im öffentlichen Bewusstsein verankert?

    Schulz: Überhaupt nicht. Ich glaube, das können sich nur wenige vor Augen führen oder ein Bild machen, was das bedeutet hat, in einem Staat wie der DDR, einer sozialistischen Diktatur oder kommunistischen Diktatur eben nicht Kirche im Sozialismus zu machen, wie das manche gemacht haben, sondern Kirche trotz Sozialismus. Wie hat denn das ausgesehen bei Joachim Gauck? In Rostock-Evershagen, einem Neubaugebiet, gab es überhaupt kein Kirchengebäude, keine Gemeinderäume. Dieser Mann ist zwei Jahre lang von Tür zu Tür gelaufen, hat bei den Leuten geklingelt und gefragt, ob sie nicht in der Kirche mitmachen wollen, er hat eine Gemeinde aufgebaut. Er ist als Staatsfeind eingeschätzt worden. Es gab den operativen Vorgang der Staatssicherheit OV "Larve". Das heißt, da hat sich etwas abgeschirmt, man hatte Angst, dass sich das entpuppen könnte, Sprengkraft besitzen könnte. Das ist der Joachim Gauck gewesen, der Jugendliche, dem der Staat entrissen hat, eben nicht zur Jugendweihe zu gehen, sondern zur Konfirmation, in der jungen Gemeinde mitzumachen, das Symbol "Schwerter zu Pflugscharen" zu tragen und dergleichen mehr. Er hat im Grunde genommen diesen Totalverweigerern der DDR Mut gemacht, die 1989 auf die Straße gegangen sind. Und im Übrigen: Wir haben uns selbst nie Bürgerrechtler genannt. Der Begriff kam erst im Herbst 1989 auf, als es eine Bürgerbewegung gab, und er kam von außen, er kam von den Journalisten, die suchen für alles dann ein Etikett. Wir haben uns noch nicht mal Opposition genannt, wir nannten uns Friedensgruppen, Menschenrechtsgruppen und dergleichen, weil wir der Stasi eigentlich nicht ins offene Messer laufen wollten.

    Klein: Herr Schulz, abschließend: Bringt die Wahl des neuen Bundespräsidenten Joachim Gauck jetzt auch noch mal all die Themen, auch all die Unwissenheit auf den Tisch, die blinden Flecken, die bei der Aufarbeitung der jüngeren deutschen Geschichte nach 20 Jahren offenbar immer noch vorhanden sind?

    Schulz: Ich hoffe das. Es hat ja ein paar interessante Momente gegeben, schauen Sie die berühmte Ohrfeige von Beate Klarsfeld. Wir wissen, dass es dafür 2000-D-Mark Prämie gab vom SED-Politbüro. Wir haben durch die Stasi-Akten in der Gauck-Behörde erfahren, dass der Polizeimeister Kurras, der Benno Ohnesorg erschossen hat, für die Stasi gearbeitet hat. Wir wissen, dass jetzt der 18. März sich wie ein Jahrhunderttag durch unsere Geschichte zieht, von der Mainzer Republik über die Paulskirchen-Verfassung und die erste Volkskammer-Wahl und jetzt die Wahl des Bundespräsidenten. Das ist doch traumhaft, ein Präsident, der im vierten Wahlgang mit überwältigender Mehrheit gewählt worden ist.

    Klein: Werner Schulz, einst aktiv im Neuen Forum am Ende der DDR, heute für Bündnis 90/Die Grünen im Europaparlament. Ich bedanke mich sehr für Ihre Einschätzungen, Herr Schulz.

    Schulz: Auf Wiederhören.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.