Dienstag, 16. April 2024

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Erdbeben vor 20 Jahren
Die Geburtsstunde der Zivilgesellschaft in der Türkei

Ein Erdbeben der Stärke 7,6 erschütterte am 17. August 1999 die Nordtürkei und die Region Istanbul. Es dauerte Tage, bis der türkische Staat den Menschen zu Hilfe kam. Diese Tage haben die Türkei einschneidend verändert, sagte Susanne Güsten im Dlf. Sie hat das Erdbeben vor 20 Jahren selbst erlebt.

Susanne Güsten im Gespräch mit Christoph Schäfer | 16.08.2019
: Sena Bulte (C-L) an earthquake survivor is hugged by a relative 21 August 1999 in Izmit (over 100 kilometers east of Istanbul). Bulte was taken out of the rubbles of her house yesterday. The death toll of the quake stands over 12.000 dead and 33.500 wounded according to figures released today by the Turkish government crisis center. (ELECTRONIC IMAGE) dpa |
Erdbeben in Istanbul im August 1999: Überlebende wird von einer Angehörigen umarmt (AFP / dpa )
Christoph Schäfer: Morgen vor 20 Jahren ereignete sich das schwere Erdbeben im Norden der Türkei und in der Region Istanbul. Durch das Beben sind zahlreiche, baufällige Häuser eingestürzt, und mehr als 17.000 Menschen haben ihr Leben verloren. Rund 50.000 Menschen erlitten Verletzungen, an deren Folgen sie immer noch leiden. Wie sehr das Erdbeben die Türkei damals geprägt hat und auch heute noch prägt, das bespreche ich jetzt mit meiner Kollegin Susanne Güsten. Ich erreiche sie in Istanbul, wo sie lebt und vor 20 Jahren das Erdbeben selbst erfahren hat. Frau Güsten, wie haben Sie den Tag damals erlebt?
Susanne Güsten: Ja, wir denken jetzt in diesen Tagen natürlich viel an diese Tage und vor allem an diese Nacht zurück. Ich bin wie alle Menschen in der Region um kurz nach drei Uhr morgens wachgerüttelt worden - das ist ja unglaublich laut so ein Beben. 45 Sekunden lang hat das Haus in sich - ist gedreht und gewendet worden. Man springt dann auf, rennt raus. Wir sind auch aufgesprungen, ins Freie gelaufen - etwas zu langsam, denn man braucht eine Weile bis man kapiert, was überhaupt los ist. Und was wir dann im Freien gesehen haben, als wir ankamen - da hat es aufgehört zu schütteln, aber das werde ich nie vergessen - das war als erstes ein Sternenhimmel, so was wie ich ihn in meinem Leben noch nie gesehen habe. Da haben wir erst mal gestanden und gestaunt: ganz klar, ganz hell, ganz nah waren die Sterne. Und was wir in dem Moment noch gar nicht wissen konnten, war der Grund: nämlich dass im Umkreis von vielen hunderten, fast tausend Kilometern es überhaupt keinen Strom mehr gab, also keine Lichtverschmutzung, kein Licht. Und dadurch war dieser Himmel so klar. Und was wir in dem Moment auch nicht wissen konnten war, dass rings um uns zehntausende Menschen verschüttet, tot, verletzt unter den Trümmern lagen. Und dort in diesen Ortsteilen, wo das so war, da gab es auch keine Sterne zu sehen. Da waren gewaltige Staubwolken von den einstürzenden Bauten, haben den Himmel verhüllt, und die Leute dort haben am nächsten Morgen auch die Sonne nicht sehen können. Tagelang hing da der Staub.
"Von staatlicher Seite passierte nichts"
Schäfer: Sie meinten gerade selbst, dass Menschen unter Trümmern begraben waren. Wie wurden sie befreit? Hat der Staat unmittelbar reagiert?
Güsten: Ja das war frappierend. Ich arbeitete ja damals schon als Journalistin hier für eine internationale Nachrichtenagentur und habe alles koordiniert und hautnah mitbekommen. Und das Frappierende war: Erstmal passierte von staatlicher Seite nichts: am ersten Tag nicht, am zweiten Tag nicht, am dritten Tag nichts. Die saßen in Ankara zusammen, haben beraten und gesagt: Gleich geht es los. Aber zugleich ist etwas anderes passiert, was die Türkei einschneidend verändert hat, was eine Zäsur war, wie man sie nur vielleicht mit Deutschland und der Spiegel-Affäre vergleichen kann oder Watergate in den USA, was das Verhältnis der Türken zu ihrem Staat fundamental verändert hat. Denn während in Ankara nichts passierte und keine staatlichen Retter erst einmal auftauchten und nur Chaos herrschte, gingen vor Ort dort in dem Erdbebengebiet, gingen ganz viele zivile Helfer zur Sache und fingen an aufzuräumen. Allen voran gab es da einen Bergrettungsverein, der war neu gegründet - erst ein bis zwei, drei Jahre her. Damals in der Türkei gab es keine Zivilgesellschaft. Es war unglaublich schwer Vereine zu gründen. Aber es gab diesen neuen Bergrettungsverein, und die haben das alles in die Hand genommen. Die haben das organisiert. Die tauchten mit 150 Mann auf in ihren roten Jacken und haben hunderte, tausende freiwillige Helfer und später auch die ausländischen Teams koordiniert und unglaublich vielen Menschen das Leben gerettet und die rausgezogen.
Und die zweite Sache, die neu war in der Türkei, ist, dass es damals ganz neue private Medien gab und einen neu gegründeten privaten Nachrichtensender. Und der war vor Ort, und der hat alles live übertragen. Und der hat den Türken gezeigt, was da passiert. Da konnte das ganze Land zuschauen, wie der Staat versagt und wie Menschen mit privater Initiative auf eigene Faust, mit eigener Zivilcourage Leben retten und quasi das Land retten, die Region retten. Und das hat einen unglaublichen Umschwung in der türkischen Psychologie gebracht. Da haben die Menschen verstanden, dass man sich nicht auf den allmächtigen Staat verlassen kann, sondern dass man sich selber organisieren kann und muss, und dass das eine gute Sache ist. Und das hat eine wahre politische Kette in Gang gesetzt die bis heute andauert.
Demokratischer Reformschub mit der AKP, die heute vieles rückgängig macht
Schäfer: Was sagen Sie, was ist Ihre Einschätzung 20 Jahre nach dem Erdbeben? Wie wirken sich diese Erdbeben und der Umschwung in der Gesellschaft noch heute in der Türkei aus?
Güsten: Ja, das hat, wie gesagt, so eine Domino-Kette angestoßen. Bei der allernächsten Wahl wurde diese Regierung abgewählt und die jetzige Regierung, die AKP-Regierung, an die Macht gewählt. Damals war das ja noch eine ganz starke Reformkraft. In den Jahren nach dem Erdbeben setzte so ein richtiger demokratischer Reformschub ein, wo eine Zivilgesellschaft sich gegründet hat. Ganz viele Leute haben danach angefangen, Vereine zu gründen, sich selber zu organisieren, sich selber für ihre Interessen einzusetzen. Dann haben Sie eine neue Regierung gewählt, die quasi mit dem Ziel nach Europa zu kommen, das alles erleichtert hat: die Vereinsgründungen und die Selbstorganisation. Und es ist ja ironisch, dass es dieselbe Regierung ist, die heute versucht, die Zivilgesellschaft wieder in die Flasche hineinzustopfen, die bei den Gezi-Protesten von 2013 da draufgehauen hat mit dem Holzhammer und jetzt versucht, mit vielen, vielen Verboten das wieder rückgängig zu machen. Das ist aber nicht rückgängig zu machen. Also, wenn dieser Geist erst mal, wenn die Zivilgesellschaft, erst mal aus der Flasche ist, wenn die Menschen merken, dass sie selber für sich sorgen können, dass sie selber organisieren können, fordern können, dann ist das nicht mehr rückgängig zu machen. Und das ist tatsächlich auch ein Erbe dieses psychologischen Schocks vom Erdbeben 1999.
Schäfer: Susanne Güsten mit Erfahrungen und Einschätzungen zum Erdbeben in der Türkei vor 20 Jahren. Vielen Dank nach Istanbul.