Samstag, 27. April 2024

Archiv

Erdogan in Berlin
"Rede für die Wahlen in der Türkei"

Flammend sei die Rede des türkischen Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan in Berlin gewesen, und dennoch etwas sachlicher als 2008, sagte der Bundesvorsitzender der Türkischen Gemeinde in Deutschland, Kenan Kolat, im DLF. Erdogan habe aus seiner Sicht Erfolge und Entwicklungen dargestellt.

05.02.2014
    Dirk-Oliver Heckmann: Der türkische Ministerpräsident Erdogan, international ist er derzeit nicht eben gut gelitten. Der Grund ist einfach: Er hat die Gezi-Park-Bewegung brutal unterdrücken lassen und hat nach Ansicht seiner Kritiker auch anschließend deutlich gemacht, was er von Demokratie und Gewaltenteilung hält: nicht viel ganz offensichtlich. Erdogan nämlich hat dafür gesorgt, dass Tausende Polizisten, Staatsanwälte und Richter zwangsversetzt wurden wegen ihrer Korruptionsermittlungen im Umfeld des Ministerpräsidenten. Erdogans Besuch gestern in Berlin wurde deshalb sehr aufmerksam beobachtet. Am Abend hielt er eine Rede vor Tausenden Anhängern im Berliner Tempodrom. Der Titel der Veranstaltung übrigens: "Berlin trifft den großen Meister."
    Mein Kollege Martin Zagatta hat mit Kenan Kolat gesprochen, dem Vorsitzenden der Türkischen Gemeinde in Deutschland, und er hat ihn zunächst gefragt, ob er erleichtert ist, dass Erdogan in seiner Rede am Abend vorsichtiger war und nicht wieder für Verstimmungen im deutsch-türkischen Verhältnis gesorgt hat.
    "Rede für die Wahlen in der Türkei"
    Kenan Kolat: Ich denke, er hat einiges gelernt. 2008 hat er in dieser Rede wirklich hier eine Debatte hervorgerufen. Diesmal gegenüber einer aufgebrachten Menge war es eine flammende Rede. Jedoch war das etwas sachlicher. Er hat, wie im Bericht dargestellt, aus seiner Sicht die Erfolge dargestellt, die Entwicklungen. Es war aber eindeutig eine Rede Richtung Türkei. Deswegen wurde das auch in Richtung Türkei ausgestrahlt. Hier wurde es auch ausgestrahlt, aber mehr in der Türkei. Das war eine Rede für die Wahlen in der Türkei.
    Martin Zagatta: Ist das denn für Sie in Ordnung, dass er solche Wahlkampfreden in Deutschland hält? Das sieht man ja in Reihen der deutschen Regierung auch nicht gerade gern.
    Kolat: Ja, was soll man dagegen tun? Ich denke, wir leben hier in Deutschland in einer Demokratie. Solange er nicht zu Gewalt aufruft, und das macht er natürlich nicht, dann darf er natürlich diese Reden halten. Die Türken werden zum ersten Mal in ihrem Leben wahrscheinlich auch etwas in massenhafter Weise wählen. Bis jetzt konnte man nur an den Grenzen wählen. Auch diesen demokratischen Brauch sollten sie sich angewöhnen und ich denke, wir werden natürlich bei den Parlamentswahlen auch die anderen Parteivorsitzenden sehr oft in Deutschland sehen. Wir haben ja sehr viele Wählerinnen und Wähler, die in der Türkei wählen können, und von diesem demokratischen Recht sollten sie Gebrauch machen. Dagegen kann man nichts sagen.
    Zagatta: Wie stehen denn die Türken in Deutschland zu Erdogan? Der ist ja hier auch höchst umstritten, nicht nur wegen des Korruptionsskandals, sondern auch gerade wegen seines Vorgehens gegen die Ermittler, gegen die Polizei und die Justiz.
    Kolat: Ja, die türkische Bevölkerung ist wie in der Türkei auch hier in der Mitte gespalten. Die eine Hälfte unterstützt Erdogan, die andere Hälfte hasst ihn. Es ist also eine Situation, eine Polarisierung, die es nie in der türkischen Politik so in dieser Form gegeben hat. Er polarisiert auch sehr viel und das ist natürlich nicht gut. Die andere Seite antwortet dann auch mit Polarisierung und entsprechend unversöhnlichen Tönen. Dies ist auch nicht gut für die Türkei, auch nicht gut für die Menschen in Deutschland und für die Deutsch-Türken sowieso dann auch nicht. Ich denke, da brauchen wir Politiker, die besonnen mit diesen Sachen umgehen. Leider ist da Erdogan ein Polarisierer.
    Im Beitrittsprozess "hat ja Europa auch viele Fehler gemacht"
    Zagatta: Schadet er da nicht auch dem Anliegen der Türkei, in die EU aufgenommen zu werden? Im Moment stößt er doch mit diesem Wunsch die Leute hier in Deutschland, die öffentliche Meinung und auch die Bundesregierung eher ab.
    Kolat: Das kann man damit nicht vergleichen. Der Beitrittsprozess läuft ja seit 1999, da hat ja Europa auch viele Fehler gemacht. Natürlich muss die Türkei die Voraussetzungen erfüllen. Jedoch kann man dies nicht auf Erdogan abschieben. Ich denke, die Bundesrepublik Deutschland müsste für einen Beitritt sein, die Bundesregierung, wenn man die langfristigen Interessen der Bundesrepublik Deutschland berücksichtigt. Das hatte Schröder schon mal gesehen. Ich denke, Merkel weiß das auch, aber aus politischen Erwägungen hält sie sich zurück. Ich denke, wenn die Türkei die Voraussetzungen erfüllt, dann gibt es keinen Weg vorbei an einer vollen Mitgliedschaft der Türkei.
    "Es gab keine großen Streitpunkte"
    Zagatta: Sind Sie da enttäuscht von der Bundeskanzlerin, denn die hat ja Erdogan mit diesen Forderungen eher abblitzen lassen? Sie hat wieder betont, das sei ein ergebnisoffener Prozess. Enttäuscht Sie das, oder haben Sie dafür Verständnis?
    Kolat: Nein. Es geht nicht um Enttäuschung, sondern man muss die Realitäten sehen. Diese Bundesregierung war nicht einer Meinung, das steht in der Koalitionsvereinbarung so. Die Verhandlungen gehen weiter. Wir hatten ja auch gefordert, die Kapitel 23 und 24, wo es um Justiz und Grundrechte geht, zu eröffnen. Die Bundeskanzlerin steht dem positiv gegenüber, also das ist eigentlich eine positive Entwicklung. Wenn die zwei Kapitel eröffnet werden, dann kann man auch weiter Kritik an der Türkei ausüben. Wenn man das, was in der Türkei jetzt passiert, kritisiert, dann ist das die logische Folge, diese zwei Kapitel zu eröffnen. Insofern bin ich zufrieden, weil ich habe nicht erwartet, dass die Bundeskanzlerin plötzlich sagt, ich bin jetzt für den Beitritt. Das hat niemand erwartet. Was noch wichtig war: Es gab keine großen Streitpunkte, und auch das ist, was wir immer wieder fordern, dass beide Länder sich an einen Tisch setzen und langfristige Strategien, gemeinsame Strategien planen, weil beide Länder sind wichtige Länder in Europa und in den entsprechenden Regionen. Insofern, denke ich, ist eine langfristige institutionalisierte Zusammenarbeit vonnöten. Das sollten die Politiker Merkel und Erdogan noch mal überdenken.
    Heckmann: Über den Auftritt des türkischen Ministerpräsidenten Erdogan gestern in Berlin hat mein Kollege Martin Zagatta gesprochen mit Kenan Kolat, dem Vorsitzenden der Türkischen Gemeinde in Deutschland.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.