Dienstag, 19. März 2024

Archiv

Erforschung der Emanzipation des Rechts
Nicht für Gott und nicht fürs Vaterland

Dass Juristen sowohl von der Politik als auch von der Religion unabhängig sind, gehört zu den Grundpfeilern der Demokratie. Bis es dazu kam, dauerte es Jahrhunderte – dabei trennte sich die Rechtswissenschaft von der Rechtsprechung. Erstmals hat ein Historiker die Emanzipation des Rechts erforscht.

Von Mirko Smiljanic | 27.02.2020
Ein Richter mit Gesetzbuch und Gevel in der Hand.
Die Selbstbehauptung des Rechts gegenüber Religion, Politik und Wissenschaft ist ein Prozess, der bis heute andauert (imago / McPhoto)
Recht ohne Religion, funktioniert das überhaupt? Fehlt dann nicht das ethisch-moralisches Fundament? Sind Recht und Religion nicht unentwirrbar miteinander verwoben? Beispielhaft zu sehen sowohl am islamischen Rechtssystem der Scharia als auch an den Zehn Geboten, die nach biblischer Überlieferung Gott dem Propheten Mose auf dem Berg Sinai übergeben hat? Fast möchte man in einem ersten Reflex die Frage bejahen, schon bei oberflächlicher Betrachtung fällt die Antwort aber differenzierter aus. Das antike Römische Recht zum Beispiel hatte kaum Berührungspunkte zur Religion.
"Praktisch gar nichts, muss man sagen", sagt Professor Nils Jansen, Rechtshistoriker an der Universität Münster und Sprecher des Exzellenzclusters "Religion und Politik".
"Es gibt gewisse Überformungen und religiöse Einflüsse auf das Recht in den christlichen Zeiten, das ist ab dem 3., 4. und 5. Jahrhundert, die sich aber sehr schwer rekonstruieren lassen, weil das eine sehr quellenarme Zeit ist. Deshalb gibt es im Justitianischen Gesetzbuch, diesem Corpus Juris Civilis, gewisse christliche Elemente, aber sehr wenige. Die Substanz des Römischen Rechts, das kann man sagen, ist eigentlich säkular."
Römisches Recht war säkular
Im Frühmittelalter, also in der Phase zwischen 500 bis etwa 1050 nach Christus, orientierten sich Juristen zwar weiterhin an den Resten des Römischen Rechts. Aber:
"In diesem Kontext gehen Recht und Religion verhältnismäßig undifferenziert ineinander über, insbesondere politische Konflikte werden nach rechtlichen und juristischen und politischen Kriterien unterschieden, ohne dass man institutionell oder auch bei der Argumentation klar differenzieren würde."
Im frühen Hochmittelalter ab dem 10. und 11. Jahrhundert sollte sich das ändern. Religion und Recht entwickelten sich nach und nach zu eigenständigen Wissenschaften. Was war passiert?
"Das Papsttum im 11. Jahrhundert, dann auch im 12. und 13. Jahrhundert, ist dadurch gekennzeichnet, dass es die Machtansprüche, die Suprematieansprüche, über alle Bereiche der Gesellschaft immer weiter ausdehnt. Bis dahin, dass selbst dasjenige, was in der Tradition akzeptiert war, dass man die zwei Schwerter, das geistliche Schwert und das weltliche Schwert trennt, dass man diese Lehre zum Teil zurücknimmt und sagt, eigentlich vereinigt der Papst beide Schwerter in seiner Hand, nur, der politische Herrscher führt dann das Schwert im Namen des Papstes. Man sieht gewissermaßen, wie das Papsttum tatsächlich den Bogen überspannt, sodass die Prozesse der Differenzierung gerade dadurch noch mal verstärkt werden."
Kein offener Konflikt mit dem Papst
Interessant sei in diesem Zusammenhang, wie sich die Juristen des Hochmittelalters durchsetzten – so Detlef Pollack, Professor für Religionssoziologie an der Universität Münster und Mitglied des Exzellenzclusters "Religion und Politik".
"Eine Möglichkeit, sich darauf zu beziehen, ist, so zu tun, dass man damit gar nichts zu tun hat. Das machen die sogenannten Legisten, die gewissermaßen das Römische Recht für sich adaptieren, ohne sich polemisch mit dem Papsttum auseinanderzusetzen."
Auf der einen Seite vermied man offene Konflikte mit dem damals übermächtigen Papsttum, auf der anderen Seite ließen sich die Legisten aber auch nicht auf die Forderungen des Papstes ein. Still aber sehr effizient setzten sie ihre Ideen um.
"Ich würde sagen, es ist eine Form der Emanzipation, und zwar indem man die Konflikte im Direktzugriff versucht zu vermeiden und eine eigene Rationalität aufbaut. Die Legisten versuchen gewissermaßen, den Bestand der römischen Quellen so zu verarbeiten, dass sie nicht nur mit einzelnen Quellen beschäftigt sind, sondern die dahinter liegende Systematik und Logik, die Regeln der Gesetzgebung herauszufinden, und wenn man das macht, dann entsteht sowas wie eine Eigendynamik innerhalb des Rechtes, die man dann von anderen Bereichen abgrenzen kann."
Was sich in letzter Konsequenz für das Recht und für die Rechtsprechung positiv auswirkte. Im Mittelalter war Rechtsgelehrten etwa klar, so Jansen,…
"…dass für Fragen des Vertragsschlusses und sonstiger privatrechtlicher Verhältnisse die Religion vielleicht gar nicht so viel beizutragen hat und dass das Recht vielleicht eine spezifische Rationalität, auch eine spezifische Rechtssicherheit und Stabilität gerade dadurch gewinnt, dass man es von einem Einfluss religiöser Akteure und damit von einem Überformen durch religiöse Wertungen unabhängig macht."
Nach und nach etablierten sich eigenständige Rechtsschulen, zum Beispiel im oberitalienischen Bologna, während theologische Wissenschaften ihr Zentrum in Paris fanden. Die Rechtswissenschaft entwickelte und profilierte sich so immer weiter. Ändern sollte sich das, als ein dritter Akteur auf die Bühne trat: die Politik. Drei Gruppen standen sich nun in diesem System gegenüber.
"Da hat man Kirchenmänner und Theologen für die Religion, da hat man Professoren für die Wissenschaft, unter Umständen später auch Richter, aber nur sehr eingeschränkt, für das Recht, und man hat Politiker und die Berater der Politiker, die gelehrten Berater für das Feld der Politik."
Drei Gruppen, die immer häufiger in Konflikt gerieten.
Seit der Neuzeit bestimmen Politiker die Ausgestaltung des Rechts
"Und dass es da zu einer komplizierten Dreiecksbeziehung kommt, das ist der Fall vor allem in der frühen Neuzeit, in der die Politik sehr deutlich macht, dass sie für sich in Anspruch nimmt, das Recht zu bestimmen, das Recht zu determinieren. In der religiöse Akteure nach wie vor davon ausgehen, dass das Recht in eine religiöse Ordnung eingebunden sein muss, und in der die Juristen die Eigenlogik des Rechts versuchen zu stabilisieren und das auch eine ganze Weile lang sehr souverän tun können, weil diese enge Verbindung zwischen Wissenschaft und Recht akzeptiert ist und auch institutionell stabilisiert wird."
Eine universale Rechtswissenschaft bildete die Grundlage für die relativ große Unabhängigkeit der Juristen.
Das Recht gewinnt ja gerade seine Autonomie und gesellschaftlichen Funktionsbereich dadurch, dass es sich mit der Wissenschaft gleichsam kurzschließt. Also ausdifferenziert hat sich im Mittelalter eigentlich die Rechtswissenschaft als ein Gesellschaftssystem, nicht eigentlich das Recht oder die Wissenschaft im modernen Sinne."
Die Rechtswissenschaft befasste sich vor allem mit der Entwicklung einer juristischen Methodik. Darauf fußte auch ihr universaler Anspruch: Sie sollte über die Grenzen der Länder hinweg gelten.
"Wenn man in die Vergangenheit schaut, sieht man, dass die Rechtswissenschaft genau wie alle anderen Wissenschaften eigentlich lange Zeit bis ins 18., auch noch in Teilen bis ins 19. Jahrhundert eine globale Wissenschaft ist. Das heißt, man lernt das Recht, man studiert das Recht, und es ist kein Problem eigentlich im Ausland Jura zu studieren, weil man methodische Fähigkeiten, Kategorien, grundlegende Begriffe lernt. Das bedeutet nicht, dass überall gleiches Recht gilt. Man lernt ja nicht an der Universität zu diesen Zeiten das Recht und die Regeln, die man anwenden soll, sondern man lernt, juristisch zu argumentieren, juristisch zu denken, juristisch zu entscheiden."
Spätestens im 19. Jahrhundert lösten sich allerdings die universalen Ansprüche des Rechts auf, so Nils Jansen.
Die Universalität des Rechts zerbrach im 19. Jahrhundert
"Diese Universalität des Rechts ist zerbrochen im 19. Jahrhundert in Folge von Nationalisierungsprozessen, auch weil man das Recht zunehmend auf den Staat bezogen hat, und weil man die juristische Ausbildung zunehmend ausgerichtet hat an der Rechtspraxis. Und dann lernt eben jeder Jurist in seinem Land, was man wissen muss, um das Recht eines bestimmten Landes, einer bestimmten Rechtsordnung anzuwenden. Und damit zerbricht eigentlich die Vorstellung einer globalen Rechtswissenschaft und eines globalen Rechtsdenkens in viele. Jhering hat das einmal "Landesjurisprudenzen" genannt."
Der deutsche Rechtswissenschaftler Rudolf von Jhering hatte diesen Prozess schon im 19. Jahrhundert vorhergesehen. Verschärft wird er dadurch, dass sich die sogenannten "Landesjurisprudenzen" zum Teil vermischen, so der Münsteraner Religionssoziloge Detlef Pollack.
"Man sieht das daran, dass diskutiert wird, dass innerhalb der westlichen modernen Gesellschaften im Familienrecht vielleicht sogar die Scharia Gültigkeit beanspruchen kann. Und mein Eindruck ist, dass an vielen Stellen der Universalitätsanspruch der Rechtswissenschaft, den ich auch eigentlich mit der Entwicklung der Rechtswissenschaft verbinde, dass der zum Teil zurückgenommen wird, damit Konflikte, wie sie im Zusammenleben von Menschen entstehen, auf eine Weise gelöst werden können, die dem Menschen dann auch entgegenkommen, die ihren Bedürfnissen mehr entsprechen, sodass sie auch in der Lagen sind, die Rechtsprechung zu akzeptieren."
Nationale wie internationale Rechtssysteme überlagern sich immer häufiger. Dies sei zwar ein unübersehbarer Prozess,…
Das Ringen um ein globales Recht ist ungebrochen
"…man kann aber auch sehen, dass in unseren Tagen natürlich wieder eine europäische Rechtswissenschaft entsteht, noch ein wenig ihren Weg suchen muss, weil die noch gar nicht ihre Form genau gefunden hat. Aber das ist einfach schon deshalb notwendig, weil sich natürlich in der Rechtsprechung des EuGH und in der Rechtsetzung der Europäischen Union eine europäische Rechtsordnung herausbildet. Und ähnliche Prozesse sieht man auch auf globaler Ebene, weil es natürlich auch ein globales Handelsrecht gibt, ein globales Sportrecht, globales Internetrecht geben muss, weile viele, viele zentrale Phänomene unserer modernen Welt vor den Grenzen des Staates nicht Halt machen."
Und das erfordert, unabhängig von der praktischen Rechtsprechung, eine starke, eigenständige Rechtswissenschaft.
Beim Recht in der Rechtswissenschaft kann es nicht darum gehen, Fälle zu entscheiden, Fälle entscheiden die Juristen in der Praxis. In der Rechtswissenschaft muss es darum gehen, Entscheidungsmöglichkeiten zu analysieren, zu vergleichen und damit die Rechtspraxis überhaupt zu verstehen."
Darum plädiert Nils Jansen auch für eine Veränderung in der wissenschaftlichen Ausbildung der Juristen: Sie soll stärker an der grundlegenden Methodik orientiert sein als an umfassenden Kenntnissen der alltäglichen Rechtsprechung.
"Meines Erachtens sollte die Rechtswissenschaft ihre Aufgabe eigentlich nicht darin sehen, das Recht einer konkreten Rechtsordnung zu beschreiben. Also die einzelnen Regeln sagen wir mal in praxisorientierten Kommentaren niederzulegen, sondern sie sollte die nationalen Rechtsordnungen reflektieren, gemeinsame juristische Kategorien entwickeln, die man eben aus europäischer oder globaler Perspektive dann nutzen, anwenden kann. Und damit eben auch die geistigen Grundlagen legen, die intellektuellen, wissenschaftlichen Grundlagen legen, die erforderlich sind, um das Rechts dann von Gesetzgebern und Richtern rational fortbilden zu lassen."