Dienstag, 23. April 2024

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Erinnerungen einer Ärztin an Tschernobyl (3/5)
Medizinerin aus Leidenschaft

Ihre Arbeit als Ärztin bedeutet Paulina Zerluk viel. Bis heute schwärmt die 87-Jährige von ihrer Zeit als Neurologin in Kiew. Trotz antisemitischer Repressionen konnte sie sich in ihrem Beruf durchsetzen. Doch der Einsatz im Katastrophengebiet Tschernobyl 1986 machte auch sie zur Patientin.

Von Frederik Rother | 15.11.2017
    Paulina Zerluk mit ihrer Auszeichnung aus ihrer Zeit als Neurologin in der Hand "Für die beste Ärztin - Genossin Zerluk"
    Stolz auf ihre Auszeichnung als "beste Ärztin": Paulina Zerluk (Deutschlandfunk / Frederik Rother)
    Knopka, der kleine, braun-schwarze Yorkshire-Terrier rennt die Treppe runter ins Erdgeschoss. Paulina Zerluk - in Gymnastikhose, Sport-T-Shirt und dünner Jacke - kommt nur langsam hinterher. Mit 87 Jahren ist alles etwas beschwerlicher.
    Unten angekommen läuft sie zu ihrem Rollator. Der ist noch angeschlossen, an der Regenrinne. Sie bindet die Hundeleine um den Griff und es geht los.
    Drei Mal am Tag geht Paulina Zerluk mit Knopka nach draußen. Nun ist das Ziel die Apotheke im Viertel, sie braucht ein Medikament.
    Die Arbeit als Ärztin war ihr Lebensinhalt
    Über ihre Beschwerden möchte Paulina Zerluk nicht sprechen. Sie will lieber über etwas Positives reden: ihre Zeit als Ärztin im Kiewer Gebietskrankenhaus.
    "Das ist mein Leben. Man sagt: Arbeit zweite Haus, für mich erste. Arbeit für mich alles."
    Der Beruf hat sie glücklich gemacht. Er war ihr Lebensinhalt.
    Immer wieder bleibt sie auf dem Bürgersteig stehen, hält sich an ihrem Rollator fest und erzählt mit leuchtenden Augen von früher. Knopka wartet geduldig.
    "Als ich beendete die Schule, für mich war alles gut: Mathematik, Literatur, Historija."
    Sie hatte überall gute Noten. Sogar eine Karriere als Pianistin konnte sie sich damals vorstellen, Mitte der 1940er. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, den Verbrechen der Nazis in der Ukraine und nach der Exil-Zeit in Taschkent. Aber am Ende fiel ihre Wahl doch auf Medizin.
    "Mein Vater, mein Großvater - alle Generationen waren Ärzte. Aber mein Vater sagte: Ich möchte, dass mein Kinder Ärzte werden. Vielleicht arme, aber nur Ärzte."
    Dass seine beiden Töchter Medizinerinnen wurden, hat Petr Zerluk nicht mehr miterlebt. Er ist ein Jahr vor Ende des Zweiten Weltkriegs als Soldat der Roten Armee an der Front gestorben.
    "Wenn ich in Medical Schule eingetreten, ich habe verstanden, dass das meine. Ich bin an Ort und Stelle. Das ist meine Stelle."
    Promotion blieb ihr verwehrt
    Seit 1995 wiederum ist Koblenz-Goldgrube ihr Platz. So heißt der Stadtteil hinter dem Hauptbahnhof, in dem Paulina Zerluk heute lebt. Viele Menschen aus der ehemaligen Sowjetunion wohnen hier, man hört viel Russisch. Auch in der Apotheke.
    Olga, die blonde Apothekerin, berät Paulina Zerluk. Sie sprechen über medizinische Pflaster und Schmerzmittel. Paulina Zerluk hat bis heute wenig deutsche Bekannte. Sie ist froh, dass ihr so viele russischsprachige Menschen im Alltag helfen:
    "Alle Russen kommen nur zu ihr. Olga weiß alles. Sie ist Arzt, Schwester, Apotheker. Man kommt zu ihr mit Beschwerden und sie empfiehlt Medikamente."
    Paulina Zerluk und Knopka treten den Rückweg an. Sie erzählt von ihrer Zeit als junge Ärztin. Eine Aspirantura - so hieß das Promotionsverfahren in der Sowjetunion - durfte sie damals aber nicht machen. Es gab da dieses Problem, sagt sie etwas zurückhaltend.
    "Obwohl ich die beste Studentin war, lassen sie mich nicht in eine Aspiranturu. Ich glaube das lag daran, weil ich Jüdin war. Und bin."
    In der Sowjetunion kam es immer wieder zu antisemitischen Wellen. So auch Anfang der 1950er Jahre. Damals wurden bekannte jüdische Mediziner verdächtigt, Stalin umbringen zu wollen - die sogenannte "Ärzteverschwörung". Die Folge: Vielen jüdischen Bürgern wurden Karrierechancen verwehrt.
    Aber sie habe Glück gehabt. "Mein Professor, für ihn war egal. Er schlug mir vor, in dieser Klinik zu arbeiten. Und bis zum letzten Tag, als ich nach Deutschland gekommen, arbeitete ich in dieser Klinik."
    Paulina Zerluk als junge Frau
    Paulina Zerluk als junge Frau (Dlf / Rother)
    Sie meint das Kiewer Gebietskrankenhaus, in dem sie knapp 40 Jahre als Neurologin arbeitete. Sie hat sogar mal eine Auszeichnung bekommen, einen Wimpel. "Für die beste Ärztin - Genossin Zerluk" steht darauf. Bis heute macht sie das stolz.
    Einsatz mit Folgen: Tschernobyl, 1986
    Doch so sehr Paulina Zerluk ihren Beruf auch liebte, für sie hatte er dramatische Folgen: Durch den Einsatz in Tschernobyl hat sie viele Kollegen und Freunde verloren, und sie - die am liebsten Patienten behandelte - wurde selbst zur Patientin. 1987 wurden bei ihr vergrößerte Lymphknoten entdeckt. Die Diagnose: Krebs.
    "Ja byla rasstroena. Das war einzige Mal, als ich geweint habe. Ich fuhr nach Hause mit Bus und verpasste meine Haltestelle. Ich weinte leise."
    Sie hatte Angst um ihr Leben. Monatelang bekam sie starke Anti-Krebsmedikamente - Nebenwirkungen wie Haarausfall inklusive - und eine Strahlentherapie.
    "Zu meinem Glück, diese Drüse nicht voll beschädigt, drei Viertel. Aber ein Teil ist unbeschädigt, und dieser gibt Hoffnung, dass vielleicht ohne Metastase."
    Tatsächlich hatte der Krebs nicht gestreut. Nach einem Jahr arbeitete sie wieder, wenn auch nicht mehr so viel wie früher. Bis heute hat Paulina Zerluk Schmerzen in den Beinen und eine schwache Wirbelsäule. Sie ist sich sicher: Folgen des Tschernobyl-Einsatzes und der Strahlung.
    Paulina Zerluk und Knopka, der kleine Terrier, sind inzwischen wieder an der Wohnung angekommen. Die Rentnerin schließt den Rollator an die Regenrinne.
    Auf dem Weg zur Haustür bleibt sie noch mal stehen: Sie habe die Freude an ihrer Arbeit als Ärztin nie verloren, erzählt sie. Trotz Antisemitismus, persönlicher Verluste und schwerer Krankheit:
    "Was es bedeutet, wenn du siehst, dass deine Arbeit nicht umsonst. Wenn einem Patienten besser ist. Das ist Glück für mich!"