Dienstag, 19. März 2024

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Erzählungen von Alban Nikolai Herbst
1.200 Seiten Herbst

Bitte hier einsteigen: Wer einen Eindruck vom knapp fünfzigjährigen Schaffen Alban Nikolai Herbsts gewinnen möchte, ist mit seinen gesammelten Erzählungen gut beraten. Eine mäandernde und eigenwillige Literatur lässt sich in all ihren Facetten entdecken.

Von Samuel Hamen | 07.02.2020
Der Schriftsteller Alban Nikolai Herbst
Der Schriftsteller Alban Nikolai Herbst (Septime Verlag / Shasharad Lowan)
Die einen zerstören ihre Jugendwerke, um die mutmaßliche Peinlichkeit der ersten literarischen Gehversuche auszuradieren. Andere redigieren sie Jahrzehnte später und veröffentlichen sie, um das Werden ihres Werkes zu illustrieren. Im Gespräch mit dem Büchermarkt erläutert Alban Nikolai Herbst, wieso er sich für zweitere Variante entschieden hat. Kürzlich ist in Wien der zweite Band seiner gesammelten Erzählungen erschienen:
"Ich habe irgendwo mal geschrieben, es sei ein Lebensgeschichtenroman in Erzählungen, weil man, glaube ich, ganz gut verfolgen kann, welche Themen und wie mich beschäftigt haben und begleitet haben, das kann man, glaube ich, ganz gut – bis hin zu den letzten Texten, etwa von den 'Fenstern von Saint-Chapelle' oder auch der 'Isabella Maria Vergana'."
Von Frankfurt ins Weltall
Bis die Leser und Leserinnen zur letztgenannten Erzählung gelangen, sind mehr als 1.100 Seiten umzublättern. Auf dem Weg dorthin wird einem ein panoramahafter Blick auf Herbsts Schaffen geboten. In frühen Mundart-Stücken, geschrieben im Bremer Dialekt, zeigt sich die Formfreude eines Debütanten, der die Sprache auf ihre Tauglichkeit hin abklopft.
Es folgen Hommagen an H. P. Lovecraft und Bonaventura, Etüden zum inneren Monolog oder kurze, deliriumshafte Traumsequenzen. Vor allem die erste Hälfte des ersten Bandes liest man mit einem gewissen Wohlwollen gegenüber dem schriftstellerischen Jungspund.
"Ich bin, wiewohl sicherlich mit einem Großteil meiner Arbeiten zur fantastischen Literatur zählend, enorm abhängig von dem, was man Realität nennt. Ich sage immer, ich muss die Hand auf den Boden legen können."
Der Andruck der Gravitation
Die Transgression ist in der Tat Programm. "Die Rache der Chassée" etwa ist ein Zwittertext aus Museumsbetriebssatire und Weltraum-Odyssee. Zuerst wird die Hanglage des Frankfurter Mainufers beschrieben. Später entpuppt sich ein Museumsneubau als Raumschiff, das die städtische Kulturschickeria ins All schießt.
"Ja, ich habe gehört, wie die Triebwerke gezündet wurden. Ich habe den Andruck der Gravitation gespürt, der uns alle niederdrückte, als mit dem halben Magistrat das Schiff gen Himmel fuhr. Ausgelöscht die bedeutendsten Frankfurter Bürgerfamilien."
Auf die deutsche Ödnis, die an Kaianlagen, in Fußgängerzonen oder im Zug von Nürnberg nach Berlin lauert, reagiert nicht nur "Die Rache der Chassée" mit einem Fluchtinstinkt. Es ist ein Merkmal, das viele der Erzählungen durchzieht. Mal wird hierfür die Science-Fiction aktiviert, mal die Phantastik oder der Mythos. "Die Fenster von Saint-Chapelle" inszeniert auf Romanlänge ein Abenteuer wider die Üblichkeit; als Anlass fungiert ein rätselhafter literarischer Auftrag. Die Geschichte beginnt in Heidelberg und endet in Berlin, aber das Mysterium für Herbsts autofiktionalen Erzähler muss sich in Paris ereignen.
Anderswo werden Rom, die Tropen, ein Garderobenschrank oder schlichtweg der virtuelle Raum aufgeboten, um die räumliche und mentale Beschränktheit hinter sich zu lassen.
Herbsts Pionierleistung wird deutlich
So verwundert es nicht, dass man sich auch immer wieder durch Herbsts labyrinthische Identitätsprosa bewegt. Deren monolithisches Zentrum sind gewiss die Anderswelt-Romane, durch die der Autor seine sogenannten Fiktionäre schickt, seine Pseudo-, Quasi- und Semi-Egos samt Entourage. Aber die Spiel- und Spiegelkabinette des Ichs werden auch in den Erzählbänden aufgestellt, etwa in den Großerzählungen "Der Arndt-Komplex" und "Joachim Zilts’ Verirrungen". Lange vor Internetromanen wie Joshua Cohens "Buch der Zahlen" von 2018 wird hier nach Möglichkeiten und Restriktionen virtueller Lebensentwürfe gefahndet.
"Wie sollte ich in solcher Unsicherheit jemals weiterleben? Das einzige, worauf ich mich würde verlassen, hoffte ich, können, wäre die Lage der ersten Vertiefung in der Schlafzimmerdecke, des ersten Kratereinstiegslochs. Allenfalls daran ließe meine eigene Welt sich erkennen. Bloß: Wer würde erkennen? Vielleicht gab es Varianten sogar meines Ichs. – Ob ich mir selbst begegnen konnte, ja würde?"
Stilistisch halten sich Syntax und melodischer Fluss in einer eigenwilligen Balance. Neben der starken Sprachrhythmisierung lohnt die Lektüre aus einem weiteren Grund: Herbsts Profil als Pionier tritt in der verdienten Schärfe hervor. Denn seine Poetik multipler Welten und alternativer Realitäten ist aktueller denn je. Die Versiertheit des 1955 geborenen Autors zeigt sich auch in der Breite seiner Produktion. Mühelos werden Formate wie Dystopie, Satire oder Brieferzählung bespielt. Die Zeilen sind gespickt mit Herbsts literarischen Vorbildern: Jorge Luis Borges, Fernando Pessoa, Arno Schmidt.
Freizügigkeit als Freiheit
Zugleich muss eine Lektüre, die Ausschau hält nach Gegenwartsbezügen, über die konstante Sexualisierung von Frauenfiguren stolpern. In "Lingerie" bietet der Erzähler einer Kundin in einer Boutique für Damenunterwäsche an, ihr ein Dessous zu schenken. Den Sound des Dialogs hat man zu dem Zeitpunkt längst im Ohr: Es ist eine Mischung aus manieristischer Männlichkeit und koketter Etikette.
Auch in der Miniatur "Kathedrale" ist eine virile Imagination am Werk. Ein Briefeschreiber berichtet von einer Traumvision: Die Vulva einer jungen Frau habe sich kathedralengleich aus dem Meer erhoben, Schiffe seien ein- und ausgefahren, dann habe er sich ins Meer geworfen, um hindurchzuschwimmen. Im Interview sprach Alban Nikolai Herbst über die Lizenzen, die er für sein Schreiben einfordert:
"Wenn da steht, das Buch sei ironisch, dann ist das ein Lob, ohne dass darüber nachgedacht wird, dass Ironie – mal abgesehen von ihrer Funktion als politischem Kampfmittel – ja doch letztlich Distanzierung ist, das heißt: die Uneigentlichkeit feiert, in der man lebt, was ich ganz unerträglich fand. Und diese Möglichkeit des Ausdrucks im Pathos haben wir jetzt wieder. […] Das hat die Post-Moderne gebracht, und jetzt muss man aufbauen, das heißt: nicht wieder neue Dogmen setzen, aber doch – ja, hier bin ich konservativ und doch sagen Werte vermitteln, auch Gefühlssituationen vermitteln. Ein ironischer Geschlechtsakt ist doch gar nicht denkbar, das geht doch gar nicht ohne Pathos, junges Verliebtsein ohne Pathos, stellen Sie sich das mal vor."
Im Nachwort spricht die Herausgeberin Elvira M. Gross von der - Zitat - "Selbsterkenntnis der eigenen Libido". Die Erotomanie wird bei Herbst als Habitus zelebriert, die Freizügigkeit als künstlerische Freiheit eingefordert. Das ist das gute Recht einer Ästhetik, die oftmals das Randständige aufsucht, um sich im Abseits ihrer Schlagkraft zu versichern. Es verhindert aber nicht, dass diese Weise des Schauens, Genießens und Schreibens mehr und mehr aus der Zeit fällt. Sie wirkt schwerfällig, verteidigt zugleich voller Stolz eben diese Schwerfälligkeit als exquisiten Zugang zum Sinnlichen. Aber im Diskurs rund um sexuelle Repräsentation und die Symbolisierung von Geschlechterverhältnissen hat sich nun einmal ein Atmosphärenwechsel ereignet. Einzelnen Erzählungen setzt er stark zu.
Vom Schwärmerischen zum Skeptischen
Pathos, Mythos und Eros waren und sind auch deswegen die Eckpfeiler von Herbsts Schreiben, weil sie das Versprechen hegen, verloren geglaubte Intensitäten in sich zu bergen. Diese Kontinuität zeigt sich nicht zuletzt in der Formklammer, die die erste mit der letzten Erzählung verbindet. Es beginnt 1972 mit der Adoleszenz-Geschichte "Svenja". Die Entdeckung des Voluptuösen unter der jugendlichen Bettdecke geht einher mit bestimmten Rollenbildern:
"Das schlimmste ist ja nicht, daß er sich selbst, und heuchlerisch auch noch, zum Heiligen hochstilisiert. Seine Fantasien vorm Einschlafen unter der Bettdecke, Orgien der Onanie. Jedesmal die Panik: wohin mit dem Sperma. Wirklich einem Mädchen ging er kaum an den Leib, es sei denn vergeistigt in Zärtlichkeit. Daß er seinem Mädchen dasselbe abgefordert hatte! Elfe hatte sie zu sein, nicht etwa Frau zu werden."
Ein anti-ironischer Akkord
Es endet 2019 mit "Unkaltes Herz", mit einer Reflexion über offene Beziehungen und der Suche nach einer Nähe abseits normierter Liebesvorstellungen. In das Alterswerk hat eine skeptische Traurigkeit Einzug gehalten:
"Doch mit der Zeit war nicht mehr heraus, ob sie dieses auch wollten und es ihnen, solch einer neuen Liebe begegnet zu sein, nicht vorgekommen wäre wie eine Katastrophe – nicht nur, weil sie ihnen die nahezu grenzenlose Ungebundenheit ihres Verbundenseins genommen, sondern auch, weil es die im Herzen getragene Sehnsucht nach der und dem Eigentlichen zerstört hätte, die der tatsächliche Grund ihres tiefen Verbundenseins war."
Die Erzählungen enden folgerichtig mit einem anti-ironischen Akkord. Das Uneigentliche ist die Gefahr, die falsche Losung, das Ende des Ereignisses. Alban Nikolai Herbsts Literatur, wie sie hier vorliegt, versteht sich hingegen als sinnliche Maßnahme und strukturelle Erweiterung in Anbetracht der Dürftigkeit des Gegebenen und der Finten des Geplauders. Dafür verabschiedet sie sich auch immer mal wieder in den Glamour des Überzeitlichen, um einer als kleinlich empfundenen Kritik im Hier und Jetzt zu entgehen.
Alban Nikolai Herbst: "Wanderer (Erzählungen I)" und
"Wölfinnen (Erzählungen II)"

Ediert und mit einem Nachwort von Elvira M. Gross
Septime Verlag, Wien. 600 und 624 Seiten, Preis je Band: 29 Euro.