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"Es abzusagen wäre auch eine politische Botschaft gewesen"

Die NATO führt in Georgien, dass zurzeit von Demonstrationen gegen seinen Präsidenten erschüttert wird, ein lange geplantes Manöver durch. Russland fühlt sich provoziert. Der FDP-Verteidigungspolitiker Rainer Stinner hat Verständnis für Russland, erinnert aber an Russlands illegale Besetzung georgischer Gebiete.

Rainer Stinner im Gespräch mit Christoph Heinemann | 08.05.2009
    Christoph Heinemann: Die letzte Einschätzung des französischen Europaministers mitgehört hat Rainer Stinner, der Verteidigungsexperte der FDP-Bundestagsfraktion, der vor zweieinhalb Stunden aus Georgien zurückgekehrt ist. Guten Morgen!

    Rainer Stinner: Guten Morgen!

    Heinemann: Herr Stinner, bevor wir uns dieser Einschätzung nähern, zunächst einmal zur Lage. Putschgerüchte machen in den letzten Tagen in Tiflis die Runde, fast täglich Zusammenstöße zwischen Regierungsgegnern und der Polizei. Was haben Sie davon mitbekommen? Wie ist die Lage?

    Stinner: Das ist in der Tat eine brisante Situation. Wir haben davon sehr viel mitbekommen, denn die Demonstrationen und die Straßensperren waren vor unserem Hotel, was in der Nähe des Parlamentes war. Das Parlament ist auch nach Ansicht unserer Parlamentarier aus Westeuropa als ein besetztes Parlament zu bezeichnen. Seit dem 9. April hat die Opposition, die außerparlamentarische Opposition begonnen, mit Demonstrationen Aufmerksamkeit zu erregen. Das nimmt immer zu. Die Regierung hat bisher davon abgesehen, die Straßenblockaden, die durch kleine Hütten belegt sind, Zelthütten belegt sind, aufzulösen. Das bezieht auch das Parlament mit ein, das ist täglich zu spüren. Es ist jetzt in den letzten beiden Tagen zu einer Eskalation gekommen, die gefährlich ist. Es ist nämlich folgendes passiert, dass drei junge Leute festgenommen worden sind, weil einer von denen (jedenfalls statt mehrere) einen Journalisten geschlagen haben. Das war im Fernsehen deutlich sichtbar, ich habe mir die Bilder selber angeschaut. Es ist dann eine aufgebrachte Menge zur Polizeistation marschiert, mit der Maßgabe, ihn eventuell zu befreien oder nur zu demonstrieren. Das ist nicht so genau erklärbar. Dabei hat es dann entsprechende Zusammenstöße gegeben. Das hat aber dazu geführt, dass die zehn wesentlichen außerparlamentarischen Oppositionsparteien gestern Morgen eine Vereinbarung beschlossen haben, dass sie wohl an den Demonstrationen auf den Straßen festhalten werden, dass sie aber von solchen Sonderaktionen sich distanzieren, daran nicht teilnehmen werden, und dass sie etwas Neues tun, dass sie nämlich dem Präsidenten anbieten, unkonditioniert, das heißt ohne seinen sofortigen Rücktritt zu fordern, mit ihm Gespräche aufzunehmen.

    Heinemann: Wie fest sitzt dieser Präsident Saakaschwili dann noch im Sattel?

    Stinner: Das ist sehr schwer zu beurteilen. Es hat den Anschein – aber das ist das, was mein persönlicher Eindruck ist -, dass diese Proteste sich weitestgehend auf die Hauptstadt Tiflis beziehen, während es im Lande jedenfalls solche Situationen nicht gibt. Die außerparlamentarische Opposition bezweifelt grundsätzlich die Legitimität des Präsidenten und des gewählten Parlamentes. Einige der Parteien haben auch ihre in der Wahl errungenen Parlamentssitze nicht angenommen. Aber man muss auch sagen, bisher ist außer der ultimativen Forderung, dass der Präsident unmittelbar zurücktreten muss, von inhaltlichen Positionen der Opposition relativ wenig oder nichts bekannt.

    Heinemann: Herr Stinner, war die NATO gut beraten, in und mit Georgien in dieser Lage gemeinsame Manöver zu veranstalten?

    Stinner: Dieses Manöver ist ein vor über einem Jahr geplantes Routinemanöver der NATO.

    Heinemann: So was kann man ja absagen.

    Stinner: Kann man absagen, richtig. Die NATO führt seit Jahren mit den Staaten des "Partnership for Peace"-Programms – das sind über 30 Staaten – jedes Jahr solche Manöver durch. Teilweise haben die Russen an diesen Manövern teilgenommen als Beobachter, zum Beispiel 2006 in Moldawien. Dieses Manöver hat 2008 in Armenien stattgefunden, ohne jeden Protest. Sicherlich hätte man das absagen können. Das wäre aber ein Signal gewesen, dass man selbst die im Rahmen des "Partnership for Peace"-Programms abgehaltenen Routineaufgaben nicht mehr wahrnimmt. Es wäre in jedem Fall auch eine politische Botschaft gewesen, und ich würde sicherlich aus heutiger Sicht sagen, heute würde man ein solches Manöver vielleicht nicht planen, aber es abzusagen wäre auch eine politische Botschaft gewesen. Wir dürfen bitte schön nicht vergessen, dass Russland völlig widerrechtlich 20 Prozent Georgiens besetzt, dass Russland sich eindeutig nicht an die mit Präsident Sarkozy getroffenen Vereinbarungen hält. Also es ist nicht so, dass hier Russland außen vor ist und die NATO irgendwie provoziert, sondern Russland besetzt widerrechtlich ein Großteil Georgiens und hält sich nicht an Vereinbarungen.

    Heinemann: Sie haben die Einschätzung von Bruno Le Maire gehört: Keine Bedrohung geht von der NATO für Russland aus. Gleichwohl empfindet Russland das so. Da sind alte Einkreisungsängste mit im Spiel. Also: Ist es eine kluge Politik, das in dieser Zeit zu machen? Sie haben eben gesagt, das Manöver wurde vor einem Jahr verabredet; damals war ja der Krieg noch nicht ausgebrochen.

    Stinner: Ja, richtig. Es ist richtig: Man hätte das Manöver auch absagen können. Das wäre aber die politische Botschaft gewesen, dass die NATO sich beeinflussen lässt von Russland. Das PFP-Programm, in dem sehr viele Staaten enthalten sind, die übrigens auch nie die Ambition haben, bei der NATO teilzunehmen, dass man sich von dieser PFP-Routine abwendet, das wäre eine Botschaft gewesen, die zweifelhaft wäre. Ich kann Russlands Befindlichkeiten zu einem gewissen Teil nachempfinden. Das ist keine Frage, wenn man sich die letzten 15, 20 Jahre anschaut. Auf der anderen Seite geht objektiv natürlich von einem solchen Manöver, wo das Szenario ist, eine weit im Meer liegende kleine Insel militärisch zu befreien, keine konkrete Gefahr für Russland aus. Es gehen natürlich viel eher Gefahren für Georgien aus von den russischen Soldaten, die widerrechtlich in großer Zahl in Süd-Ossetien und in Abchasien stehen. Das muss man einfach gewichten, aber ich gebe zu: ch habe ein gewisses Verständnis für Russland, für die russische Befindlichkeit, dass die NATO ständig näher an Russland heranrückt. Umso wichtiger ist es aus meiner Sicht, dass der NATO-Russland-Rat seine Kontakte wieder aufnimmt, verstärkt wahrnimmt. Gerade in solchen Zeiten von Spannungen, von Konflikten ist es nach meinem Dafürhalten wichtig, miteinander zu reden und den Gesprächsfaden jedenfalls nicht abreißen zu lassen.

    Heinemann: Rainer Stinner, der Verteidigungsexperte der FDP-Bundestagsfraktion. Danke schön für das Gespräch und auf Wiederhören.

    Stinner: Danke schön. Auf Wiederhören!