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"Es ist eine bestialische Reise"

Fabrizio Gatti hat sich an die Fersen der Flüchtlinge mit dem Ziel Europa geheftet. Die dramatischste Situation sei die Landung auf der Insel Lampedusa gewesen. Zu sehen, wie die eigenen Landleute die Flüchtlinge behandelten, habe ihn zutiefst beschämt.

Fabrizio Gatti im Gespräch mit Christoph Heinemann | 22.01.2010
    Christoph Heinemann: Rund zehn Tage nach dem Erdbeben in Haiti hat ein erstes Schiff mit Hilfsgütern den Hafen der Hauptstadt Port-au-Prince erreicht.

    Von Glück zu sprechen wäre zynisch, aber immerhin richten sich jetzt Kameras und Mikrophone auf das Elend in Haiti. Von so viel Aufmerksamkeit, geschweige denn Hilfsbereitschaft können andere nur träumen. Wir wollen im folgenden über den Alltag von Menschen sprechen, die versuchen, von Afrika aus Europa zu erreichen.

    "Der Kommandant stemmt die Hände in die Hüften, er zieht seinen Ledergürtel aus dem Hosenbund, den breiten Gürtel mit der großen Metallschnalle, wie sie die Uniformen auf der ganzen Welt zieren. Der erste Schlag trifft Elvis auf den Kopf, der zweite ins Gesicht, der dritte auf die Hände, mit denen der Junge unsicher und verzweifelt sein Gesicht zu schützen versucht. Der Kommandant schlägt mit aller Kraft zu, er lässt den Arm genau so auf den Jungen niedergehen, dass ihn die scharfe Schnalle mit voller Wucht trifft. Elvis verliert das Gleichgewicht, fällt hin und blutet an den Händen und aus der Nase. Auf allen Vieren schleppt er sich durch den Sand, unbeholfen wie ein flüchtendes Krokodil an Land. Der Polizist schlägt immer noch auf Elvis ein, seine Kollegen lachen."

    Heinemann: Ein Auszug aus dem gerade in Deutsch erschienenen Buch "Bilal - Als Illegaler auf dem Weg nach Europa" des italienischen Journalisten Fabrizio Gatti. Wir haben dieses Buch am Montag in unserer Sendung "Andruck" vorgestellt, die Buchbesprechung von Elias Bierdel können sie nachlesen unter www.dradio.de. – Ein Buch in zwei Teilen. Fabrizio Gatti hat sich von Dakar im Senegal aus dem Flüchtlingsstrom angeschlossen, der durch die Wüsten Tenere und Sahara versucht, das Mittelmeer zu erreichen. Hier endet Teil 1, die lebensgefährliche Überfahrt hat Gatti nicht mitgemacht. Teil 2 schildert die Zustände in einem Flüchtlingslager auf der italienischen Mittelmeerinsel Lampedusa, in das Gatti als kurdischer Flüchtling namens Bilal verkleidet eingewiesen wurde. – Ich habe Fabrizio Gatti vor dieser Sendung gefragt, warum er sich auf diese gefährlichen Reisen begeben hat?

    Fabrizio Gatti: Es handelt sich hier um Migranten ohne Ausweispapiere, also eine neue soziale Schicht, die in Europa keine Stimme hat. Ich habe mich als Journalist auf diesen Fluchtweg begeben, um darüber zu berichten und um diesen Männern, Frauen und Kindern die Würde, einen Namen, einen Vornamen, eine Geschichte und eine Herkunft zurückzugeben, Menschen, die wir nur als Illegale einordnen. Wenn ein Boot kentert sagen wir, 200 Illegale sind ums Leben gekommen, nicht 200 Personen.

    Heinemann: Was bedeutet es, die Wüste unter den Bedingungen dieser Menschen, der Flüchtlinge zu durchqueren?

    Gatti: Das bedeutet, dass man sein Leben den Schleusern übergibt und hofft, dass sie es einem am Bestimmungsort wieder zurückgeben. Es bedeutet auch, diesen Weg wählen zu müssen, weil es keinen anderen gibt. Italien ist das Tor zur Europäischen Union. Rund 23 Prozent der italienischen Wirtschaft ist illegal – die zahlen keine Steuern, oder werden von der Mafia kontrolliert. Das gibt es in etwas geringerem Ausmaß auch in Deutschland, Frankreich und Großbritannien. Diese Wirtschaft benötigt Arbeitskräfte, die über keinerlei Rechte verfügen – illegale Einwanderer eben. Die illegale Einwanderung verringert man am besten, indem man die legale Einwanderung erleichtert und diejenigen Europäer hart bestraft, die diese Schwarzarbeit ausbeuten.

    Heinemann: Aber das ist kein italienisches, sondern ein europäisches Problem ...

    Gatti: Sicherlich ist das ein europäisches Problem – Italien gehört zur Europäischen Union. Die Europäische Union könnte viel tun, aber Einwanderung wird auf nationaler Ebene geregelt. Ein Migrant, dessen Dokumente nicht in Ordnung sind, riskiert in einigen Ländern 18 Monate Haft. Ein korrupter Politiker muss in Italien höchstens mit sechs Monaten Gefängnis rechnen. Wir haben gewählte Abgeordnete im Parlament, die mit der Mafia in Verbindung stehen.

    Heinemann: Was den afrikanischen Teil des Fluchtweges betrifft, erschweren vor allem Polizisten und Soldaten die Lage der Flüchtlinge. Sie schildern sie allesamt als korrupt und gewalttätig ...

    Gatti: Es ist eine bestialische Reise, das habe ich in meinem Buch beschrieben. Diese Menschen werden erpresst und beraubt, nicht nur einmal, wenn sie in der illegalen Wirtschaft angekommen sind, sondern auch während der Reise. In Afrika herrscht die Auffassung, dass, wenn jemand es sich leisten kann, sich auf den Weg zu machen, er denjenigen Geld überlassen muss, die zurückbleiben, also den Soldaten und Polizisten. Denn wenn derjenige erst einmal in Europa angekommen ist, verdient er viel Geld und häuft ein Vermögen an. Das war die Rechtfertigung der Soldaten, die diejenigen schlugen und bestahlen, die auf den Lastwagen durch die Wüste unterwegs waren, mit denen auch ich gereist bin. Und manch einer, dem alles genommen wurde, stirbt oder bleibt als Gefangener der Wüste zum Beispiel in der Oase Dirkou mitten im Nichts hängen. Und ohne Geld ist das das Ende, keiner weiß, wie es dann weitergeht.

    Heinemann: "Informationen am Morgen" im Deutschlandfunk; ein Gespräch mit dem italienischen Journalisten Fabrizio Gatti, dem Autor des Buchs "Bilal - Als Illegaler auf dem Weg nach Europa". - Sie haben mit vielen Flüchtlingen gesprochen. Verfügen diese Menschen über ein wirklichkeitsgetreues Bild, oder idealisieren sie Europa?

    Gatti: Ihr Bild von Europa ist ein Idealbild, gespeist oft von denjenigen, die Erfolg hatten, etwa den afrikanischen Fußballern, die in Europa spielen, gespeist auch durch die Werbung und den Mythos des für jedermann zugänglichen Reichtums. Und dann locken auch Erfahrungen von Freunden und Verwandten und Bekannten, die es geschafft haben. Viele haben es geschafft und viele wollen es schaffen, genauso wie Millionen Italiener, die in der ganzen Welt leben. Die Gründe sind immer die gleichen.

    Heinemann: Fabrizio Gatti, welche war für Sie die wichtigste Erfahrung auf der Insel Lampedusa?

    Gatti: Die dramatischste war für mich zu sehen, wie eigene Landsleute diejenigen misshandelt haben, die gerade mit ihren Booten gestrandet waren. Ich wurde in eine Zelle gesperrt, kaum dass ich aus dem Meer gefischt worden war. Einmal mussten wir uns auf einen Platz setzen, der wegen undichter Toiletten mit Urin und Fäkalien verdreckt war. Toiletten für 190 Personen, die von 1200 benutzt wurden. Das wahre Gesicht Europas zu sehen, das hat bei mir eingeschlagen.

    Heinemann: Haben Sie sich manchmal geschämt, Europäer zu sein?

    Gatti: Sehr oft. Wenn man überlegt, fast alle, die sich auf den Weg machen, empfinden großen Respekt und lieben das, was wir in Europa geschaffen haben: Demokratie, Freiheit. Gegenwärtig sind Tausende Personen in den libyschen Gefängnissen eingesperrt, nur weil sie Migranten sind – es gibt von dort Meldungen über Folter und sexuellen Missbrauch. Wir sind heute im Jahr 2010 Mittäter.

    Heinemann: Der italienische Journalist Fabrizio Gatti, dessen Buch "Bilal - Als Illegaler auf dem Weg nach Europa" im Kunstmann-Verlag erschienen ist.
    Afrikanische Immigranten stehen in einem Auffanglager in der spanischen Exklave Melilla in Marokko für Essen an.
    Afrikanische Immigranten stehen in einem Auffanglager für Essen an. (AP Archiv)
    Helfer tragen auf Lampedusa einen afrikanischen Migranten von einem Schiff der italienischen Marine.
    Helfer tragen auf Lampedusa einen afrikanischen Migranten von einem Schiff. (AP)