Freitag, 19. April 2024

Archiv


"Es ist ja kein vollständiger Abzug"

"Die Sicherheitskräfte Afghanistans sind alleine wahrscheinlich nicht in der Lage, sich den Taliban entgegenzustellen", sagt Thomas Ruttig, Kodirektor des Afghanistan Analyst Network. Eine Unterstützung der Afghanen sei auch nach 2014 nötig - vor allem mit Blick auf die Präsidentschaftswahlen, die 2014 anstehen.

Thomas Ruttig im Gespräch mit Dirk-Oliver Heckmann | 29.11.2012
    Tobias Armbrüster: Die Bundesregierung hat sich gestern auf ein neues Afghanistan-Mandat geeinigt. Es ist ein Abzugsmandat, denn darin wird bereits geregelt, wie die deutsche Militärpräsenz am Hindukusch im kommenden Jahr zurückgefahren wird – von 4400 auf Ende des Jahres dann nur noch 3300 Soldaten. Die afghanische Armee soll deshalb selbst verstärkt Verantwortung im eigenen Land übernehmen. Thomas Ruttig ist Kodirektor des Afghanistan Analyst Network. Das ist eine Forschungseinrichtung, die sich intensiv mit der Entwicklung und der Lage im Land befasst. Mein Kollege Dirk-Oliver Heckmann hat ihn gestern Abend gefragt, was genau auf die Afghanen zukommt, wenn die Alliierten sich jetzt langsam zurückziehen.

    Thomas Ruttig: Ja das kann natürlich niemand so genau vorhersagen und man muss mit verschiedenen Szenarien rechnen, die allerdings alle nicht sehr positiv aussehen. Fast am positivsten von den realistischen Szenarien wäre, dass es so weitergeht wie im Moment, dass halt weiter gekämpft wird mit den Taliban und anderen Aufstandsgruppen auf der anderen Seite und den afghanischen Sicherheitskräften und natürlich nach 2014 auch noch einer Anzahl westlicher Truppen. Es ist ja kein vollständiger Abzug, der Ende 2014 passieren wird.

    Dirk-Oliver Heckmann: Die Bundesregierung erwähnt, dass es zehn Prozent weniger sicherheitsrelevanter Zwischenfälle gegeben habe, auch dass die Zahl der getöteten ISAF-Soldaten deutlich gesunken sei. Wird die Lage aus Ihrer Sicht beschönigt?

    Ruttig: Es gibt immer die Tendenz von Regierungen, natürlich die Lage etwas positiver darzustellen, als sie vielleicht ist. Man muss ja zu seinen politischen Entscheidungen stehen, Ende 2014 abzuziehen, und es ist immer gesagt worden, wir können das tun, weil sich die Situation in positiver Richtung entwickelt. Ich wäre da ein bisschen skeptisch. Die sicherheitsrelevanten Vorfälle, oder nennen wir es beim richtigen Namen, die Aktivitäten der Taliban, sind gegenüber dem Vorjahr nur gering gesunken, auch 2011 gegenüber 2010 nur sehr gering, aber 2010 war bisher das Jahr mit der höchsten Spitze an Taliban-Aktivitäten. Wir befinden uns also immer noch auf einem sehr hohen Gewaltniveau und man muss dann schon etwas längere Zeiträume miteinander vergleichen. Statistiken hinken auch immer ein bisschen. Die Frage ist ja, was wird gezählt. Sicherheitsrelevante Vorfälle, das ist dann nur eine quantitative Größe, aber wie stark sind wirklich die Auswirkungen dieser Schläge. Und man muss dazu sagen, dass die größte Auswirkung der Taliban-Schläge zwar nicht ist, dass die Afghanistan erobern oder Kabul jetzt vielleicht 2014 überrennen, aber vor allen Dingen der afghanischen Zivilbevölkerung Angst einjagen, dass sie wieder an die Macht kommen könnten.

    Heckmann: Was folgt daraus? Ist der Abzug Ende 2014 dann ein Fehler, oder zumindest die Ankündigung, Ende 2014 abziehen zu wollen?

    Ruttig: Ja die Ankündigung war sicher ein Fehler. Die ist sehr früh gekommen und die ist mit übersteigertem Optimismus verbunden worden. Abziehen muss man natürlich, aber man darf auch aus Sicht der Afghanen nur dann abziehen, wenn die wichtigsten Arbeiten erledigt sind, und so ist es noch lange nicht. Die Sicherheitskräfte Afghanistans sind alleine wahrscheinlich nicht in der Lage, sich den Taliban entgegenzustellen. Wir hören immer wieder Berichte, dass sich Soldaten, Polizisten, auch Befehlshaber natürlich mit der anderen Seite verständigen, um sich alle Optionen offenzuhalten für nach 2014. Aber vor allen Dingen auch die politischen Institutionen in Afghanistan sind nach wie vor sehr instabil und haben Legitimitätsprobleme. 2014 stehen auch neue Präsidentschaftswahlen an.

    Heckmann: Die wichtigsten Aufgaben sind immer noch nicht erledigt, obwohl der Westen, die internationale Gemeinschaft, wie es so schön heißt, schon zehn Jahre präsent sind. Was hat der Westen falsch gemacht?

    Ruttig: Na ja, zehn Jahre hört sich für uns sehr lange an, sind zweieinhalb Legislaturperioden des Bundestages. Aber für Afghanistan ist das noch nicht sehr lange. Man hat, glaube ich, sich zu rosige Vorstellungen gemacht, was man in so einem Zeitraum erreichen kann. Es sind sehr viele Fehler gemacht worden. Der Hauptfehler aus meiner Sicht ist, dass man sich am Anfang mit den falschen Leuten verbündet hat, dass man Karsai gezwungen hat, die Warlords in Afghanistan wieder mit an Bord zu nehmen, ins politische System einzusortieren, und mit denen ist einfach keine demokratische Entwicklung zu machen. Inzwischen haben die auch große Teile der Wirtschaft in Afghanistan übernommen. Eine ganz interessante Entwicklung ist ja der derzeit in Kabul laufende Prozess gegen die Kabul-Bank, eine Privatbank, die 900 Millionen Dollar Schaden angerichtet hat mit faulen Krediten, die auch an Wahlkampfkosten rausgegangen sind ans Lager des Präsidenten, aber auch der Opposition. Da ist also einiges faul im Staate Afghanistan.

    Heckmann: Herr Ruttig, Sie sagen, der Westen hat viele Fehler gemacht. Aber ist es nicht so, dass die Afghanen im Prinzip dann doch am Ende selbst verantwortlich sind für die Entwicklung in ihrem Land?

    Ruttig: Das ist natürlich richtig. Aber man muss auch sehen, dass am Anfang der Entwicklung und nach dem Sturz der Taliban erst mal die internationale Staatengemeinschaft nach Afghanistan gegangen ist und dort erst mal bestimmt hat, wo es lang ging. Viele Entscheidungen sind den Afghanen überhaupt nicht überlassen worden, und insofern muss sich der Westen dann schon einen großen Teil der Verantwortung auch ankreiden lassen.

    Heckmann: Aber ist es nicht an der Zeit für die afghanische Seite, wirklich das Schicksal auch selber in die Hand zu nehmen?

    Ruttig: Ja, aber sie können das nicht allein. Wenn ihnen zehn Jahre lang die Entscheidungsbefugnis aus der Hand genommen wird, kann man es jetzt nicht einfach ihnen überlassen und sagen, sorry, bei uns hat es nicht geklappt, macht ihr das jetzt mal. Das muss schon noch eine weitere gemeinsame Verantwortung sein. Und wenn man unserer Regierung zuhört: Die sagt ja auch, wir wollen nach 2014 den Afghanen weiterhelfen. Das ist natürlich richtig.

    Heckmann: Im Fortschrittsbericht war zu lesen, dass der politische Versöhnungsprozess im Land nicht vorangekommen sei. Weshalb nicht?

    Ruttig: Der ist viel zu spät angefangen worden unter der Regierung Bush in den USA. Acht Jahre lang ist gesagt worden, wir reden nicht mit Terroristen. Dann hat man bemerkt, dass man sie militärisch nicht schlagen kann, und hat versucht, die Kurve zu kriegen. Aber da hatten die Taliban schon vom Abzugsdatum Ende 2014 gehört und versuchen natürlich, auf Zeit zu spielen. Außerdem muss man jetzt sehen, dass die Taliban mehr sind als Terroristen. In der afghanischen Bevölkerung, weit über die Taliban hinaus, hat sich eben großer Unmut angesammelt über die Art und Weise, wie Entscheidungsbefugnisse den Afghanen im Parlament, oft dem Präsidenten sogar aus der Hand genommen worden sind, und viele sehen das internationale Engagement inzwischen als Besatzung. Das ist ein moralisches Kapital, mit dem die Taliban wuchern.

    Heckmann: Ganz kurz noch, Herr Ruttig. Glauben Sie, dass die Afghanen eines Tages friedlich leben können?

    Ruttig: Ja natürlich! Aber es wird wahrscheinlich noch eine Weile dauern.

    Armbrüster: Soweit Thomas Ruttig, der Kodirektor des Afghanistan Analyst Network, gestern Abend im Gespräch mit meinem Kollegen Dirk-Oliver Heckmann.


    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.