Dirk Müller: Unabhängig werden, eigenständig werden, souverän werden. Das ist historisch schon immer das Bestreben vieler Völker gewesen. Weg vom Joch der Griechen, vom Joch der Römer in alter Zeit beispielsweise. In jüngster Zeit das Beispiel Kosovo, eine Provinz, die unabhängig werden wollte von Serbien. Es hat schließlich funktioniert, auch weil andere namhafte Staaten - allen voran die USA - das Kosovo anerkannt haben.
Am Telefon ist nun Wolfgang Petritsch, österreichischer OECD-Botschafter in Paris und vormals Balkan-Beauftragter der Europäischen Union. Guten Morgen!
Wolfgang Petritsch: Guten Morgen.
Müller: Herr Petritsch, bestimmen immer die Größeren, was die Kleineren tun dürfen?
Petritsch: Ja. Das spielt sicherlich eine realpolitisch sehr wichtige Rolle, in welchem größeren Zusammenhang sich ein Konflikt abspielt und eine Sezession versucht wird. Das haben wir jetzt natürlich auch gerade am Balkan bemerkt und wir sehen das im Augenblick auch im Kaukasus.
Müller: Viele Demokraten oder viele, die in Demokratien leben, denken ja, wenn ein Volk sich selbst bestimmen will, dann darf es das auch tun.
Petritsch: Nun, es gibt im Wesentlichen zwei Prinzipien. Das eine ist in der Tat das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Das ist ja seit dem Ersten Weltkrieg ein international mehr oder weniger anerkanntes Prinzip, wird auch eben von den Vereinten Nationen vertreten. Und zum zweiten die Souveränität der Staaten. Diese zwei Prinzipien kollidieren miteinander und dadurch entstehen Schwierigkeiten, wie wir sie jetzt eben gerade miterleben.
Müller: Versuchen wir uns vielleicht politisch, auch emotional dem Thema etwas zu nähern. Haben Sie Verständnis für die Absichten in Südossetien?
Petritsch: Es gibt natürlich Gründe, warum die Süd-Osseten versuchen, von Georgien weg zu kommen. Es gibt eben noch Nordossetien und die Vereinigung mit ihren Brüdern, mit denen sie auch ethnisch verwandt sind, ist sozusagen ein durchaus legitimes Anliegen.
Grundsätzlich ist das Problem: wenn große Imperien zerfallen, entstehen neue Grenzen und damit neue Schwierigkeiten. Das gilt sowohl für die Sowjetunion und die Nachfolgestaaten als auch eben für die jugoslawischen Nachfolgestaaten. Wenn da keine tatsächlich international anerkannten Regeln existieren, nämlich die dann auch von beiden Konfliktseiten oder wie viele Seiten es dazu immer gibt anerkannt werden, dann führt das zu Problemen.
Im Fall Europas zum Beispiel gibt es ja doch immer wieder so etwas und es ist im vorigen Bericht nicht erwähnt worden, dass es Probleme durchaus auch zum Beispiel in Belgien gibt. Dort ist dann sozusagen der breitere und größere Rahmen der Europäischen Union so wichtig. Diesen gibt es zum Beispiel jetzt noch am Balkan nicht und diesen gibt es vor allem nicht im Kaukasus. Das heißt hier einen regionalen Ansatz zu finden und damit dieses "entweder oder" etwas runterzubringen, das wäre an sich die politische Aufgabe. Die kann aber nur längerfristig erreicht werden.
Müller: Versuchen wir doch noch einmal auf das Beispiel einzugehen, was Sie persönlich miterlebt haben. Sie waren immer vor Ort, haben viele Gespräche, viele Verhandlungen geführt. Ist das in irgendeiner Form vergleichbar, das was die Kosovaren wollten, die Mehrheit jedenfalls im Kosovo, mit dem, was jetzt die Süd-Osseten wollen?
Petritsch: Vergleichbarkeiten sind immer äußerst subjektiv und vom jeweiligen Standpunkt aus zu betrachten und auch zu beurteilen. Ich würde aber meinen, dass es im Falle Kosovos schon einen wesentlich längeren Verhandlungsprozess gegeben hat - einerseits durch internationales Engagement, aber auch zwischen den Konfliktparteien, und zum zweiten hat es eben doch im Zusammenhang mit dem Kosovo schwere Rechtsverletzungen gegeben, die sowohl von Milosevic einerseits, also vom damaligen Jugoslawien ausgegangen sind. Man muss bedenken, dass ja doch die Provinz Kosovo de facto innenpolitisch im alten Jugoslawien Serbien gleichgestellt war.
Müller: Diese Verletzungen, Herr Petritsch, sollen die Georgier auch in Südossetien begangen haben.
Petritsch: Genau. Der einzige Unterschied war jetzt, wenn ich das einmal politisch beurteile: Der wichtige Unterschied zwischen diesen beiden Konfliktherden ist, dass im Kosovo tatsächlich eine ethnische Vertreibung versucht worden ist, also eine Zerstörung eines Volkes. Diese systematischen Menschenrechtsverletzungen, die ethnischen Vertreibungen haben ja schließlich und endlich dann zur militärischen Intervention geführt, die nicht UNO-sanktioniert war, weil eben Russland dagegen gewesen ist, aber dennoch eine neue Grundlage geschaffen hat. Das heißt, damals wurde eben von Serbien aus und dem damaligen kleineren Jugoslawien, von Milosevic, das Prinzip der Schutzverantwortung des Staates für seine Bürger aufs schwerste verletzt und daraus zieht man jetzt völkerrechtlich gewisse Konsequenzen. Dieser Unterschied, meine ich, existiert eben immer noch zwischen Kosovo und Südossetien.
Müller: Herr Petritsch, ist das denn aus internationaler Sicht, auch aus UNO-Sicht zufriedenstellend, wenn ich Sie jetzt richtig interpretiere oder interpretieren darf, dass es im Grunde erst zum Äußersten kommen muss, bevor ein Volk dann das Recht bekommt, sich loszulösen?
Petritsch: Das ist die riesengroße Problematik, die insgesamt auch mit diesem Prinzip der Schutzverantwortung des Staates verbunden ist. Wie weit muss der Staat jetzt in negativer Weise beweisen, dass er nicht willens und fähig ist, seine Bürger zu schützen. Das, glaube ich, wird noch in den nächsten Jahren stärker herauszuarbeiten sein - auch im Rahmen der Vereinten Nationen. Und vor allem muss man einfach sehen, dass der Sicherheitsrat de facto in beiden Fällen blockiert ist - in einem Fall, eigentlich in beiden Fällen von Seiten Russlands -, aber dass damit eben kein internationaler Mechanismus besteht, um diese Probleme zu lösen. Deshalb meinen eben die Völker, sie müssen ihr Recht in ihre eigenen Hände nehmen und eine Lösung schaffen.
Müller: Um den Zynismus vielleicht noch mal auf die Spitze zu treiben, Herr Petritsch, könnte man auch festhalten, noch mehr Gewalt in Südossetien könnte dazu führen, dass Südossetien unabhängig wird.
Petritsch: Diese Gefahr besteht zweifellos. Aus dem Grund besteht ja auch die Handlungsnotwendigkeit Russlands im Rahmen der Vereinten Nationen. Es gibt ja bereits eine UNO-Mission dort. Insofern gibt es auch bereits eine Internationalisierung des Problems. Und vor allem müssten, glaube ich, Europäische Union und die Vereinigten Staaten hier an einem Strang ziehen und versuchen, eine entsprechende friedliche Lösung zu finden, die nicht notwendigerweise in der Unabhängigkeit liegen muss, die aber auch nicht notwendigerweise jetzt einen Status Quo bedeuten sollte.
Müller: Schlägt letztendlich die politische Machtkonstellation das Völkerrecht?
Petritsch: Es gibt klarerweise diese Zusammenhänge. Es ist letzten Endes Machtpolitik, die in solchen Konfliktsituationen doch sehr, sehr entscheidend ist. Wir haben das natürlich auch im Kosovo erlebt, wo ein relativ kleiner Staat wie Jugoslawien oder Serbien sicherlich benachteiligt ist. Aber wir sehen andererseits auch, dass große Staaten wie Russland sich dann durchaus als Schutzmacht aufspielen beziehungsweise wenn es um ihren eigenen Nachbarschaftsbereich geht wie in Südossetien, Abchasien etc. große Staaten einfach mehr Möglichkeiten haben.
Müller: Bei uns im Deutschlandfunk Wolfgang Petritsch, österreichischer OECD-Botschafter in Paris. Vielen Dank für das Gespräch und auf Wiederhören.
Petritsch: Danke schön.
Am Telefon ist nun Wolfgang Petritsch, österreichischer OECD-Botschafter in Paris und vormals Balkan-Beauftragter der Europäischen Union. Guten Morgen!
Wolfgang Petritsch: Guten Morgen.
Müller: Herr Petritsch, bestimmen immer die Größeren, was die Kleineren tun dürfen?
Petritsch: Ja. Das spielt sicherlich eine realpolitisch sehr wichtige Rolle, in welchem größeren Zusammenhang sich ein Konflikt abspielt und eine Sezession versucht wird. Das haben wir jetzt natürlich auch gerade am Balkan bemerkt und wir sehen das im Augenblick auch im Kaukasus.
Müller: Viele Demokraten oder viele, die in Demokratien leben, denken ja, wenn ein Volk sich selbst bestimmen will, dann darf es das auch tun.
Petritsch: Nun, es gibt im Wesentlichen zwei Prinzipien. Das eine ist in der Tat das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Das ist ja seit dem Ersten Weltkrieg ein international mehr oder weniger anerkanntes Prinzip, wird auch eben von den Vereinten Nationen vertreten. Und zum zweiten die Souveränität der Staaten. Diese zwei Prinzipien kollidieren miteinander und dadurch entstehen Schwierigkeiten, wie wir sie jetzt eben gerade miterleben.
Müller: Versuchen wir uns vielleicht politisch, auch emotional dem Thema etwas zu nähern. Haben Sie Verständnis für die Absichten in Südossetien?
Petritsch: Es gibt natürlich Gründe, warum die Süd-Osseten versuchen, von Georgien weg zu kommen. Es gibt eben noch Nordossetien und die Vereinigung mit ihren Brüdern, mit denen sie auch ethnisch verwandt sind, ist sozusagen ein durchaus legitimes Anliegen.
Grundsätzlich ist das Problem: wenn große Imperien zerfallen, entstehen neue Grenzen und damit neue Schwierigkeiten. Das gilt sowohl für die Sowjetunion und die Nachfolgestaaten als auch eben für die jugoslawischen Nachfolgestaaten. Wenn da keine tatsächlich international anerkannten Regeln existieren, nämlich die dann auch von beiden Konfliktseiten oder wie viele Seiten es dazu immer gibt anerkannt werden, dann führt das zu Problemen.
Im Fall Europas zum Beispiel gibt es ja doch immer wieder so etwas und es ist im vorigen Bericht nicht erwähnt worden, dass es Probleme durchaus auch zum Beispiel in Belgien gibt. Dort ist dann sozusagen der breitere und größere Rahmen der Europäischen Union so wichtig. Diesen gibt es zum Beispiel jetzt noch am Balkan nicht und diesen gibt es vor allem nicht im Kaukasus. Das heißt hier einen regionalen Ansatz zu finden und damit dieses "entweder oder" etwas runterzubringen, das wäre an sich die politische Aufgabe. Die kann aber nur längerfristig erreicht werden.
Müller: Versuchen wir doch noch einmal auf das Beispiel einzugehen, was Sie persönlich miterlebt haben. Sie waren immer vor Ort, haben viele Gespräche, viele Verhandlungen geführt. Ist das in irgendeiner Form vergleichbar, das was die Kosovaren wollten, die Mehrheit jedenfalls im Kosovo, mit dem, was jetzt die Süd-Osseten wollen?
Petritsch: Vergleichbarkeiten sind immer äußerst subjektiv und vom jeweiligen Standpunkt aus zu betrachten und auch zu beurteilen. Ich würde aber meinen, dass es im Falle Kosovos schon einen wesentlich längeren Verhandlungsprozess gegeben hat - einerseits durch internationales Engagement, aber auch zwischen den Konfliktparteien, und zum zweiten hat es eben doch im Zusammenhang mit dem Kosovo schwere Rechtsverletzungen gegeben, die sowohl von Milosevic einerseits, also vom damaligen Jugoslawien ausgegangen sind. Man muss bedenken, dass ja doch die Provinz Kosovo de facto innenpolitisch im alten Jugoslawien Serbien gleichgestellt war.
Müller: Diese Verletzungen, Herr Petritsch, sollen die Georgier auch in Südossetien begangen haben.
Petritsch: Genau. Der einzige Unterschied war jetzt, wenn ich das einmal politisch beurteile: Der wichtige Unterschied zwischen diesen beiden Konfliktherden ist, dass im Kosovo tatsächlich eine ethnische Vertreibung versucht worden ist, also eine Zerstörung eines Volkes. Diese systematischen Menschenrechtsverletzungen, die ethnischen Vertreibungen haben ja schließlich und endlich dann zur militärischen Intervention geführt, die nicht UNO-sanktioniert war, weil eben Russland dagegen gewesen ist, aber dennoch eine neue Grundlage geschaffen hat. Das heißt, damals wurde eben von Serbien aus und dem damaligen kleineren Jugoslawien, von Milosevic, das Prinzip der Schutzverantwortung des Staates für seine Bürger aufs schwerste verletzt und daraus zieht man jetzt völkerrechtlich gewisse Konsequenzen. Dieser Unterschied, meine ich, existiert eben immer noch zwischen Kosovo und Südossetien.
Müller: Herr Petritsch, ist das denn aus internationaler Sicht, auch aus UNO-Sicht zufriedenstellend, wenn ich Sie jetzt richtig interpretiere oder interpretieren darf, dass es im Grunde erst zum Äußersten kommen muss, bevor ein Volk dann das Recht bekommt, sich loszulösen?
Petritsch: Das ist die riesengroße Problematik, die insgesamt auch mit diesem Prinzip der Schutzverantwortung des Staates verbunden ist. Wie weit muss der Staat jetzt in negativer Weise beweisen, dass er nicht willens und fähig ist, seine Bürger zu schützen. Das, glaube ich, wird noch in den nächsten Jahren stärker herauszuarbeiten sein - auch im Rahmen der Vereinten Nationen. Und vor allem muss man einfach sehen, dass der Sicherheitsrat de facto in beiden Fällen blockiert ist - in einem Fall, eigentlich in beiden Fällen von Seiten Russlands -, aber dass damit eben kein internationaler Mechanismus besteht, um diese Probleme zu lösen. Deshalb meinen eben die Völker, sie müssen ihr Recht in ihre eigenen Hände nehmen und eine Lösung schaffen.
Müller: Um den Zynismus vielleicht noch mal auf die Spitze zu treiben, Herr Petritsch, könnte man auch festhalten, noch mehr Gewalt in Südossetien könnte dazu führen, dass Südossetien unabhängig wird.
Petritsch: Diese Gefahr besteht zweifellos. Aus dem Grund besteht ja auch die Handlungsnotwendigkeit Russlands im Rahmen der Vereinten Nationen. Es gibt ja bereits eine UNO-Mission dort. Insofern gibt es auch bereits eine Internationalisierung des Problems. Und vor allem müssten, glaube ich, Europäische Union und die Vereinigten Staaten hier an einem Strang ziehen und versuchen, eine entsprechende friedliche Lösung zu finden, die nicht notwendigerweise in der Unabhängigkeit liegen muss, die aber auch nicht notwendigerweise jetzt einen Status Quo bedeuten sollte.
Müller: Schlägt letztendlich die politische Machtkonstellation das Völkerrecht?
Petritsch: Es gibt klarerweise diese Zusammenhänge. Es ist letzten Endes Machtpolitik, die in solchen Konfliktsituationen doch sehr, sehr entscheidend ist. Wir haben das natürlich auch im Kosovo erlebt, wo ein relativ kleiner Staat wie Jugoslawien oder Serbien sicherlich benachteiligt ist. Aber wir sehen andererseits auch, dass große Staaten wie Russland sich dann durchaus als Schutzmacht aufspielen beziehungsweise wenn es um ihren eigenen Nachbarschaftsbereich geht wie in Südossetien, Abchasien etc. große Staaten einfach mehr Möglichkeiten haben.
Müller: Bei uns im Deutschlandfunk Wolfgang Petritsch, österreichischer OECD-Botschafter in Paris. Vielen Dank für das Gespräch und auf Wiederhören.
Petritsch: Danke schön.