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Essays von Ruth Klüger
Forschende Schriftstellerin

In "weiter leben" und "unterwegs verloren" hat die Schriftstellerin Ruth Klüger über ihr Leben Zeugnis abgelegt. Als Germanistin hat sie über die deutsche Literatur seit dem Mittelalter geforscht. Eine Aufsatzsammlung gibt jetzt Einblick in ein europäisch-amerikanisches Forscherinnenleben.

Von Paul Stoop | 06.10.2021
Ruth Klüger: "Wer rechnet schon mit Lesern?" Zu sehen sind die Autorin und das Buchcover
Ruth Klüger war Schriftstellerin und Germanistin. Jetzt sind posthum Essays von ihr erschienen. (Cover: Wallstein Verlag / Foto: imago / Müller-Stauffenberg)
Die jüdische Wienerin Ruth Klüger ist der deutschen Sprache immer treu geblieben – trotz der Verfolgung durch das NS-Regime und der Emigration in die USA. In Amerika schloss sie das in Regensburg begonnene Germanistikstudium ab, wurde promoviert und lehrte jahrzehntelang Germanistik. Vom persönlich durchlittenen 20. Jahrhundert hielt sich die Barock-Spezialistin zunächst fern. Erst später befasste sie sich mit der Gegenwartsliteratur und mischte sich in aktuelle deutsche Debatten ein.
Diese Erweiterung von Klügers Themenspektrum belegt die Aufsatzsammlung "Wer rechnet schon mit Lesern?" mit Beiträgen vom Ende der 1960er- bis zur Mitte der Neunzigerjahre, jeweils in der Sprache der Originalausgabe, mal deutsch, mal englisch.

"Epochenüberblick"

Wie Gewinnbringend die Verbindung von philologischen, kultur- und sozialhistorischen Perspektiven sein kann, zeigt Ruth Klüger im längsten, 60 Seiten zählenden Essay "Renaissance, Reformation", einem – wie sie es nennt – "Epochenüberblick". Der technische Fortschritt wie die Erfindung der Buchdruckkunst, gesellschaftliche Entwicklungen wie das Erstarken bürgerlichen Selbstbewusstseins, ökonomische Faktoren wie der verstärkte Handelsaustausch und die Sammelleidenschaft der Oberschicht – all das bildet den Rahmen für die Vorstellung wichtiger Werke und Autoren der Zeit von 1350 bis 1620.
Der Bogen spannt sich von der Lutherbibel über Dramen bis zu Liederbüchern und Fastnachtspielen. Nichtgermanisten treffen auf wenig bekannte Namen wie Sebastian Brant, der den ersten deutschen Bestseller schrieb, das 1494 erschienene "Narrenschiff". Diese Versdichtung voller Spott und Selbstironie befasst sich mit der Endlichkeit des Menschen. Jeder könne, so lautet die Moral, zum Narren werden, der vergisst sich der eigenen Sterblichkeit bewusst zu sein – in der damaligen Sprache "tötlichkeit", wie Klüger ein Zitat erläutert:
"O Narr, gedenk zu aller Frist,
Daß du ein Mensch und tötlich bist.
Und nichts als Leim, Asch, Erd und Mist."
Die Holocaust-Überlebende Ruth Klüger spricht am 27.01.2016 in Berlin im Bundestag bei der Gedenkveranstaltung.
"Erinnerung belastet und erlöst"
1931 als Tochter einer Arztfamilie geboren, verlebte Ruth Klüger die ersten Jahre ihrer Kindheit in Wien. Im September 1942 wurden Mutter und Tochter deportiert. Wie durch ein Wunder gelang ihnen kurz vor dem Kriegsende die Flucht. Als der Krieg vorbei war, galt für sie nur eins: endlich leben.

Einführung in die frühe deutsche Literatur

Klügers gelehrte Abhandlung wäre hervorragend geeignet als wissenschaftliche Einführung in die frühe deutsche Literatur, macht aber auch nicht spezialisierte Leser neugierig auf diese Epoche. In anderen Artikeln befasst sich Klüger mit vertrauten Autoren wie Franz Grillparzer und Elisabeth Langgässer, mit dem fast vergessenen Eugen Gottlob Winkler und Adolph Freiherr Knigge, dessen Etikette-Buch "Umgang mit Menschen" sie als fragmentierten Roman liest.
Klügers Interesse an Genderfragen ist schon in frühen Beiträgen deutlich. Sie bedauert die geringe Beachtung für Literatur von Autorinnen, beharrt beim Plädoyer für eine Erweiterung des Blicks aber auf einer nüchternen Betrachtung literarischer Qualität. Angesichts des, wie sie schreibt, "bedauernswerten Mangels" an erstklassigen Autorinnen wäre ein Seminar über deutsche Literatur von Frauen schwer zusammenzustellen. Zur Not wäre das zwar machbar, schreibt sie,
"aber es ist nicht dasselbe wie ein Seminar über Jane Austen, die Brontë-Schwestern, George Eliot und Virginia Woolf zu geben".

Kritischer Blick auf das eigene Fach

Eine solche, für Klüger typische kühle Einschätzung geht einher mit einem kritischen Blick auf das eigene Fach. Es sei weit mehr gefordert als ein Aufschrei der Empörung über die Vernachlässigung weiblicher Perspektiven:
"Einer feministischen Kritik wird von vielen Seiten mit Misstrauen begegnet, aber wir sollten es uns selbst nicht so leicht machen, dieses Misstrauen einzig und allein dem tief verwurzelten männlichen Chauvinismus unserer Zunft zuzuschreiben. Die Wahrheit ist, dass wir selbst noch gar nicht richtig mit dieser Arbeit begonnen haben."
Ruth Klügers wissenschaftliche Prosa ist präzise und klar. Akribische Textarbeit und das Aufspüren verborgener literarischer Bezüge über mehrere Jahrhunderte verbindet sie auch mal mit treffsicherer Polemik. Das zeigt ihr Verriss des Grass-Romans "Der Butt", dessen misogyne Tendenz sie aufdeckt. Die Frauen seien holzschnittartig dargestellt, etwa als "weibliche Pseudo-Intellektuelle ohne eigenen Verstand". Grass reproduziere alte Vorurteile und Klischees, urteilt Klüger über ein einfältiges Gedicht, das Grass der Mystikerin Dorothea von Montau in den Mund legt:
"Grass verleibt sich diese Klischees ein, würgt sie unverdaut wieder aus und serviert sie garniert mit ganz besonders idiotischen Versen. (...) Mit schlechten Versen von Frauen illustriert er Frauendichtung und zitiert im Gegenzug, fein ausgewählt, die besten Werke männlicher barocker Dichter".

Auf unterhaltsame Weise belehrend

Die von Gesa Dane herausgegebene und mit einem informativen Nachwort versehene Ausgabe ist eine willkommene Ergänzung zu Ruth Klügers autobiografischen Arbeiten – und führt vor Augen, dass eine nicht hermetisch betriebene Germanistik anregend und auf unterhaltsame Art belehrend sein kann.
Ruth Klüger: "Wer rechnet schon mit Lesern? Aufsätze zur Literatur"
Herausgegeben von Gesa Dane
Wallstein Verlag, Göttingen. 256 Seiten, 24 Euro.