Dienstag, 14. Mai 2024

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Essstörungen im Sport
Ein sportliches Toptalent wird magersüchtig

Cora Bögeholz war ein großes Talent im deutschen Rollkunstlauf. Vier Mal Deutsche Jugendmeisterin, Starts bei Europameisterschaften. Um sportlich noch besser zu werden, reduzierte sie ihr Gewicht. Doch eines Tages wog sie nur noch 39 Kilo und rutschte in die Magersucht ab. Protokoll einer Schussfahrt.

Von Johannes Seemüller | 19.06.2022
Eine Rollkunstläuferin in Aktion.
Cora Bögeholz war als junge Athletin eine der besten ihres Sports, dann begann sie, an ihrem Gewicht zu feilen. (imago / Claus Bergmann)
Am Anfang sind da Spaß und Leichtigkeit. Mit fünf kommt Cora Bögeholz über ihre ältere Schwester zum Rollkunstlauf. Ihr gefällt dieser Mix aus Ausdauer, Kraft und Beweglichkeit. Das Mädchen ist schnell erfolgreich.
Mit zehn gewinnt sie ihren ersten deutschen Meistertitel im Jugendbereich. Bald darauf startet sie für Deutschland bei den Europameisterschaften. Das Rollkunstlaufen bedeutet ihr alles.

Pubertät macht dem Körper zu schaffen

Dann kommt sie in die Pubertät. Mit 14 verändert sich ihr Körper, sie wird fraulicher. Diese körperlichen Veränderungen machen sich auch im Wettbewerb bemerkbar.
"Da waren dann Elemente und Sprünge, die vorher super geklappt haben, die dann nicht mehr funktioniert haben, was natürlich erst mal total demotivierend ist. Dann kam neben dem Körperlichen das Psychische dazu. Man war nicht mehr so selbstbewusst, dass ich vieles überdacht habe. Früher bin ich als Kind auf die Bahn gegangen, habe meinen Stiefel gemacht, und bin wieder runtergegangen."

Am Gewicht feilen

Doch jetzt ist die Unbeschwertheit dahin. Hinzu kommen starke Rückenprobleme. Mehrfach muss die Athletin Trainingspausen einlegen. Es kommt, ohne Coras Wissen, zu einem Gespräch zwischen ihren Trainern und Eltern. Die überlegen, ob es nicht sinnvoll wäre, wenn Cora an ihrem „Gewicht feilen“ würde.
"Die Rede war da von ungefähr fünf Kilo. Dadurch, dass ich dann weniger Masse hätte, hätte ich auch weniger Probleme mit Rücken, Füße und Knien, was da alles so alles geschmerzt hat. Aber es wurde mir nie richtig kommuniziert. Ich habe dann durch die Hintertür - zuhause, bei meiner Mama - dann so Sprüche gehört wie 'Möchtest du das jetzt auch noch essen?' oder: 'Das hat aber ganz schön viele Kohlenhydrate' oder: 'Das ist aber sehr ungesund'. Was bei mir das Gefühl ausgelöst hat: Ich bin zu dick. Ich muss weniger essen. Ich wiege zu viel."

Positive Erfahrungen nach Gewichtsabnahme

Bald darauf werden ihr die Weisheitszähne gezogen. Sie darf fast nichts essen und verliert an Gewicht. Plötzlich gibt es von allen Seiten Komplimente – in der Schule und im Training.
"Ich sehe gut aus, dadurch, dass ich ein bisschen abgenommen habe. Meine Sprünge haben besser funktioniert als früher. Ich habe gemerkt: Es bringt mich voran, es bringt mir etwas – und habe dann danach meine Ernährung komplett umgestellt, und bin dann da reingerutscht, weil ich positive Erfahrungen damit gemacht habe."

Frühstück vor der Schule wird eingespart

Cora, die sehr perfektionistisch ist, sortiert bestimmte Lebensmittel aus: Sie isst keine Süßigkeiten mehr; Fleisch- und Milchprodukte sind irgendwann tabu. Sie verzichtet auf das Frühstück vor der Schule und spart sich somit eine Mahlzeit. Sie ist 15 und nimmt kaum noch Kalorien zu sich.
"Dadurch, dass ich immer weniger gegessen hatte und immer weniger Nährstoffe hatte, fing das an mit Haarausfall, dass ich total Haarausfall hatte. Ich war müde, ich war schlapp. Ich konnte mich nicht mehr gut konzentrieren. Ich hatte keine Motivation mehr. Ich war irgendwann so energielos, dass ich nur noch schlafen wollte. Ich wollte am liebsten nur noch ins Bett – und ich hatte auch keine Motivation mehr, zum Training zu gehen."

Mit 17 Jahren nur noch 39 Kilo auf der Waage

Die Jugendliche wird immer kraftloser. Sie befindet sich auf einer Schussfahrt, die sie nicht mehr stoppen kann. Kurz nach ihrem 17. Geburtstag wiegt sie nur noch 39 Kilo. Gemeinsam mit ihrer Mutter und mit der Trainerin entscheidet sie, mit dem Rollkunstlaufen zu pausieren. Cora zieht sich zurück, denkt viel nach und recherchiert im Netz.
"Da war eine Tabelle mit Fakten, die auf eine Magersucht hindeuten könnten. Und ich habe nur so: Checkliste. Ja, ja, ja. Überall ja. Ich hatte mich stark eingelesen und selbst viel recherchiert, und bin dann dadurch zu dem Entschluss gekommen: Okay, da stimmt wirklich etwas nicht."

Der Körper muss erst wieder lernen mit Nahrung umzugehen

Cora sucht sich Hilfe bei einer Kinder- und Jugendpsychologin. Sie geht regelmäßig zur Therapie. Trotz einiger Rückschläge entwickelt sich vieles zum Positiven. Allerdings muss ihr Körper erst wieder lernen, richtig mit Nahrung umzugehen. Obwohl Cora sich viel bewegt und wieder normal isst, nimmt sie über 20 Kilo zu. Sie fühlt sich nicht mehr wohl in ihrer Haut. Aber:
"Irgendwann habe ich dann auch verstanden: Ich muss da jetzt durch, der Körper braucht seine Zeit, um sich selbst wieder zu erholen. Ich hatte fast anderthalb Jahre meine Periode nicht. Das hat auf jeden sehr lange gedauert, bis sich das Ganze wieder eingependelt hat, bis sich das vom Gewicht reguliert hat, dass ich nicht mehr zugenommen habe."

Um anderen zu helfen, macht Cora ihre Geschichte öffentlich

Inzwischen hat Cora wieder ihr Normalgewicht erreicht. Sie ernährt sich weiterhin gesund, aber gönnt sich auch mal Schokolade oder eine Pizza. Mit dem wettkampfmäßigen Rollkunstlaufen hat sie nicht wieder begonnen.
Dafür aber mit einem Studium. Das Thema „Essstörungen im Sport“, so hat sie festgestellt, ist nach wie vor ein Tabu. Um dies zu ändern, macht die 19-Jährige ihre Geschichte öffentlich.
"Wenn ich nur einer einzigen Person mit meiner Geschichte helfen kann, dann ist ja eigentlich alles erreicht."