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Estland
Neue Gesichter, neue Koalitionen

Seit den 90er Jahren gab es in Estland vor allem Mitte-Rechts-Regierungen. Diese Zeiten sind vorbei: eine neue politische Kraft will ins Parlament, die rechtskonservative Ekre-Partei sitzt am Kabinettstisch. Estlands politische Landschaft ist in Bewegung.

Von Frederik Rother | 22.11.2019
Artjem Trochatschew ist Mitglied der jungen Partei Eesti 200
Artjem Trochatschew, Mitglied der liberalen Partei Eesti 200, in einer Tallinner Kneipe (Deutschlandradio / Frederik Rother)
Artjem Trochatschew hat eine Kneipe in der Tallinner Innenstadt als Treffpunkt vorgeschlagen. Ein großzügiger Raum in einem Altbau, gedimmtes Licht, dezente Musik, gemütliche Wohnzimmeratmosphäre.
Der 20-jährige Artjem taucht zurzeit regelmäßig in den estnischen Medien auf – als Jungpolitiker und LGBT-Aktivist. In einer ruhigen Ecke der Kneipe erzählt er, dass er erst gestern an einer im Internet gestreamten Debatte teilgenommen hat. Thema: Die Gleichberechtigung von Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transgender.
"Die LGBT-Gegner sehen sich von Ekre bestätigt"
Darüber wird in Estland aktuell hitzig diskutiert – befeuert vor allem von der rechtskonservativen Regierungspartei Ekre.
"Grob gesagt ist es so, dass die Leute, die gegen die LGBT-Gemeinschaft sind, sich jetzt bestätigt sehen und das Gefühl haben, dass der Staat, zumindest in Form von Ekre, sie dabei unterstützt. Andererseits ist es aber auch so, dass Ekre die LGBT-Gemeinschaft anspornt, ihre Rechte zu verteidigen und sich öfter zu äußern."
Dieser Beitrag gehört zur fünfteiligen Reportagereihe "Estland – Die Wende nach der Wende".
Artjem findet, dass Estland polarisiert und gespalten ist. Dagegen will er etwas tun, als Aktivist – und als Mitglied der liberalen Partei Eesti 200.
"In erster Linie glaube ich, dass Gespräche wichtig sind. So ist es auch beim Thema LGBT: Je mehr die Leute drüber reden und erfahren, desto toleranter werden sie. Sie merken, dass es um nichts Schlimmes geht. Das ist auch unser Ziel bei Eesti 200. Wir wollen vor allem eine liberalere Politik in Estland und gute Beziehungen zwischen den Menschen."
Politische Dynamik in Estland
Eesti 200 hat sich erst vor einem Jahr gegründet. Die Partei ist Ausdruck einer spürbaren Dynamik im Land. Dazu zählen auch die LGBT-Debatte und die Tatsache, dass die rechtskonservative Partei Ekre erstmals in der Regierung ist.
"Ich denke, die Regierungsbeteiligung von Ekre hat viel verändert, vor allem mit Blick darauf, wie in Estland Koalitionen gebildet werden. Estland war über die Jahre politisch sehr pragmatisch."
Sagt Mari-Liis Jakobson, Politikwissenschaftlerin an der Universität Tallinn. Seit der Unabhängigkeit Estlands 1991 gab es überwiegend Mitte-Rechts-Regierungen.
Für Jakobson ist das vor allem die Folge der liberalen Wirtschaftsreformen in den 90er Jahren, Estlands Weg von der Planwirtschaft zur Marktwirtschaft.

Die Tallinner Kneipe, in der das Treffen mit Artjem Trochatschew stattfindet
Schauplatz des Treffens: eine Kneipe in einem Altbau in Tallinn (Deutschlandradio / Frederik Rother)
Aber die "politisch pragmatischen" Zeiten sind wohl vorbei. Die aktuelle Regierungskoalition besteht aus einer rechtskonservativen, einer konservativen und einer Mitte-Links-Partei, es gibt viele Konflikte.
"Wir haben eine sehr interessante politische Situation hier im Land, und Estland holt quasi auf beim Trend des Rechtspopulismus."
Geopolitische Sitution für Estland wichtig
Dann skizziert die Politikwissenschaftlerin Jakobson die großen Herausforderungen, denen sich die estnische Politik ihrer Meinung nach stellen muss.
"Wir sind mit 1,3 Millionen Einwohnern ein recht kleines Land. Unsere geopolitische Situation ist ein sehr wichtiges Thema. Mit wem verbünden wir uns, das ist eine der Schlüsselfragen."
Estland ist seit 2004 EU- und Nato-Mitglied, es gibt eine direkte Grenze zu Russland. Wie in allen baltischen Staaten sind auch in Estland Nato-Truppen stationiert, als Signal an Moskau. EU wie Nato genießen viel Zustimmung in der Bevölkerung, auch unter den Ekre-Wählern.
Ekre-Funktionäre äußern sich jedoch immer wieder EU-kritisch, die russischsprachige Gemeinschaft im Land steht der Nato-Mitgliedschaft teilweise skeptisch gegenüber.
Sprachliche und wirtschaftliche Herausforderungen
"Estland hat ja eine ziemlich große russischsprachige Bevölkerung. Und hier steht immer die Frage im Raum: Wie kann man beide Sprachgruppen einander näher bringen? Die Situation ist zwar seit den 90er Jahren besser geworden, aber man kann trotzdem immer noch sagen, dass es zwei separate Gemeinschaften sind, die wenig verbindet."
Und die auch nicht die gleichen Chancen haben. Beispiel Arbeitsmarkt: Experten sprechen immer wieder von der gläsernen Decke. Mitglieder der russischsprachigen Gemeinschaft hätten nicht die gleichen Aufstiegs- und Karrieremöglichkeiten wie Esten, heißt es.
Eine weitere Herausforderung, die Mari-Liis Jakobson sieht: die wirtschaftliche Situation.
"Der Durchschnittslohn im Land wächst zwar konstant, aber mit 1.300, 1.400 Euro ist er noch immer relativ niedrig, etwa im Vergleich zu Deutschland. Und wir haben viel Erwerbsarmut, Menschen also, die arbeiten, aber arm sind. Das gleiche gilt für Rentner, die Renten sind immer noch recht niedrig. Insgesamt denke ich, dass ein Viertel der Esten von Armut oder gesellschaftlicher Ausgrenzung bedroht ist."
Eesti 200: Knapp an der Fünf-Prozent-Hürde gescheitert
In der Tallinner Innenstadt-Kneipe ist es inzwischen voller geworden. Artjem Trochatschew ist ganz in seinem Element, er erzählt von seiner Partei Eesti 200 und ihrer Agenda für die politischen Herausforderungen des Landes.
Die Partei tritt für eine enge Zusammenarbeit zwischen EU und Nato ein. Sie will ein Schulsystem, das auf Estnisch basiert und den russischen Muttersprachlern Raum lässt – das soll die Integration fördern. Und sie will eine Wirtschafts- und Sozialpolitik, die etwa Einkommen von Rentnern nicht besteuert.
"Ich glaube, wenn wir das den Menschen näherbringen können, und sie unsere Ziele verstehen, dann stimmt ein Teil der Leute für uns."
Bei den Parlamentswahlen im Frühjahr ist Eesti 200 knapp an der Fünf-Prozent-Hürde gescheitert. Aber die junge Partei will weitermachen, sie baut gerade Strukturen für die kommenden Regionalwahlen auf. Gut möglich, dass sich Eesti 200 ihren politischen Raum in Estland erobern kann.