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Estnische Aktivistin Lagle Parek
"Ekre versteht die Probleme des Landes noch immer nicht"

Seit April regiert in Estland Ekre mit, eine Anti-Establishment-Partei, die durch rechtsradikale Äußerungen auffällt. Die Freiheitskämpferin und Ex-Ministerin Lagle Parek dachte, in der Regierung würde Ekre sich mäßigen. Ein naiver Gedanke, sagt sie heute.

Von Frederik Rother | 18.11.2019
Die estnische Aktivistin und Politikerin Lagle Parek
Lagle Parek hat viel erlebt - die Sowjets verhafteten sie, Ende der 80er-Jahre stieß sie die Demonstrationen für Estlands Unabhängigkeit mit an (Deutschlandradio / Frederik Rother)
Lagle Parek steht in ihrem Arbeitszimmer vor dem Regal. Es ist vollgestopft mit Literatur, Zeitschriften, Bildern. Sie nimmt ihr Buch in die Hand: "Das sind meine Erinnerungen. Ich hatte so ein verrücktes Leben."
Es brauchte allerdings keine Autobiografie, dass Lagle Parek in Estland berühmt wurde. Sie ist eine der prominenten Figuren, die gegen die sowjetische Besatzung des baltischen Staates gekämpft haben. Inzwischen ist sie 78 Jahre alt und lebt in einem Kloster-Neubau nahe Tallinn.
Für die Geschicke des Landes interessiert sie sich aber noch immer. Erst im Frühjahr hat sie sich öfters zu Wort gemeldet, während der Koalitionsverhandlungen mit der rechtskonservativen Ekre-Partei. Angesichts heftiger Debatten mahnte sie zur Besonnenheit.
Als junges Mädchen nach Sibirien deportiert
Parek bietet Kaffee und Chips an. Dann setzt sie sich an den Tisch in der Mitte ihres Arbeitszimmers und erzählt ihre Geschichte – auf Russisch, kraftvoll und konzentriert.
Dieser Beitrag gehört zur fünfteiligen Reportagereihe "Estland – Die Wende nach der Wende".
Sie und ihre Familie wurden im Frühjahr 1949 nach Sibirien deportiert – Folgen einer Repressionswelle, mit der die sowjetische Führung zu der Zeit das Baltikum überzog. Als Jugendliche durfte sie Mitte der 50er-Jahre zurück.
Aber Lagle Parek lehnte sich immer wieder gegen die sowjetische Besatzung auf: Nach dem Studium trampte sie mit Freunden durchs Land und erzählte den Menschen, dass man die estnische Kultur und Sprache bewahren müsste. In den 70er-Jahren veröffentlichte sie Informationen über die Menschenrechtsverletzungen der sowjetischen Behörden, verbreitete verbotene Schriften, unterschrieb Aufrufe und Appelle.
Vom Schwimmbad ins Gefängnis
Bis sie im Frühjahr 1983 in einem Schwimmbad verhaftet wurde. Was sie aufgrund ihrer Oppositions-Tätigkeit gut verstehen kann, sagt sie:
"Als ich im Becken war, merkte ich, dass etwas nicht in Ordnung ist. Es waren sehr wenige Leute da, und irgendwann niemand mehr außer mir. Als ich aus dem Schwimmbad rauskam, haben sie mich direkt in das naheliegende KGB-Gebäude gebracht. Zu der Zeit habe ich in Tartu gelebt, von dort haben sie mich nach Tallinn gefahren und inhaftiert."
Das Urteil etwas später: sechs Jahre Arbeitslager, drei Jahre Verbannung. Die Strafe verbüßte sie in der Frauenabteilung der mordwinischen Lager im Ural-Gebiet. Der Alltag dort war schwer. Aber das sei nicht weiter schlimm. Sie hätten ja überlebt, erzählt Parek mit einem Lachen.
Nachdem Michail Gorbatschow die Macht in Moskau übernommen hatte, und Glasnost und Perestrojka die Stichwörter der Stunde waren, wurde Pareks Strafe verkürzt, Anfang 1987 wurde sie freigelassen.
"Wir haben festgestellt, dass wir so nicht weiterleben können"
Sie zog sich zurück. Aber die Pause von der Politik währte nur kurz. Sie tat sich mit anderen Aktivisten zusammen – denn Estland war immer noch kein unabhängiger Staat.
"Wir haben festgestellt, dass wir so nicht weiterleben können und dass wir was tun müssen. Dann hatten wir die tolle Idee, die Offenlegung der geheimen Zusatzvereinbarung des Molotow-Ribbentrop-Paktes zu fordern."
In der Vereinbarung zwischen dem NS-Regime und der Sowjetunion wurde Estland der sowjetischen Einflusssphäre zugerechnet. Die öffentliche Diskussion darüber brachte die Menschen in Estland 1987 zu Tausenden auf die Straße. Es war einer der ersten großen Proteste gegen die Sowjetherrschaft. 1991 wurde Estland unabhängig.
Von Iwan dem Schrecklichen zerstört, bis heute eine Ruine: Kirchenbau des Birgittenordens nahe Tallinn
Von Iwan dem Schrecklichen zerstört, bis heute eine Ruine: Kirchenbau des Birgittenordens nahe Tallinn (Deutschlandradio / Frederik Rother)
Lagle Parek hat ihre dicke, blaue Winterjacke angezogen. Draußen hat es um die null Grad. Sie will die Klosterruine zeigen, die etwa hundert Meter entfernt steht.
Die Nonnen versorgen sie, sie hilft im Kloster mit
Hier lebten seit dem frühen 15. Jahrhundert Nonnen und Mönche des katholischen Birgittenordens. In der Mitte stand damals eine große Kirche – sie wurde von Iwan dem Schrecklichen zerstört. Die Steinwände der Kirche ragen bis heute in die Höhe, das Dach fehlt. Daneben die Überreste der alten Klosteranlagen – teilweise begehbar.
"Für einen so faulen Menschen wie mich ist das hier ideal. Ich bekomme drei Mal am Tag etwas zu essen, und bei mir ist alles in Ordnung. Ich arbeite zwar auch viel, aber ich muss mich nicht um die Kleinigkeiten kümmern."
Anfang der 90er-Jahre hatte Parek eine Äbtissin des Birgittenordens kennengelernt. Als neben der Klosterruine der Neubau entstand, durfte sie einziehen. Seitdem bekommt sie Unterkunft und Verpflegung gegen kleinere Hilfsdienste für die Nonnen.
Das war, nachdem sie nach der estnischen Unabhängigkeit plötzlich politisch aufstieg. Sie war sogar estnische Innenministerin und sorgte mit dafür, dass manche KGB-Mitarbeiter nicht in staatlichen Behörden weiterarbeiten konnten. Darauf ist sie bis heute stolz.
"Natürlich haben wir Fehler gemacht"
Kritik gibt es aber auch: Ein Taxifahrer erzählt, dass er Parek nicht besonders mag. Sie hätte damals eine Amnestie für Straftäter unterschrieben, das habe seine Sicherheit gefährdet. Parek sagt, daran kann sie sich nicht erinnern. Aber:
"Natürlich haben wir Fehler gemacht, die haben alle gemacht. Es war eine sehr schwierige Zeit damals, um Entscheidungen zu treffen. Ich kann schon gar nicht mehr sagen, was ich falsch gemacht habe, aber vermutlich viel."
Estland setzte nach dem Ende der Sowjetunion und dem Niedergang vieler Betriebe wirtschaftlich vor allem auf eine liberale Wirtschaftspolitik, von der nicht alle profitierten. Mit einer großen russischsprachigen Minderheit kam noch ein Integrationsthema hinzu, das Estland bis heute beschäftigt.
"Naive" Hoffnung, Ekre würde sich mäßigen
Seit dem Frühjahr dieses Jahres regiert in Tallinn die rechtskonservative Partei Ekre mit. Das sorgt im Land für viel Wirbel.
"Als die Frage aufkam, ob Ekre Teil der Regierung werden sollte, war ich sehr dafür. Zwar unterstütze ich die Partei nicht, aber sie sollten verstehen, wie schwierig es ist, ein Land zu regieren, dass man Entscheidungen treffen muss. Das hat aber nicht geklappt. Ekre versteht die Probleme des Landes noch immer nicht. Da war ich naiv."
Aber das Leben sei trotzdem wunderbar, sagt sie. Und den Esten sei es noch nie so gut gegangen wie heute – das freut sie.
Dann läuft Lagle Parek zurück ins Kloster, auf einer der alten Steinmauern. Ihr Lieblingsweg. In der Haus-Kapelle brennt schon Licht, die Nonnen beten.