Archiv


"Etepetete und an den Haaren herbeigezogen"

Der ausgestreckte Mittelfinger von Kanzlerkandidat Peer Steinbrück auf dem Titel eines Magazins sei "ein für diesen Zweck adäquates Ausdrucksmittel", sagt Politikprofessor Werner Patzelt. Er sei ausdrücklich aufgefordert worden, ohne Worte seine Meinung zu einem Thema zu verdeutlichen.

Werner Patzelt im Gespräch mit Christoph Heinemann |
    Christoph Heinemann: Nein, er sieht nicht so aus, wie sich die meisten Bürgerinnen und Bürger ihren Bundeskanzler vorstellen: dunkler Anzug ohne Krawatte, Mund geöffnet, Arme verschränkt – und jetzt kommt's: der Mittelfinger der linken Hand ausgestreckt. So ist Peer Steinbrück heute auf der Titelseite des Magazins der "Süddeutschen Zeitung" zu sehen.

    Am Telefon ist Professor Werner Patzelt, Politikwissenschaftler an der Technischen Universität Dresden. Guten Tag.

    Werner Patzelt: Guten Tag, Herr Heinemann.

    Heinemann: Professor Patzelt, was ging Ihnen durch den Kopf beim Blick auf Steinbrücks ausgestreckten Mittelfinger, auch bekannt und geächtet als Stinkefinger?

    Patzelt: Ich habe mich zuerst gefragt, ob das ein fieses Foto, das aus irgendeinem Kontext gerissen ist, ist. Dann habe ich mich vertraut gemacht mit dem Entstehungszusammenhang des Bildes. Und dann sagte ich mir, na, jetzt bin ich gespannt, mit wie viel Humor die deutsche Öffentlichkeit diese humoristische Pose entgegennimmt, und ich bin da analytisch auf meine Kosten gekommen.

    Heinemann: Und womit rechnen Sie?

    Patzelt: Ich rechnete damit, dass sich manche darüber empören werden und damit der Sache überhaupt nicht gerecht würden. Denn wenn man Politiker dazu veranlasst, ohne Worte etwas auszudrücken, dann muss man doch bitte akzeptieren, dass die Gesten klar sein müssen. Und wenn er kommentieren soll, was er davon hält, dass viele sozusagen mit dem Stinkefinger auf ihn gezeigt haben, dann ist der Mittelfinger der entsprechenden Hand durchaus ein für diesen Zweck adäquates Ausdrucksmittel. Und die ganzen Lamentationen, die da von Seiten von FDP und anderen kommen, dass das sozusagen staatspolitisch nicht ginge, das halte ich dann doch für sehr eines Teils Etepetete und andernteils aus erkenntlichen Wahlkampfgründen an den Haaren herbeigezogen.

    Heinemann: Nun ist der Stinkefinger eine obszöne Geste. macht das nichts?

    Patzelt: Die Obszönität, die liegt sehr stark im Auge des Beobachters. Vor 30 Jahren war ein ausgestreckter Mittelfinger mitnichten obszön. Lediglich durch unsere kulturelle Einrahmung dieses Fingers als eines ganz entsetzlichen Zeichens wurde er zu einem solchen. Da empfehle ich einfach mehr Gelassenheit. Das ist weder etwas Unanständiges, noch eine Art von Exhibitionismus. Es ist einfach ein kulturelles Zeichen, welches besagt, ihr könnt mich mal, und in diesem Fall ist es auch sogar humoristisch gemeint, denn er wurde ja ausdrücklich aufgefordert, dazu Stellung zu nehmen, und zwar ohne differenzierende Worte, was er davon hielte, dass man ihn mit allen möglichen Vokabeln versehen hat, die seine tatsächliche Persönlichkeit nun wahrhaftig nicht treffen.

    Heinemann: Herr Professor Patzelt, wenn ein Student bei Ihnen durch eine Prüfung fällt und Ihnen anschließend den ausgestreckten Mittelfinger zeigen würde, würden Sie das dann auch als humoristisch durchgehen lassen?

    Patzelt: Nein. Das wäre ja ein situativ völlig unangemessenes Verhalten. Er kann ja nach der Prüfung sagen, dass er sich ungerecht behandelt fühlt aus den folgenden Gründen. Aber wenn man Steinbrück auffordert, durch Gesten Stellung zu nehmen zu Statements, die man ihm vorgelegt hat, mein Gott, welche Geste soll er denn machen. Er könnte alternativ die Schultern hochziehen und die Hände von sich strecken, mit der Frage, na was soll ich dazu sagen. Das wäre auch eine denkbare Reaktion gewesen. Aber Steinbrück ist nun mal anders. Er geht dann drauf los und das ist doch eigentlich ein Zug von Tatkraft, den man gerade einem Spitzenpolitiker wünschen möchte.

    Heinemann: Vor allem bei Frauen kommt Steinbrück ja bislang nicht so gut an. Wie wirkt eine solche obszöne Geste auf potenzielle Wählerinnen?

    Patzelt: Ich würde noch einmal sagen: Ob diese Szene obszön ist, das hängt sehr stark ab davon, wie man sie auffassen will. Und wer sich davon behelligt fühlen will, wie sich weiland so mancher von einem unbekleideten Damenknie behelligt fühlte, ja der fühlt sich eben behelligt und verletzt. Aber kein Mensch muss sich durch diese Szene irgendwie verletzt fühlen. Sie hat auch einen anderen Rang als jener deutsche Fußballspieler, der bei einem amerikanischen Länderspiel den Zuschauern den Finger zeigte. Effenberg wurde damals zurecht aus der Mannschaft ausgeschlossen, weil die Situation klar eine provozierende war. Aber Steinbrück hat ja nicht aus heiterem Himmel heraus Leuten den Stinkefinger entgegengehalten, sondern er hat durchaus adäquat auf eine bestimmte journalistische Ausgestaltung eines Interviews reagiert. Und wer sich davon verletzt fühlt, ja da möchte ich nicht wissen, wovon ein solcher sich dann sonst noch alles verletzt fühlen kann.

    Heinemann: Vieles deutet darauf hin, dass sich bei Steinbrück gegenüber den Medien einiges aufgestaut hat. Kann er sich zurecht als Opfer einer Kampagne der oder bestimmter Medien fühlen?

    Patzelt: Man muss an den Satz erinnern: Wem es zu heiß ist, der soll auch nicht in die Küche gehen. Wer den Job des Kanzlerkandidaten auf sich nimmt, der muss mit echten Missverständnissen seiner Handlungen und Äußerungen rechnen und auch mit absichtlichen Missverständnissen. Und nachdem Steinbrücks Kandidatur auch in einer sehr unglücklichen Sturzgeburt erfolgte und die SPD selbst lange Zeit nicht richtig wusste, was sie mit ihm anfangen soll, ist wirklich vieles schiefgelaufen. Dass Journalisten insbesondere das Schieflaufen berichten, ist auch nicht vorzuwerfen, und dass Steinbrück hier mancherlei zu schlucken hatte, woran er nicht gewohnt war, das ist auch eine Tatsache. Infolgedessen mag es schon sein, dass sich in ihm manches Ungerechtigkeitsempfinden angestaut hat und dann einmal in Tränen, zum anderen Mal in Stinkefingern einen Ausdruck verschafft. Aber da muss man weder den Medien irgendwelche Schuld zuweisen, noch dem Kandidaten welche Schuld zuweisen. Das gehört einfach zum politischen Handwerk und das wusste er auch davor.

    Heinemann: Mit Bitte um kurze Antwort: Ist er für den Job zu dünnhäutig?

    Patzelt: Er ist für den Job des Kanzlers natürlich tauglich, was aber jetzt keine Wahlkampfaussage ist.

    Heinemann: Entschuldigung: "zu dünnhäutig", hatte ich gefragt.

    Patzelt: Ob er zu dünnhäutig ist, das glaube ich nicht, denn in dem Job gibt es professionelle Anforderungen, mit denen wird er professionell fertig, was er auch als Finanzminister gezeigt hat. Hier sind die Kritiken an dieser bildlichen Darstellung, die im Grunde auch nicht einmal er zu verantworten hat, hier sind die Kritiken neben der Sache, und dass er darauf etwas dünnhäutig reagieren möchte, das soll man ihm doch bitte durchgehen lassen.

    Heinemann: Professor Werner Patzelt, Politikwissenschaftler an der Technischen Universität Dresden. Danke schön für das Gespräch und auf Wiederhören!

    Patzelt: Auf Wiederhören!

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.