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EU-Flüchtlingsgipfel
"Bedauerlich und nicht angemessen"

Die Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt hat die Beschlüsse des EU-Flüchtlingsgipfels scharf kritisiert. Im DLF sagte sie, bei dem Treffen sei es mehr um die Schlepperbekämpfung als um die Flüchtlinge gegangen. Der Zehn-Punkte-Plan beinhalte nur einen einzigen Punkt zur Seenotrettung.

Katrin Göring-Eckardt im Gespräch mit Christoph Heinemann | 24.04.2015
    Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt
    Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt (dpa / picture alliance / Hannibal Hanschke)
    Göring-Eckardt äußerte sich enttäuscht von den Ergebnissen des EU-Flüchtlingsgipfels. Das Entsetzen nach den jüngsten Bootsunglücken sei groß gewesen, sagte sie. Folglich habe man auf den Gipfel gehofft, in der Annahme, dass sich jetzt was ändert. Das Ergebnis sei die Verlängerung von "Triton", was zunächst ein Grenzsicherungsprogramm und kein Seenotrettungsprogramm sei. Man sei mehr mit der Schlepperbekämpfung befasst als mit der Rettung von Flüchtlingen. Dies sei nicht nur bedauerlich, sondern der Situation überhaupt nicht angemessen.
    Göring-Eckardt forderte sichere Zugangswege für Flüchtlinge nach Europa sowie die Vergabe humanitärer Visa. Zugleich warnte sie vor der Zerstörung von Booten der Schlepper, was nach den Worten von EU-Ratspräsident Donald Tusk geprüft werden soll. Schlepper würden dann auf andere, noch unsicherere Boote zurückgreifen. Göring-Eckardt befürchtet, dass die Reise für Flüchtlinge dadurch noch gefährlicher werden könnte.

    Das Interview in voller Länge:
    Christoph Heinemann: Mit zehn Punkten möchten die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union verhindern, dass weiterhin Hunderte Menschen im Mittelmeer ertrinken.
    Am Telefon ist Katrin Göring-Eckardt, die Co-Vorsitzende der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen. Guten Morgen!
    Katrin Göring-Eckardt: Guten Morgen, Herr Heinemann. Ich grüße Sie.
    Heinemann: Frau Göring-Eckardt, die "Frankfurter Rundschau" titelt heute, "EU will tröpfchenweise retten". Trifft das das Ergebnis des Gipfels gestern?
    Göring-Eckardt: Leider muss man das sagen. Wir haben großes Entsetzen, großes Bedauern, großes Erschrecken gehört die ganze Woche über. Alle haben gehofft und auf diesen Gipfel gewartet in der Annahme, dass sich jetzt wirklich etwas tut.
    Herausgekommen ist, dass man ein Programm - Sie haben es gerade gemeldet -, nämlich "Triton" verlängert, was zuerst ein Grenzsicherungsprogramm ist und kein Seenot-Rettungsprogramm. Und wir haben gestern erlebt, dass jetzt der neue große Feind der EU die Schlepper sind, die in der Tat ja kriminell sind, aber sehr viel mehr bei der Frage Schlepperbekämpfung als bei der Frage Rettung von Flüchtlingen. Das finde ich nicht nur bedauerlich, sondern ich glaube, das ist der Situation überhaupt nicht angemessen.
    "Wir brauchen sichere Wege nach Europa"
    Heinemann: Haben Sie in den zehn Punkten irgendetwas wesentlich Neues entdeckt?
    Göring-Eckardt: Neu ist, dass die Mittel für das Programm "Triton" tatsächlich verdreifacht werden sollen. Das heißt, wir sind jetzt wieder finanziell bei dem, was "Mare Nostrum" als Programm hatte, das ursprüngliche, was der italienische Staat eingerichtet erreicht ist, um Seenotrettung zu betreiben, aber eben mit dem anderen Vorzeichen. Und neu ist auch, dass man jetzt über militärische Schlepperbekämpfung redet, und wenn ich mir das Programm angucke, dann haben wir sieben Punkte, in denen es um Bekämpfen, um Abweisen etc. geht, aber nur einen Punkt, in dem es um Rettung geht, und insofern ist das für meine Begriffe das Hauptproblem.
    Es geht nicht um sichere Zugangswege nach Europa, es geht nicht um humanitäre Visa, es geht eben nicht um alles das, was verhindern könnte, dass den Schleppern tatsächlich das Handwerk gelegt wird.
    Heinemann: Nur sind die Schlepper tatsächlich ein Problem. Sollte die EU vor nordafrikanischen Gestaden Schiffe versenken?
    Göring-Eckardt: Wenn die EU die Schiffe versenkt, dann werden die Schlepper andere Schiffe haben, die werden noch unsicherer sein, das wird noch gefährlicher für die Leute, die sich da auf den Weg begeben. Man muss sich ja nicht vorstellen, dass das jemand als Abenteuerreise macht.
    Das sind Menschen, die sind monatelang, zum Teil jahrelang unterwegs, um dahin zu kommen. Das sind Leute, die haben Kinder, die begeben sich auf diese Boote in allergrößter Not, weil sie keinen Ausweg mehr sehen. Deswegen würde das Zerstören von Schiffen, das in der Diskussion ist, zu nichts weiter führen, als dass es für die Flüchtlinge noch gefährlicher wird. Noch mal: Wir brauchen sichere Wege nach Europa, sprich die Leute müssen ein humanitäres Visum bekommen und damit dann legal einreisen können. Es muss Kontingente geben, zum Beispiel für Syrer größere Kontingente, wir haben gestern im Bundestag darüber diskutiert, damit man auf legalem Weg hier herkommen kann. Dann ist jemand auch bereit zu sagen, gut, wenn ich weiß, es gibt diesen legalen Weg, dann kann ich auch noch drei Wochen oder vier Wochen warten, aber ich werde ihn dann haben.
    Heinemann: Legal heißt dann, Europa sollte die Flüchtlinge mit Fähren in Nordafrika abholen?
    Göring-Eckardt: Legal heißt zunächst mal, dass sie ein humanitäres Visum bekommen und dass das, was wir jetzt machen, mit sehr, sehr kleinen Zahlen, mit viel zu kleinen Zahlen sie nämlich auf legalem Weg herzubekommen, sprich wir haben 20.000 syrische Flüchtlinge aufgenommen, wenn wir die Zahl verdoppeln, dann werden wir die natürlich auch auf legalem Weg hier herbekommen.
    Heinemann: Wie denn? Da steht ja noch das Mittelmeer dazwischen.
    Göring-Eckardt: Genau. Das können unterschiedliche Wege sein. Das kann der Weg übers Festland sein, das kann der Weg übers Meer sein, das kann sein, dass man das mit Schiffen organisiert und mit anderen Wegen. Das tun wir jetzt ja schon. Da geht es um die Zahlen und es geht darum, dass die Leute da sitzen und nicht wissen, wie sie hinkommen sollen, um den Antrag zu stellen, der ihnen zusteht. Das ist übrigens auch eine völkerrechtliche Frage.
    Heinemann: Sie könnten sich schon vorstellen, dass die EU tatsächlich Schiffe schickt nach Nordafrika, dass die Menschen die dort besteigen können und dann mit europäischen Schiffen über das Mittelmeer nach Europa gebracht werden?
    Göring-Eckardt: Für diejenigen, die ein solches humanitäres Visum bekommen, was man dann dort ausstellen muss, ja. Nicht einfach nach dem Motto, wir schicken jetzt Schiffe und dann kann aufsteigen wer will, sondern mit einem humanitären Visum, mit faktisch Einreisepapieren, damit dann ein Asylantrag tatsächlich geprüft werden kann. Das ist ja das, was uns ausmacht als EU, dass wir sagen als demokratische Länder, jeder einzelne Antrag von jedem Flüchtling wird geprüft daraufhin, ob das Recht auf Asyl vorliegt.
    Heinemann: Und die ohne humanitäres Visum besteigen dann wieder die Schiffe der Schlepper?
    Göring-Eckardt: Die ohne humanitäres Visum werden es wahrscheinlich noch mal probieren, ein solches zu bekommen. Wenn wir eine vernünftige Einwanderungspolitik hätten, wenn es Leute sind, die einfach nur sagen, ich möchte meine Lebenssituation verbessern, könnten sie sich auch über diesen Weg hierher bewegen.
    Alles das haben wir nicht. Wir haben natürlich auch in den nordafrikanischen Ländern, wenn ich an Libyen beispielsweise denke, eine völlig unsichere Situation, da fast keine Staatlichkeit mehr. Auch deswegen ist es so gefährlich und so problematisch für die Leute, dort zu sein und dann zu versuchen, hier herzukommen.
    Ich finde, wir müssen mehrere legale Wege nach Europa haben, was dann übrigens auch heißt, wer hier kein Asyl bekommt, wird auch wieder zurückgeschickt. Das ist dann eben genauso selbstverständlich.
    Heinemann: Wohin mit Flüchtlingen, die keiner will?
    Göring-Eckardt: Wohin mit Flüchtlingen, die keiner will? - Es werden natürlich welche da sein, die das Recht auf Asyl haben, und dann wird immer darüber geredet, dass innerhalb Europas gerechter verteilt werden muss.
    Ich finde in der Tat, dass man darüber sprechen muss, dass die Frage, wie macht man eine Verteilung so, dass es nicht darum geht, dass da, wo man als Erstes landet, man dann auch wieder hingebracht werden kann, also das Dublin-II-System, das muss sich verändern. Es muss sich verändern, dass Leute, die familiäre Bindungen irgendwo in Europa haben, auch dorthin geschickt werden. Es muss sich verändern, dass es schnell Arbeitserlaubnisse gibt. Auch das ist immer noch problematisch. Es sind ja häufig die jüngeren Leute, die Leute, die was vorhaben, die Power haben, die hier herkommen und die eigentlich auch gerne arbeiten würden. Ich habe in Mineo auf Sizilien eine ganze Reihe solcher Menschen getroffen, die da seit einem Jahr warten, dass sie etwas tun können.
    Heinemann: Frau Göring-Eckardt, welche Rolle spielt in der europäischen Flüchtlingspolitik die Hautfarbe der Menschen, die über das Mittelmeer kommen?
    Göring-Eckardt: Ich hoffe, dass sie keine große Rolle spielt.
    "Europa beschäftigt sich zu sehr mit sich selbst"
    Heinemann: Sind Sie sich sicher?
    Göring-Eckardt: Ja ich bin mir eben nicht sicher, wenn ich sage, ich hoffe das. Ich bin mir nicht sicher, weil die Frage, ob die Menschen aus Afrika kommen oder woanders her, natürlich eine Rolle zu spielen scheint. Ich möchte es niemandem direkt unterstellen, aber wenn man einfach nur mal den Vergleich zieht, wie sich dieses Europa mit sich selbst beschäftigt, mit seinen eigenen Problemen, mit Rettungsschirmen etc., und dann auf der anderen Seite, wie viel Geld, wie viel Energie, wie viel Fantasie und Kreativität oder wie wenig, muss man ehrlicherweise sagen, übrig ist, wenn es um Flüchtlinge geht, die aus Nordafrika kommen, die aus Syrien kommen, die ja alle aus Krisengebieten kommen - all diejenigen, die jetzt immer wieder davon reden, da kommen Ströme von Armutsflüchtlingen, denen muss man sagen, ja in der Tat, es sind zum Teil Leute, die in bitterster Armut leben. Es sind zum Teil Leute, die aus Kriegsgebieten kommen, wo wir ganz genau wissen, die werden auch nicht übermorgen wieder weg sein, da wird sich auch die Region nicht befriedet haben. Auch deswegen ist die Aufgabe, dass sich Europa, dass wir uns in Deutschland auch darauf einstellen, dass diejenigen für eine längere Zeit hier bleiben.
    "Wir waren auf die Flüchtlinge nicht vorbereitet"
    Heinemann: Hat die Ablehnung zusätzlicher Einwanderung in Teilen der Bevölkerung auch damit zu tun, dass der gescheiterte Teil der Integration in Deutschland von Ideologen zu lange zu schöngeredet wurde?
    Göring-Eckardt: Sagen wir es erst mal umgekehrt. Der größere Teil der Bevölkerung begrüßt, dass die Menschen hier herkommen, und eine Mehrheit der Bevölkerung sagt bis heute, wir möchten, dass Deutschland mehr Flüchtlinge aufnimmt. Das ist der entscheidende Punkt, über den man reden muss, und ich finde, so muss man es aufzäumen. Dann ist die Frage: Ich glaube nicht, es geht um Ideologen. Ich glaube, ehrlich gesagt, es geht vielmehr darum, dass wir nicht vorbereitet waren.
    All das, was wir jetzt erleben, die Zahl der Flüchtlinge, die Zahl der Krisen, war ja absehbar. Und wenn wir rechtzeitig gesagt hätten, nicht, wir bauen Flüchtlingsunterkünfte zurück seit Mitte der 90er-Jahre, sondern wir erhalten sie, nicht, wir sorgen nicht dafür, dass die Kommunen das Geld, die Kapazitäten dafür haben, dass mehr Flüchtlinge kommen, es geht darum, dass wir Leute einstellen müssen, die die Anträge überhaupt bearbeiten, weil ewig lange gewartet werden muss. Alles das hätte man vorher tun können, hätte man vorher regeln können. Jetzt kann man hinterher sagen, verschüttete Milch. Es ist trotzdem der eigentliche, der entscheidende Punkt.
    Wir sind jetzt ungefähr bei den Zahlen von Mitte der 90er-Jahre, aber wir sind eben nicht darauf vorbereitet, und das führt in Kommunen dazu, dass sie nicht mehr aus noch ein wissen, dass sie das Geld nicht haben, dass sie nicht wissen, wo sie jetzt noch Container herkriegen, wo sie Leute unterbringen sollen. Ich finde, das darf uns nicht wieder passieren. Wir müssen langfristig planen und der Bund muss im Übrigen auch Geld für die Kommunen zur Verfügung stellen.
    Heinemann: Katrin Göring-Eckardt, die Co-Vorsitzende der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Danke schön für das Gespräch und auf Wiederhören.
    Göring-Eckardt: Ich bedanke mich auch. Auf Wiederhören!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.