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EU-Flüchtlingsgipfel
"Nationale Egoismen stehen im Vordergrund"

Der SPD-Europapolitiker Jo Leinen hat die Beschlüsse des EU-Flüchtlingsgipfels als "bei Weitem nicht ausreichend" kritisiert. Die Problematik werde nicht als gemeinsame Herausforderung angenommen, sagte er im Deutschlandfunk. Dabei brauche es dringend eine europäische Asyl- und Flüchtlingspolitik "aus einem Guss".

Jo Leinen im Gespräch mit Gerd Breker | 24.04.2015
    Der SPD-Europaabgeordnete Jo Leinen, von der Seite aufgenommen, sprechend und mit einer Hand gestikulierend.
    Der SPD-Europaabgeordnete Jo Leinen (imago/stock&people/Becker&Bredel)
    Gerd Breker: Die Flüchtlingstragödie im Mittelmeer ist zur Chefsache geworden. Immerhin, möchte man sagen. Doch nach dem gestrigen Flüchtlingsgipfel der Europäischen Union muss die böse Frage lauten: Was hat denn die Chefsache gebracht? Man will die Mittel der Seenothilfe verdreifachen. Das klingt nach einer Menge. Doch genau besehen kommt man da gerade mal auf die Menge, die Italien für Mare Nostrum aufgewendet hat, und die Seenothilfe, sie beschränkt sich auf die europäischen Küstengewässer, nicht etwa vor der libyschen Küste.
    Am Telefon sind wir nun verbunden mit Jo Leinen, SPD-Europaabgeordneter und dort Mitglied im Auswärtigen Ausschuss. Guten Tag, Herr Leinen.
    Jo Leinen: Guten Tag, Herr Breker.
    Breker: Keine überzeugende Lösung, die der Flüchtlingsgipfel gestern gebracht hat. Oder sind Sie mit den Ergebnissen zufrieden?
    Leinen: Die Europäische Union zeigt sich mal wieder als ein schwer beweglicher Tanker, der nur langsam auf Kurs gebracht werden kann. Was da gestern beschlossen wurde, ist bei Weitem nicht ausreichend. Aber, um doch etwas positiv zu sein: Es ist vielleicht der Beginn einer ernsthaften Auseinandersetzung mit den Flüchtlings- und den Einwanderungsströmen aus Afrika und dem Nahen Osten.
    Zwei Schiffe aus Deutschland: "Ist das wirklich ernst gemeint?"
    Breker: Die Rettung von Menschenleben, so die Bundeskanzlerin, soll Vorrang haben. Nur wenn die Seenothilfe vor Europas Küste abläuft, dann macht das wenig Sinn.
    Leinen: Ja, in der Tat. Man muss viel weitreichender und tiefgreifender dieses Problem anpacken. Ich sage mal, zur Rettung der Banken hatten wir 20 Sondergipfel, zur Rettung der Handelsschiffe am Kap Horn in Somalia haben wir viele, viele Schiffe unterwegs, und wenn ich sehe, dass Deutschland zwei Schiffe schicken will, dann fragt man sich, ist das Placebo, oder ist das wirklich ernst gemeint, dieses Drama im Mittelmeer zu lindern, wenn nicht gar zu beseitigen.
    Breker: Es gibt immer noch keinen Verteilschlüssel für die, die man denn, wenn es gelingt, gerettet hat. Das ist doch ein erbärmliches Bild, das da Europa abgibt. Europa, das den Friedensnobelpreis bekommen hat.
    Leinen: Man merkt, dass die nationalen Egoismen wieder im Vordergrund stehen. Das Gemeinsame, die gemeinsame Herausforderung, die wird nur mühsam angenommen. Aber es führt kein Weg daran vorbei: Wir brauchen eine europäische Asyl- und Flüchtlingspolitik aus einem Guss und nicht diese Zerstückelung in 28 nationale Interessen, wo die Solidarität auf der Strecke bleibt, wenige die ganze Last tragen müssen und die anderen zuschauen.
    Breker: Wenn denn Europa eine Wertegemeinschaft sein soll, Herr Leinen, dann ist der einzige gemeinsame Wert irgendwo die Scheinheiligkeit?
    Leinen: Ich sagte ja am Anfang, die EU ist kein Staat, sondern ein Staatenverbund aus 28 Staaten. Man hat mal wieder zu lange gewartet. Das kommt ja nicht überraschend, sondern hat sich seit Jahren angebahnt. Aber wie bei der Ukraine-Krise, wie bei der Finanzkrise, immer wieder ist die EU ein schwerer Tanker, der nur langsam in Fahrt kommt. Ich glaube, niemand kann mehr wegschauen. Dieses Drama erschüttert auch die Bevölkerung, viele Menschen, und ich glaube, der europäische Rat der Staats- und Regierungschefs ist gut beraten, den nächsten Gipfel auch diesem Thema zu widmen, und der ist dann im Juni. Die Kommission soll ja im Mai auch eine Migrationsstrategie vorlegen. Ich glaube, es kommt was in Bewegung, aber zufrieden kann man nicht sein.
    "Wir brauchen auch eine Grenzschutzpolitik"
    Breker: Sieben Punkte, so sagen die Grünen, die da vom Flüchtlingsgipfel verabschiedet wurden, widmen sich dem Kampf gegen Schlepper. Sie werden behandelt wie die Piraten vor Somalia?
    Leinen: Es ist ja ein Milliarden-Geschäft, was da gemacht wird, und das ist völlig unakzeptabel. Ich bin zwar auch der Meinung, dass man die Zerstörung der Schlepperboote nur mit UNO-Mandat wird durchführen können, wenn überhaupt. Aber Europa hat so viele Geheimdienstleute; es müsste doch möglich sein, vor Ort in Libyen an den Küsten herauszukriegen, wie diese Mafia sich organisiert, was sie vorhat. Da muss viel mehr getan werden als in der Vergangenheit. Da hat jeder auf den anderen gewartet und herausgekommen ist nichts. Wir haben es mit einem komplexen Thema zu tun. Es ist eine Menschenrechtstragödie, eine Flüchtlings- und Einwanderungspolitik notwendig. Aber ich sage mal auch: Man darf auch nicht blind sein. Wir brauchen auch eine Grenzschutzpolitik. Europa wird nicht alle aufnehmen können, die aus Afrika oder dem Mittleren Osten nach Europa wollen. Man braucht eine Kombination von allem.
    Breker: Nun sagen die Hilfsorganisationen, den Berufsstand der Schlepper, den habe eigentlich die Europäische Union selbst kreiert, weil es halt gar keine legalen Wege gibt, um nach Europa zu kommen.
    Leinen: Ja, man muss die Ursachen anpacken. Ich finde es gut, dass jetzt ein Gipfel mit den afrikanischen Staaten stattfinden soll. Europa braucht eine Afrika-Strategie, um auch Ursachen dieser Flüchtlingsströme zu bekämpfen. Da haben wir zu viel Zeit investiert in die Ukraine-Krise, vielleicht in andere Themen auf unserem Kontinent. Afrika ist unser Nachbarkontinent, wir können uns da nicht wegstehlen.
    Hinzu kommt, dass Europa sich nicht abschotten darf als eine Festung. Wir brauchen Einwanderung. Und nur mühsam ist in den Mitgliedsstaaten die Erkenntnis gereift, dass wir ein Einwanderungskontinent sind und noch mehr werden. Alle diese Politiken sind nur embryonal vorhanden. Leider, leider muss es diese Dramen geben, muss es viel Leid kosten, bis dann die hohe Politik in Fahrt kommt.
    Breker: Sie haben den EU-Afrika-Gipfel angesprochen, Herr Leinen. Was soll der denn ändern, die Diktatur in Eritrea abschaffen?
    Leinen: Wir haben immerhin eine Afrikanische Union, die auch in gewissen Themen Verantwortung übernimmt und auch Flagge zeigen muss. Die Flüchtlinge kommen ja nun auch von weit her, ob es Eritrea ist, ob es Somalia ist, ob es die Länder südlich der Sahara sind. Also man kann doch schon gemeinsame Politiken, gemeinsame Maßnahmen ergreifen, um vielleicht vor Ort mehr zu tun. Ich sage mal, auch Auffanglager in Afrika, auch vielleicht Registrierungsstellen in Afrika, sodass diese Menschen nicht Tausende von Kilometern mit erheblichem Risiko für Leib und Leben auf sich nehmen müssen, bevor sie dann an den Küsten Europas stranden.
    Breker: Der SPD-Europaabgeordnete Jo Leinen im Deutschlandfunk. Herr Leinen, danke für dieses Gespräch.
    Leinen: Auf Wiederhören!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.