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EU-Gipfel und Dublin-Reform
Woran ein gemeinsames EU-Asylrecht scheitert

Eine Reform der sogenannten Dublin-III-Verordnung soll für eine gerechtere Verteilung Geflüchteter innerhalb der EU sorgen. EU-Regierungschefs werden darüber auf einem informellen Gipfel in Salzburg beraten. Doch spaltet die Frage der solidarischen Verteilung die EU, sodass ein gemeinsames Asylrecht unerreichbar scheint.

Von Benjamin Dierks | 18.09.2018
    Ein Polizist an einem Grenzzaun.
    Der Europäische Rat verschleppe die Reform der Dublin-III-Verordnung, bemängeln Kritiker (Robert Ghement, dpa picture-alliance)
    Cecilia Wikström hat eine Gabe, Gegensätze zu verbinden – vielleicht auch nur scheinbare Gegensätze. Die Schwedin war Pfarrerin, bevor sie in die Politik ging. Sie forderte Barmherzigkeit ein, und mehr Gemeinsinn. Als sie dann die Kanzel für das Rednerpult im Parlament aufgab, schloss sie sich ausgerechnet den Liberalen an, die ja eher im Ruf stehen, für Eigensinn einzustehen.
    Wikström aber sieht darin keinen Gegensatz. Sie ist überzeugt davon, dass das Christentum dem Einzelnen hilft und der Liberalismus der Gemeinschaft dienen kann. Auch im Europaparlament hat Wikström vermeintlich unversöhnliche Seiten zusammengebracht. Und sie ist stolz darauf.
    "Ich habe es geschafft, die EVP, die S&D, die ALDE-Fraktion, die Grünen und sogar die linken Gruppen zu vereinen. Das ist eine historische Errungenschaft im Europaparlament. Ich habe eine Zweidrittelmehrheit hinter mir."
    Zur konservativen EVP zählen CDU und CSU, der S&D-Fraktion gehört die SPD an. Wikström selbst ist Abgeordnete der liberalen ALDE, darunter fällt auch die FDP, dazu Grüne und Linke: Sie alle hatte Wikström als sogenannte Berichterstatterin für eine Reform des Asylsystems in Europa an Bord geholt.
    Dem Erfolg folgte die Ernüchterung
    Insbesondere geht es dabei um die Reform der sogenannten Dublin-III-Verordnung. Wikströms Überarbeitung des Gesetzes soll gewährleisten, dass die Europäische Union die Verantwortung für Asylsuchende nicht mehr den Randstaaten aufbürdet, sondern sie gerechter auf die Mitgliedsstaaten verteilt.
    Aber dem Erfolg folgte die Ernüchterung. Denn es ist nun bald ein Jahr her, dass Wikström die Abstimmung im Europaparlament gewann. Danach waren die Mitgliedsstaaten am Zug, um mit dem Parlament und der EU-Kommission zu verhandeln. Aber passiert ist seitdem nichts.
    "Der Widerwillen des Europäischen Rats übersteigt jede Vorstellungskraft. Die Mitgliedsstaaten verschleppen die Entscheidung. Wieder und wieder sagen sie uns, sie müssten sich den Text ansehen. Aber da gibt es nichts anzusehen, sie müssen sich jetzt endlich damit befassen und daran arbeiten. Wir brauchen den Rat, weil wir Ko-Gesetzgeber sind. Und ich bin bereit, in Verhandlungen zu treten. Aber der Rat liefert einfach nicht, und wir bedauern das sehr, gemeinsam mit der Kommission."
    Der Rat wird auch in den kommenden zwei Tagen nicht "liefern". Diese Woche treffen sich die Staats- und Regierungschefs zu einem informellen Gipfel in Salzburg. Österreich hat die halbjährige Ratspräsidentschaft inne, und Kanzler Sebastian Kurz hat Einwanderung zur Priorität erklärt.
    Vor dem Gipfel setzte emsige Diplomatie ein: Kurz traf Bundeskanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron. Er besuchte gemeinsam mit EU-Ratspräsident Donald Tusk den ägyptischen Präsidenten Abdel Fattah al-Sisi und ließ sich von ihm versprechen, dass Ägypten alles tun werde, um Menschen an ihrer Flucht nach Europa zu hindern. Kurz und Merkel unterstützten wiederum die Äußerungen von EU-Kommissionschef Jean-Claude-Juncker, der vergangene Woche angekündigt hat, was schon klar war: Dass die EU-Grenze besser gesichert und die EU-Grenztruppe Frontex kräftig verstärkt werden soll, und das früher als ursprünglich geplant.
    Die Fronten sind verhärtet
    Nur eines werde es auch bei diesem informellen Gipfel nicht geben: Eine Annäherung darüber, wie die Flüchtlinge und Asylsuchenden gerecht auf den Kontinent verteilt werden können, sagt die Migrationsforscherin Hanne Beirens vom Brüsseler Migration Policy Institute.

    "Ja, es ist wichtig, in ein besseres Grenzmanagement zu investieren. Und auch die Zusammenarbeit mit Drittstaaten muss verbessert werden. Aber das sind Mittel zur Eindämmung. Es wird damit nicht die Frage gelöst, wie wir mit denjenigen umgehen, die nach Europa kommen."
    Seit Jahren liegen EU-Parlament, Kommission und Mitgliedsstaaten im Streit darüber, wie die als "Dublin-Verfahren" bezeichnete Verteilung von Flüchtlingen und Asylsuchenden in der EU reformiert werden könnte. Bislang ist bis auf Ausnahmen der Mitgliedsstaat, in dem ein Schutzsuchender erstmals EU-Boden betritt oder registriert wird, verantwortlich für dessen Asylverfahren. Dass dieses Procedere ungerecht ist, war eigentlich schon bei seiner Einführung klar. Zu den stärksten Verfechtern gehörte damals Deutschland.
    Flüchtlinge im Hafen von Lesbos - von hier starten die ersten Boote zur Rückführung in die Türkei
    Die Reform der Dublin-III-Verordnung soll die Randstaaten Europas bei der Aufnahme von Flüchtlingen entlasten (dpa/picture alliance/Alexia Angelopoulou)
    Eine Menge Frustration
    Wie krisenanfällig die Dublin-Regel ist, zeigte sich besonders, als die Zahl der Flüchtlinge 2015 stieg. Die Mittelmeeranrainer Spanien, Italien, Malta und Griechenland konnten den Zuzug schon zuvor nicht allein bewältigen. Nun wurde das Scheitern offenbar. Aber jeder Versuch, die Menschen gleichmäßiger auf die EU-Mitglieder zu verteilen, scheiterte bislang. Migrationsforscherin Hanne Beirens.
    "Hier stecken wir in der Sackgasse. Ich würde nicht sagen, dass die Mitgliedsstaaten aufgegeben haben, aber es herrscht doch eine Menge Frustration."
    Bedauern darüber äußern nicht nur Liberale und Linke. Auch Monika Hohlmeier ärgert sich. Die CSU-Europaabgeordnete hat in vielen Punkten andere Vorstellungen von europäischer Asylpolitik als ihre liberale schwedische Kollegin Cecilia Wikström. Sie hegte große Vorbehalte gegen Wikströms Dublin-Reformentwurf. Trotzdem stimmte sie dafür, weil sie für eine bessere Verteilung ankommender Flüchtlinge war – in der Hoffnung, dass von den Vorschlägen ohnehin einiges hintenüberfallen würde, sobald es in die Verhandlungen zwischen Parlament, Kommission und Rat geht.
    "Aber wir kommen derzeit gar nicht zu Trilogverhandlungen, weil innerhalb des Rates, sprich zwischen den verschiedenen Ländern und Mitgliedsstaaten, der Streit so groß ist, dass sie gar keine gemeinsame Position zum Verhandeln haben, und deshalb derzeit bei der Umverteilung und bei Dublin überhaupt keine Verhandlungen stattfinden, nur informelle interne Gespräche."
    Das liegt vordergründig in erster Linie an den osteuropäischen Visegrád-Staaten, allen voran Ungarn, gefolgt von Polen, der Slowakei und Tschechien. Auch Österreich stellt unter der Regierung Kurz eine geregelte Verteilung von Flüchtlingen infrage. Und Italien will von einer Dublin-Reform bisher ebenfalls nichts wissen – obwohl es zu den Ländern gehört, die entlastet werden sollten. Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban lehnt schlichtweg jede Aufnahme von Flüchtlingen ab.
    Orban geht es nicht um Asylpolitik
    Peter Niedermüller lehrte einst als Professor an der Berliner Humboldt-Universität und ist ungarischer Europaabgeordneter in der sozialdemokratischen S&D-Fraktion. Er setzt sich für die Reform des europäischen Asylsystems ein, samt Verteilungsquoten – und wurde dafür von Orban als Vaterlandsverräter beschimpft. Niedermüller glaubt, dass es Orban bei der Asylreformfrage gar nicht in erster Linie um Asylpolitik gehe.

    "Das interessiert den ungarischen Ministerpräsidenten überhaupt nicht. Er redet nicht über Migrations- oder Asylpolitik, er redet einfach über Feindbilder. Und er versucht, diese Feindbilder für eigene politische Vorhaben zu nutzen. Und ich muss leider gestehen, dass es auch wirkt, wenigstens wirkt es in Ungarn."
    Orban entwickelte eine ganze Verschwörungstheorie. Der EU warf er unter anderem vor, sie wolle mit Akteuren wie dem Investor und Stiftungsgründer George Soros unzählige Flüchtlinge nach Ungarn zwangsweise umsiedeln und den Ungarn ihr Land nehmen. Niedermüller sieht in der Ablehnungshaltung von Ungarn und anderen Staaten eine dauerhafte Gefahr für die EU.
    "Wenn Sie einen Blick auf die Karte Europas werfen, sehen Sie Polen, Tschechische Republik, Slowakei, Österreich heute, Ungarn, Kroatien, und dann haben wir von Italien noch gar nicht gesprochen. Ich sage nicht, dass sie demselben Weg folgen wie der ungarische Ministerpräsident, aber dass sie damit keine größeren Probleme haben.
    Victor Orban im EU-Parlament
    Ungarns Ministerpräsident Victor Orban lehnt die Aufnahme von Flüchtlingen strikt ab (dpa / EPA / Filip Singer)
    Wenn diese Staaten in bestimmten Themen oder bestimmten Politikfeldern ein Bündnis zustande bringen, dann ist es eine ganz schwierige Situation. Und Migration steht absolut im Mittelpunkt dieses möglichen Bündnisses."
    Symbolhafte Handlungen statt konkrete Lösungen
    Wie also kann Europa sich aus dieser Sackgasse befreien? Die EU-Kommission und der Europäische Rat haben voll auf Grenzsicherung gesetzt und jede Frage der verpflichtenden Verteilung ausgeblendet. Keiner soll mehr zu irgendetwas gezwungen werden.
    Beim EU-Gipfel Ende Juni – der im Schatten des Koalitionskrachs in Deutschland stand – wurde schon als Durchbruch gefeiert, dass Italien nicht die ganze Veranstaltung platzen ließ. Die Staats- und Regierungschefs einigten sich auf geschlossene Auffanglager in EU-Grenzstaaten. Aus denen sollten Flüchtlinge dann - auf freiwilliger Basis – auf andere Staaten verteilt werden. Konkrete Zusagen dafür gibt es seitdem weder für die Lager noch für die Aufnahme.
    Die ebenfalls befürworteten Sammellager in Nordafrika scheitern bisher daran, dass kein dortiger Staat solche Zentren beherbergen will. Die Idee ist keinesfalls neu. Neu ist nur, dass sich die EU-Staaten heute hinter einem Vorschlag versammeln, der vor 14 Jahren in ähnlicher Form noch als inhuman abgelehnt wurde. Bundeskanzlerin Angela Merkel wirbt derweil weiterhin für eine –wie sie sagt – "europäische Lösung".
    "Wir alle erleben doch, dass das bisherige Dublin-System nicht funktionsfähig ist. Deshalb müssen wir doch als Mitgliedsstaaten der Europäischen Union – zumindest die, die im Schengen-Raum zusammen sind, daran arbeiten, ein faires Verteilsystem zu finden."
    Sagte Merkel im August nach der Einigung auf ein Rücknahmeabkommen mit Spanien. Ihr Verteilsystem soll aus den Staaten bestehen, die für eine Verteilung von Flüchtlingen bereit sind. Bisher beschränkt sich diese Lösung aber auf eben jene Rücknahmeabkommen, die Merkel unter innenpolitischem Druck mit Spanien und Griechenland schließen konnte – und die zahlenmäßig kaum ins Gewicht fallen. Lars Castellucci ist migrationspolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion.
    "Das sind alles kleine Lösungsbausteine, zum Teil sind es auch mehr symbolhafte Handlungen, die werden uns nicht weiterhelfen."
    Außerdem sei es widersinnig, auf der einen Seite freiwillig Asylsuchende aus Ländern wie Italien aufzunehmen, auf der anderen Seite aber sogenannte Dublin-Fälle, die sich womöglich schon eingelebt haben, wieder zurückzuschicken – wie im Abkommen mit Italien vorgesehen, sagt Castellucci.
    Die Blockade einer Änderung der Dublin-Regeln ist auch deshalb so schädlich, weil sie jede weitere Reform des europäischen Asylsystems verhindert. Hanne Beirens vom Brüsseler Migration Policy Institute:
    "Die Abmachung ist: Erst wenn es eine Einigung darüber gibt, wie das Dublin-System reformiert werden kann und Asylbewerber auf die verschiedenen Mitgliedsstaaten verteilt werden, kann auch über die anderen Teile der Asylreform entschieden werden."
    Die Europäische Kommission hatte im Angesicht der Krise des Asylsystems vor drei Jahren nämlich nicht nur eine Abkehr von den bisherigen Dublin-Regeln vorgeschlagen, sondern insgesamt sieben Gesetze, die unter anderem die teils überlangen Verfahren beschleunigen sollten. Auch der Umbau der europäischen Asylagentur war Teil des Gesetzespakets. Und in vielen Feldern fänden die EU-Unterhändler deutlich schneller zusammen als im Streit um die Dublin-Regeln, sagt Migrationsforscherin Beirens.
    "Sie haben sich darüber geeinigt, wie Asylsuchende aufgenommen werden sollen, wie über Anträge entschieden werden soll und über eine Reihe weitere Dinge. Und nun warten diese Pakete darauf, dass sie jemand verabschiedet."
    Eklatante Unterschiede in den Asylentscheidungen
    Bislang schreibt die EU zwar auch grundlegende Regeln für den Umgang mit Asylbewerbern vor, die Verfahren in den einzelnen Mitgliedsstaaten unterscheiden sich aber stark. Das Migration Policy Institute hat gemeinsam mit der Bertelsmann Stiftung dargelegt, dass etwa zahlreiche Staaten Flüchtlinge gar nicht registrierten.
    Damit umgingen vor allem südeuropäische Staaten ihre Dublin-Verpflichtungen. Asylbehörden seien zudem dramatisch unterfinanziert. Einige Staaten könnten die rechtlichen Vorgaben des europäischen Asylsystems wegen gestiegener Zahlen nicht umsetzen. Außerdem gebe es eklatante Unterschiede in den Asylentscheidungen. 2016 zum Beispiel habe ein Afghane in Bulgarien nur eine 1,7-prozentige Chance auf Asyl gehabt, in Italien dagegen habe er sich einer Anerkennung fast sicher sein können. Die Warnung der Verfasser:
    "Diese Mängel haben weitreichende Folgen. Wenn Mitgliedsstaaten die rechtlichen Vorgaben nicht stringent einhalten können, entsteht eine wachsende Spaltung zwischen Recht und Praxis. Das führt zu schlechteren Bedingungen für Asylbewerber. Verzögerungen bei der Registrierung und bei der Entscheidung von Asylanträgen können dazu führen, dass Bewerbern grundlegende Leistungen wie Gesundheitsversorgung oder Bildung verwehrt bleiben. Für diejenigen, die schließlich Asyl erhalten, kann das die Möglichkeit erheblich verschlechtern, sich in die Gesellschaft zu integrieren."
    Diese Zeilen machen deutlich, dass die EU im Streit um die Dublin-Reform grundlegende Voraussetzungen für ein gelungenes Asylsystem schleifen lässt. Neben den Aufnahmebedingungen unterscheiden sich auch die Rechtsansprüche der Asylbewerber. In Ländern wie Deutschland werden Widersprüche gegen einen Ablehnungsbescheid vor einem regulären Gericht verhandelt und können unter bestimmten Bedingungen bis in die dritte Instanz vors Bundesverwaltungsgericht gehen. Andere Staaten wie Großbritannien, Frankreich oder Belgien haben eigene Gerichte für Asylfragen eingerichtet. In Griechenland oder Polen entscheiden nicht Gerichte, sondern Behörden über die Widersprüche von Asylbewerbern.
    Auch über wie viele Instanzen Revision eingelegt werden kann, ist unterschiedlich. Einige Staaten wie Slowenien oder Italien haben von ursprünglich drei Instanzen eine gestrichen. Auch die österreichische Regierung hatte das vor, erntete dafür aber den Widerspruch des Verwaltungsgerichtshofs.
    Die große Schwäche der Dublin-Verfahrens
    Die EU lässt die unterschiedlichen Formen von Revisionsverfahren zu. Geplant ist aber, die Länge regulärer Verfahren auf sechs Monate und die von Schnellverfahren auf zwei Monate zu begrenzen. Der Europarechtler Daniel Thym von der Universität Konstanz hält die unterschiedlichen Aufnahmebedingungen für eine der großen Schwächen des Dublin-Verfahrens.
    "Erstens sind die Regeln strukturell ungerecht, weil sie die Außengrenzstaaten übervorteilen. Wir haben also ein Solidaritätsdefizit. Zweitens sind die Regeln zu komplex. Sie funktionieren in der Praxis nicht, insbesondere die Rückführung. Und drittens haben wir viel zu große Unterschiede zwischen Mitgliedsstaaten, etwa bei den Aufnahmebedingungen oder auch bei der wirtschaftlichen Attraktivität."
    Klar ist aber auch: Jede Vorstellung von einer gemeinschaftlichen Aufnahme, Verteilung und Versorgung von Asylbewerbern scheint in weiter Ferne. Wenn es nach Cecilia Wikström geht, der schwedischen Dublin-Berichterstatterin aus dem Europaparlament, sollten die Zauderer einfach überstimmt werden.
    "Nach den Europäischen Verträgen entscheidet der Rat in Fragen von Asyl und Einwanderung mit Mehrheitsvotum. Aber Ratspräsident Donald Tusk hat wieder und wieder gesagt, er wolle, dass die Mitgliedsstaaten einstimmig dahinter stehen. Das heißt aber, dass wir nie eine Stellungnahme des Rats bekommen werden."
    Das Problem ist nur, dass die EU schmerzliche Erfahrungen mit Mehrheitsentscheidungen in Sachen Asyl gemacht hat. Nach der Krise von 2015 wurden zwar verpflichtende Verteilungsquoten gegen die Stimmen unter anderem der Visegrád-Staaten festgelegt. Aber die weigern sich bis heute beharrlich, sie umzusetzen.
    Unterschiedliche Formen und Phasen von Solidarität
    Nichts lässt darauf schließen, dass es nach einem per Mehrheitsbeschluss geänderten Dublin-Abkommen anders wäre. Die CSU-Europaabgeordnete Monika Hohlmeier hält deshalb wenig davon, die Reformgegner zu überstimmen.
    "Ehrlich gesagt, glaube ich, dass mit dieser qualifizierten Mehrheit keine Lösung einhergegangen ist, sondern zum Teil sogar eine stärkere Trennung und Auseinandersetzung und noch mehr Misstrauen zwischen den Mitgliedsstaaten."
    SPD-Migrationspolitiker Lars Castellucci plädiert deshalb für mehr Geduld mit den unwilligen Mitgliedsstaaten und für eine Aufgabenteilung statt verpflichtender Aufnahme von Asylsuchenden.
    "Dass wir sie nicht herauslassen aus der Verantwortung, aber dass wir sagen, wir stülpen jetzt nicht von oben über mit Verteilungsquoten, wo jeder muss, sondern wir ermöglichen auch, die Fragen von Migration stärker als ein Paket zu sehen, und dass die einzelnen Mitgliedsstaaten der EU sich nach ihren Stärken und ihrem Willen an der Gesamtumsetzung beteiligen."
    Kurzum: Solidarität unter den Mitgliedsstaaten muss nicht bedeuten, dass alle dasselbe tun. Es gibt unterschiedliche Formen der Solidarität. Das könnte bedeuten: Deutschland nimmt zwar mehr Flüchtlinge auf, Staaten wie Ungarn oder Polen zahlen dafür mehr für die Grenzsicherung, die Entwicklung in Herkunftsländern oder für Aufnahmeeinrichtungen.
    Allerdings gebe es nicht nur unterschiedliche Formen, sondern auch unterschiedliche Phasen der Solidarität, warnt Migrationsforscherin Hanne Beirens:
    "Wenn also mal wieder mehr Flüchtlinge kommen, müssen alle ihre Verantwortung übernehmen. Darauf müssen wir uns einigen, andernfalls wird es kein Vertrauen in ein europaweites Asylsystem geben."
    "Wir müssen das System von unten aufbauen"
    Beirens setzt ihre Hoffnung darin, dass die EU mit praktischer Hilfe Überzeugungsarbeit leistet. Wenn etwa die EU-Asylagentur EASO Mitgliedsstaaten bei Asylverfahren und Widerspruchsverfahren unterstützt, wie die EU-Kommission kürzlich vorgeschlagen hat und wie es teils bereits geschieht, könne das Verweigerern die Argumente nehmen.
    "Wir müssen das System von unten aufbauen, denn dann wird es viel schwieriger für nationale Politiker zu sagen, sie hätten die Kapazitäten nicht. Denn dann sagen wir: Doch, habt ihr, wir haben euch doch geholfen, sie aufzubauen."
    Diese praktische Überzeugungsarbeit wird einige Zeit haben, sich zu entfalten. Denn im kommenden Jahr stehen Europawahlen an. Der Kommissionspräsident wird wechseln, und die Mehrheitsverhältnisse werden sich ändern. Mit einem entscheidenden Schritt hin zu einer Dublin-Reform in den kommenden zwei Jahren rechnet in Brüssel deshalb kaum jemand.