
Grenzsicherung auch "eine europäische Aufgabe"
"Das Thema Pushbacks beschäftigt uns hier in Griechenland schon seit vielen Jahren. Aber seit März haben wir eine steigende Zahl von Berichten von Pushbacks auf dem Meer, aber auch an der Landesgrenze."
Rechtswidrig ist dieses Vorgehen, weil nach dem völkerrechtlichen Prinzip der Nichtzurückweisung erst einmal jede Person das Recht hat in einem anderen Staat Zuflucht vor Menschenrechtsverletzungen zu finden, indem sie Asyl beantragen kann. Erst nach einem gescheiterten Asylverfahren darf abgeschoben werden. Griechenland aber bestreitet an illegalen Pushbacks beteiligt zu sein. Nicht selten argumentiert die griechische Seite, dass es sich bei den Bootsinsassen, die die griechische Küstenwache im Mittelmeer aussetzt, um freiwillige Rückkehrer handelt. Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis betont außerdem, dass Griechenland mit seiner Grenzsicherung auch eine europäische Aufgabe wahrnehme.
"Die Zuwanderung ist im vergangenen Jahr signifikant zurückgegangen, dank der Bemühungen, die unser Land unternommen hat seine Grenze deutlich effektiver zu schützen, die – ich wiederhole: auch die Grenzen von Europa sind. Und bei diesen Bemühungen brauchen wir mehr europäische Hilfe."
Dabei bekommt Griechenland schon jetzt europäische Hilfe - von Frontex, der europäischen Grenzschutzagentur. Und eben diese Hilfe steht seit einigen Monaten in der Kritik: Medienberichte unter anderem des Nachrichtenmagazins der "Spiegel" und des ARD Report Mainz werfen Frontex vor, von den illegalen Pushbacks der griechischen Küstenwache zu wissen und sie nicht zu verhindern.
Aufklärung angekündigt
Seither stellt sich vor allem eine Frage: Decken oder beteiligen sich EU-Grenzschützer an Menschenrechtsverletzungen der griechischen Küstenwache im Mittelmeer? Kurz nach Veröffentlichung der Berichte zeigte sich EU-Innenkommissarin Ylva Johansson über die Vorfälle alarmiert. Ihr Sprecher kündigte Aufklärung an:
"Ich will daran erinnern, was gesagt wurde, namentlich von EU-Innenkommissarin Johansson, dass wir von unserer Seite aus eine außerordentliche und dringende Sitzung des Verwaltungsrats von Frontex einberufen haben, bei der wir besonders über diese Fragen sprechen werden, aber auch über die Verpflichtungen der Agentur in Bezug auf die Menschenrechte."
In acht Fällen keine Menschenrechtsverstöße festgestellt
Hinzu kommt: In den übrigen acht Fällen konnte der Verwaltungsrat zwar keine Menschenrechtsverstöße feststellen. Allerdings laut "Spiegel"-Bericht zum Teil mit einer zweifelhaften Begründung: Demnach vertraue das Kontrollgremium auf die Darstellung der griechischen Küstenwache, dass die Boote mit Migranten freiwillig umgekehrt und zurück in die Türkei gefahren seien. Leggeri fühle sich deshalb entlastet und in seiner Arbeit bestätigt, hieß es im offiziellen Twitter-Account von Frontex gestern. Schon Anfang Dezember hatte der Agentur-Chef im EU-Parlament erklärt:
"In den sechs Fällen, über die Medien im Oktober berichtet wurden, haben wir auf der Basis unseres Berichts keine Beweise gefunden, dass es eine aktive, direkte oder indirekte Beteiligung von Frontex-Mitarbeitern an Pushbacks gegeben hat."
Leggeri "weicht Fragen aus"
"Das Problem mit Leggeri ist, dass er eigentlich allen Fragen ausweicht, egal ob die mündlich oder schriftlich gestellt werden und jedes Fehlverhalten von seiner Agentur kategorisch ausschließt. Und auf der anderen Seite gibt er zu, dass er schon im Juli von Pushbacks wusste, die von der griechischen Küstenwache stattgefunden haben und dass er davon den griechischen Migrationsminister informiert hat, aber das Parlament hat er nicht informiert. Und er hat auch keine weiteren Schritte eingeleitet. Also zum Beispiel hätte er offiziell warnen können, dass er Frontex aus diesen Bereichen, wo Pushbacks passieren oder passiert sind, eben zurückziehen kann, alles das, hat er nicht gemacht."
Kritisiert der Europaabgeordnete Damian Boeselager von der Partei Volt. Der Auftritt Leggeris im Innenausschuss hinterließ bei den Europaabgeordneten viele Fragezeichen, für manche zu viele. Die Sozialdemokraten forderten Leggeri zum Rücktritt auf. Die Grünen fordern einen Untersuchungsausschuss, für den aktuell aber die parlamentarische Mehrheit zu fehlen scheint. Man suche nun nach anderen Möglichkeiten sich in die Aufklärung einzuschalten, heißt es aus dem Parlament. Inzwischen jedenfalls ermittelt sogar die EU-Betrugsbekämpfungsbehörde Olaf gegen Frontex, wie sie vergangene Woche bestätigte. Die Ermittlungen sollen mit den Pushback-Vorwürfen zusammenhängen. Und sie sollen sich auch gegen Frontex-Chef Leggeri selbst richten.
EU-Grenzschutzagentur wächst beständig
"Natürlich kommt einem viel bekannt vor schon aus den Jahren davor. Aber der Vorwurf, vertuscht zu haben, der ist schon von einer etwas neuen Qualität. Jetzt lautet der Vorwurf vielleicht nicht unbedingt, Pushbacks angeordnet zu haben, aber von Informationen, die sie bekommen haben, keinen Gebrauch gemacht zu haben. Das ist, glaube ich, schon eine etwas neue Dimension."
Neu an den Vorwürfen ist für Keßler, dass der Agentur inzwischen vorgeworfen wird von Menschenrechtsverletzungen gewusst und nicht gehandelt zu haben. Überprüfen könne er diese Vorwürfe allerdings nicht, sagt Keßler. Und auch das Frontex-Konsultativforum hat keine so weitgehende Einsicht in Frontex-Arbeit.
"Wenn wir die Umsetzung angucken, dann steht im Mittelpunkt schon der schrittweise Aufwuchs einer ständigen Reserve von bis zu 10.000 Einsatzkräften, die an den Außengrenzen operieren sollen und deren Aufgabe es ist, Übertritte zu verhindern und Rückführungen durchzuführen. Und jetzt im Januar sollen bereits 6.500 Beamtinnen und Beamte aus den Mitgliedsstaaten entsandt werden. Deutschland stellt dabei den größten Anteil mit über 1.200 Polizistinnen und Polizisten."
Illegale Einreisen verhindern und Schlepper fassen
"Technisch gesehen patrouilliert Frontex mit Flugzeugen und Schiffen, Frontex verfügt über informationelle Überwachungssysteme, das Grenzüberwachungssystem Eurosur. Und dieses operiert wiederum mittels Satellitenüberwachung, mittels Drohnenaufklärung im Luftraum, eines vernetzten Schiffsmeldesystems etc. Und Frontex muss dazu natürlich mit den Mitgliedsstaaten, mit deren Rettungsleitstellen und Küstenwachen, kooperieren."
Welchen Schiffsverkehr gibt es gerade auf dem Mittelmeer? Steuert ein Boot aus Libyen gerade Richtung griechische Küste? Ist es ein Handelsschiff oder ein Boot mit Flüchtlingen? Solche Daten treffen sekündlich im Frontex-Hauptquartier in Warschau ein.
Wie die Mitarbeiter dort mit diesen Daten umgehen, ist nicht so leicht nachzuvollziehen. Frontex gewährt Pressevertretern nur selten Zugang zu seinem Hauptsitz. Mit den Mitgliedsstaaten funktioniert die Zusammenarbeit beispielsweise im östlichen Mittelmeer so: Knapp 600 Beamte patrouillieren entlang der griechisch-türkischen Grenze im Rahmen der "Operation Poseidon". Doch unabhängig agiert Frontex nicht:
"Wenn die Operation schließlich beginnt, hat das erste und letzte Wort der Mitgliedstaat, in dem die Operation stattfindet – in diesem Fall Griechenland."
Strittig ist, ob Frontex Vorwürfen nachgehen muss
"Grundsätzlich ist die Verpflichtung zur Seenotrettung in verschiedenen völkerrechtlichen Verträgen kodifiziert. Jeder Kapitän eines Schiffes, der Personen in Seenot auffindet, ist verpflichtet zu helfen. Und zwar in allen Gebiete auf See, auch jenseits der Gewässer, in denen ein Staat Hoheitsbefugnisse ausübt."
"Streitig ist, inwieweit Frontex Vorwürfe etwa gegen die griechische Küstenwache, sie hätten nicht gerettet, aufklären muss, und solchen Vorwürfen dann auch nachgehen muss."
Grundsätzlich unterliegt jeder Frontex-Beamte einer Meldepflicht, wenn er Menschenrechtsverstöße beobachtet, erklärt die Frontex-Pressestelle in Warschau. Häufig aber würden Nachfragen entweder nicht gestellt oder es folgten daraus keine Konsequenzen, kritisiert die Juristin Mariana Gkliati von der Universität Leiden:
"Anhand der neuesten Berichte sehen wir, dass, obwohl es systematische Verstöße gegeben hat, nur sehr wenige Zwischenfälle von den dort stationierten Frontex-Mitarbeitern übermittelt wurden. Und wenn Meldungen gemacht wurden, waren sie sehr mild formuliert. Es gibt also eine Tendenz zur Kollegialität dahingehend, die Kollegen und das Gastgeberland nicht in eine unangenehme Situation zu bringen."
Nach Ansicht von Mariana Gkliati ist das einer der Gründe, warum der Verwaltungsrat und seine Arbeitsgruppe bisher keine Rechtsverstöße von Frontex nachgewiesen haben. Und: Wird ein Fall gemeldet, ist offenbar wenig Aufwand nötig, um einen Pushback-Vorwurf auszuräumen. Dem Kontrollgremium scheint bei mehreren kritischen Fällen die Antwort von Frontex genügt zu haben, dass laut griechischer Küstenwache die Boote freiwillig in die Türkei zurückgekehrt seien. So berichtet es der "Spiegel", dem dazu ein interner vorläufiger Bericht vorliegen soll. Auch der Fall der Bundespolizisten, die sich wunderten, warum die griechische Küstenwache ohne gerettete Migranten in den Hafen zurückkehrte, sei zu den Akten gelegt, weil die Migranten laut griechischer Küstenwache angeblich kein Asyl beantragen wollten.
"Interne Aufklärung reicht nicht aus"
"Eine interne Aufklärung durch den Frontex-Verwaltungsrats reicht nicht aus. Wir brauchen auf jeden Fall mehr Aufklärung von außen, womöglich braucht es auch eine unabhängige Aufklärung durch eine unabhängige Stelle. Der Libe-Ausschuss des Europäischen Parlaments hat einen Vorschlag gemacht, einen speziellen Unterausschuss einzurichten. Damit ließe sich die Geheimhaltung wahren, auf die Frontex ja auch pocht und andererseits die demokratische Kontrolle erleichtern, das wäre vielleicht eine Möglichkeit."
Die Politologin* schlägt vor den Ausschuss für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres im Europäischen Parlament in die Kontrolle einzubinden, um eine wirksame parlamentarische Kontrolle herzustellen. Zunächst jedoch solle Frontex wenigstens die Kontrollmechanismen nutzen, die bereits vorgesehen sind. Seit zehn Jahren gibt es das Amt der Grundrechtebeauftragten. Es hätte längst ausgebaut werden müssen, sagt Professorin Petra Bendel:
"Eigentlich muss man sagen, dass der Aufwuchs der Stellen für die Grundrechte in keiner Weise im Verhältnis steht zur Größe und zum Mandat der Agentur, auch finanziell nicht. Frontex hatte im vergangenen Jahr ein Gesamtbudget von 460 Millionen Euro. Und davon ging eine Million an die Grundrechtestelle."
Und von den 40 Grundrechte-Beobachtern, die Frontex seit 2019 einstellen soll, arbeitet bei der Agentur noch kein Einziger. Eigentlich sollten die Stellen bis spätestens Dezember des vergangenen Jahres besetzt sein. Frontex führt die Corona-Pandemie und bürokratische Schwierigkeiten an, dass dies bisher nicht geschehen ist.