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EU-Spitzenämter
"Warum müssen wir für Herrn Schulz Sonderregeln schaffen?"

Bisher sei die Amtszeit des EU-Parlamentspräsidenten immer auf die zusammenarbeitenden Parteien aufgeteilt worden, sagte Herbert Reul von der EVP-Fraktion im Deutschlandfunk. Er verstehe daher nicht, wieso die Sozialisten für ihren Kandidaten Martin Schulz die vollen fünf Jahre in Anspruch nehmen wollen.

Herbert Reul im Gespräch mit Dirk-Oliver Heckmann | 24.06.2014
    Herbert Reul, Vorsitzender der CDU/CSU-Gruppe im Europaparlament, kommt am 26.05.2014 in Berlin zur Sitzung des CDU Präsidiums am Konrad-Adenauer Haus an.
    Herbert Reul, Vorsitzender der CDU/CSU-Gruppe im Europaparlament. (dpa / Michael Kappeler)
    Wenn man im Parlament zusammenarbeiten wolle und auf Stabilität setze, müssten die beiden großen Parteien zusammenarbeiten. "Bisher war es immer so, dass man die Amtszeit halbiert, das wollen die Sozialisten nicht", betonte Reul.
    Wenn die EVP den Präsidenten der Kommission stelle, sei es logisch, das die Sozialisten bei anderen europäischen Ämtern eine Rolle spielen werden, räumt er ein.
    Flexibilität bei Stabilitätspakt gefährlich
    Im Hinblick auf Sigmar Gabriels Unterstützung Italiens und Frankreichs, den Europäischen Stabilitätspakt aufzuweichen, sagte Reul: "Das ist schon dramatisch, wenn die Sozialisten sagen, sie machen die Spendierhosen wieder auf". Wir sollten Fehler nicht wiederholen, sagte er. "Aber wenn das die Hintertür ist, um den Kurs zu drehen, weg vom Sparen, hin zum Ausgeben, dann ist das falsch."
    Krisenländer können Strukturmittel abrufen
    Wachstum heiße nicht Geld ausgeben, betonte Reul. Er sieht in der Aufweichung die Aushebelung der Kriterien des Stabilitätspaktes. Die gewünschte Flexibilität, die die Sozialisten damit erreichen wollten, sei bereits da. Denn Krisenländer wie Spanien und Italien könnten ihre Investitionen über Strukturmittel finanzieren, für die sie Sonderregelungen erhalten haben. Jedoch werde davon kein Gebrauch gemacht. Er warnter: "Es wird ein Drama, wenn wir zur Verschuldungspolitik von vor ein paar Jahren zurückkehren".

    Das vollständige Interview können Sie hier nachlesen:
    Dirk-Oliver Heckmann: Auf europäischer Ebene, da wird hinter den Kulissen gerade das ganz große Rad gedreht. Natürlich geht es um die Frage, wird Jean-Claude Juncker nächster Präsident der EU-Kommission. Es geht um die politische Zukunft von Martin Schulz, der wenn schon nicht Kommissionschef, wenigstens Vizepräsident der Kommission werden wollte. Und nicht zuletzt geht es um die Frage, welchen Kurs die neue Kommission einschlagen soll in der Euro-Rettungspolitik. Die Sozialdemokraten und Sozialisten Europas fordern ja, mehr auf Wachstum und weniger aufs Sparen zu setzen, und deren Stimmen werden schließlich gebraucht, um Jean-Claude Juncker als Kommissionschef durchzusetzen. – Am Telefon ist Herbert Reul, er ist Chef der CDU/CSU-Gruppe im Europaparlament. Schönen guten Morgen, Herr Reul!
    Herbert Reul: Schönen guten Morgen, Herr Heckmann.
    Heckmann: Die Sozialdemokraten und die Sozialisten fordern lautstark von Angela Merkel, sie solle Jean-Claude Juncker als nächsten Kommissionspräsidenten durchsetzen. Verkehrte Welt, denn Juncker ist schließlich kein Sozialist und auch kein Sozialdemokrat, sondern war Spitzenkandidat der Christdemokraten. Wird Ihnen bei so viel Unterstützung mittlerweile etwas mulmig zumute?
    Reul: Nein, das ist logisch. Die SPD, die Sozialisten haben ja eine Riesenaktion gemacht, um unter der Überschrift "Was wird aus Herrn Schulz?" ihn zum Kommissionspräsidenten zu organisieren, und haben das festgemacht an der Frage eines Automatismus bei der Spitzenkandidatur, und insofern ist es total logisch, wenn sie für sich das Recht in Anspruch genommen haben, die stärkste Fraktion stellt den Kommissionspräsidenten. Dann gilt das jetzt auch, wenn die EVP gewonnen hat.
    Heckmann: Aber die Sozialdemokraten werden gebraucht bei der Abstimmung im Parlament, denn der neue Kommissionschef braucht ja eine Mehrheit dort bei der Abstimmung, und die Sozialdemokraten, die werden etwas dafür haben wollen, und das hat Sigmar Gabriel und Francois Hollande beispielsweise in Paris ja deutlich gemacht mit Blick auf den Stabilitätspakt.
    Keine fünf Jahre für Schulz
    Reul: Ja bei denen wechseln die Preise täglich. Da gab es zuerst den Preis, der deutsche Kommissar solle Schulz heißen, was mit der Frage des europäischen Spitzenkandidaten gar nichts zu tun hat, sondern mit der Frage, wer in Deutschland die meisten Stimmen erreicht hat. Die Frage ist eigentlich klar, nämlich die CDU. Dann hat es den Versuch gegeben, es zu kombinieren mit der Präsidentschaft von Herrn Schulz im Parlament, und zwar nicht nur für zweieinhalb Jahre, sondern für eine Doppelperiode, was es noch nie gegeben hat, also für fünf Jahre.
    Und jetzt wird nachgeschoben und da muss man sehr sorgfältig sein, dass gesagt wird, das machen wir nur, wenn Inhalte passen. Finde ich sehr merkwürdig, denn wenn ich mich recht erinnere, haben die vor der Wahl schon immer gesagt, die stärkste Fraktion stellt den Präsidenten – Ende! Und plötzlich geht es jetzt um Inhalte, deswegen muss man höllisch aufpassen. Ich bin überhaupt nicht einverstanden damit, dass für eine Selbstverständlichkeit, dass die stärkste Fraktion den Präsidenten der Kommission stellt, dass dafür jetzt politische Inhalte geopfert werden, die lebensgefährlich sind.
    Heckmann: Das heißt, Sie sind weder bereit, den Sozialdemokraten, den Sozialisten auf personellem Gebiet entgegenzukommen, und auch nicht auf inhaltlichem Gebiet?
    Reul: Langsam! Jetzt muss man unterscheiden. Wenn die EVP den Präsidenten der Kommission stellt, ist es vollkommen logisch, dass bei den Aufgaben, die da noch verteilt werden, Hoher Kommissar, Ratspräsident, auch die Sozialdemokraten eine große Aufgabe in der Kommission bekommen. Das ist im Fluss und ich gehe davon aus, das wird auch so sein:
    Heckmann: Der deutsche Kommissar jedenfalls soll ja von der CDU bestellt werden mit Günther Oettinger.
    Reul: Ja. Das ist ja auch was ganz anderes. Das eine ist die Ebene der europäischen Ämter ...
    Parlamentspräsidentschaft wird aufgeteilt
    Heckmann: Da geht die SPD ja wieder leer aus.
    Reul: Das eine ist die Ebene der europäischen Ämter. Da geht es wirklich um die Frage, wenn eine Partei eine große Aufgabe bekommt, bekommen die anderen auch eine. Das finde ich in Ordnung. Der deutsche Kommissar hat doch damit gar nichts zu tun, sondern jedes Land hat das Recht, einen Kommissar vorzustellen, und das hat was zu tun mit den nationalen Lagen, und bei der Europawahl war nun die CDU leicht, um es mal zu sagen, ganz deutlich vor den Sozialdemokraten. Der Fall ist also klar.
    Das Dritte ist die Situation im Parlament selber. Wenn man im Parlament Zusammenarbeit organisieren will – und ich glaube, das ist notwendig, weil wir viele Splittergruppen haben, weil ansonsten hier ein kleines Chaos droht wir haben ja dank des Wegfalls der Fünf-Prozent- und Drei-Prozent-Klauseln hier eine sehr muntere Ansammlung von vielen kleinen Gruppen -, wenn wir Stabilität im Parlament haben wollen, müssen die beiden großen Fraktionen sich einigen, und das war in der Vergangenheit immer so, dass das nach dem Motto ging, dann kriegt einer beim Präsidenten des Parlaments die erste Hälfte und einer die zweite Hälfte. Und wenn da die Sozialisten Herrn Schulz vorschlagen, finde ich das total okay, hat allerdings überhaupt nichts mit der Juncker-Frage zu tun.
    Jetzt geht es um die Wurst, weil jetzt die Sozialisten – und zwar die deutschen an der Spitze, wie ich merke – den Versuch unternehmen, da reinzumogeln eine Kehrt-Marsch-Politik in den Inhalten. Das, was über viele Jahre jetzt gemeinsam erkämpft worden ist, übrigens nicht von irgendeinem anderen aufgedrückt, sondern verabredet worden ist, die Staaten haben zugestimmt, die nationalen Parlamente haben zugestimmt, nämlich eine sparsame Haushaltsführung, der Versuch, die Schulden wieder zurückzudrängen – ich wüsste übrigens auch keine Alternative dazu -, das ist jetzt schon dramatisch, wenn jetzt die Sozialisten sagen, wir machen jetzt wieder die Spendierhose auf und das Geld fließt wieder.
    Stabilitätspakt muss bleiben
    Heckmann: Man kann den Sozialdemokraten natürlich nicht vorwerfen, dass sie auch über Inhalte reden wollen und über den inhaltlichen Kurs der nächsten Kommission. Und die Sozialdemokraten sagen ja auch, dass es nicht um neue Regeln geht, dass der Stabilitätspakt geändert werden soll, sondern es geht nur darum, diesen Pakt flexibel zu handhaben, und das sieht der Pakt ja auch ausdrücklich vor. Er heißt schließlich Stabilitäts- und Wachstumspakt.
    Reul: Ja. Aber Stabilität ist die Voraussetzung für Wachstum, haben wir in Deutschland gelernt. Übrigens auch die europäische Geschichte bietet da interessante Beispiele. Sie erinnern sich Anfang der 2000er-Jahre, als Deutschland und Frankreich beschlossen, sich nicht mehr an die Stabilitätskriterien zu halten, sondern sich höher zu verschulden. Das war der Dammbruch. Danach wurde 68 Mal gegen diesen Stabilitätspakt verstoßen und das Ergebnis war nachher zu besichtigen: Griechenland, Spanien und alles. Ich meine, werden wir eigentlich nie klug? Wollen wir wirklich den Fehler wiederholen und wieder an den Anfang der Fehler zurückkehren? Ich verstehe das nicht.
    Flexibilität ja logisch, ich meine, dass wir immer bestimmte Situationen berücksichtigen müssen. Aber wenn das die Hintertür ist – und so sieht es ja aus -, um den Kurs zu drehen - es geht ja nicht um Modifikation, es geht um Drehen, weg von dem Sparen, hin zum Ausgeben - dann ist das falsch.
    Strukturfonds-Mittel werden nicht abgerufen
    Heckmann: Aber man hat ja manchmal den Eindruck, dass die Deutschen, dass Berlin den anderen Ländern vorschreibt, wie sie sich zu verhalten haben, man selber hält sich an diese Regeln aber, wenn es einem gerade passt, so ungefähr. Nur um das Stichwort Abwrackprämie mal zu nennen. Wenn Länder des Südens in Reformen investieren, in die Infrastruktur, muss das dann nicht stärker berücksichtigt werden beim Schuldenabbau?
    Reul: Das muss berücksichtigt werden. Es wird übrigens jetzt schon berücksichtigt. Bei den Strukturfonds-Mitteln gibt es Mittel ohne Ende, die nur nicht abgerufen werden. Gucken Sie sich mal an, ob Spanien, Italien, in welchem Maße sie eigentlich diese Strukturmittel fordern? Oder diese berühmten Jugendmittel. Wir reden alle von Jugendarbeitslosigkeit, haben sechs Milliarden eingesetzt; nach meinem Kenntnisstand gestern ist ein einziger Antrag, der vorliegt. Ich meine, was soll das dumme Geschwätz, immer mehr Geld zu haben?
    Dann soll man doch erst mal Strukturen schaffen, dass man das, was da ist an Mitteln, klug einsetzt. Da bin ich sofort dafür. Übrigens Wachstum heißt nicht Geld ausgeben. Wachstum heißt erstens Stabilität in den Finanzen haben, zweitens Strukturen haben, das ist unbedingt zwingend. Drittens Innovation und Forschung vorantreiben. Darum geht es, aber doch nicht, um noch eine Straße zu bauen.
    Heckmann: Dass allerdings Mittel nicht abgerufen werden, die von Europa aus zur Verfügung gestellt werden, das liegt auch unter anderem daran, dass in den Mitgliedsländern teilweise kein Geld da ist, um diese Co-Finanzierung zu finanzieren.
    Reul: Genau deshalb haben wir diese Kriterien geändert, und zwar seit längerer Zeit. Das scheint auch keiner mitzukriegen. Es ist heute gar nicht mehr so zwingend. Die Länder, die unter dieses Spardiktat oder unter diese Spardiskussionen fallen, die, die aufpassen müssen, die sparsam mit dem Geld umgehen müssen, die haben Sondermöglichkeiten, diese Strukturfördermittel einzusetzen. Die Flexibilität ist längst da! Die Herrschaften müssen sie nur mal nutzen. Aber ich meine, überlegen Sie sich mal: So ein Land wie Frankreich kriegt den Haushalt nicht in den Griff und kauft jetzt 20 Prozent einer Firma. Ich glaube, ich stehe im Wald!
    Kriterienaufweichung führt zu Verschuldungspolitik
    Heckmann: Die Flexibilität ist da, Regierungssprecher Steffen Seibert hat das gestern auch schon gesagt, und Fristverlängerung beim Abbau der Schulden ist möglich und ja auch schon bereits angewendet worden. Müssen wir uns aber darauf einstellen, dass das in Zukunft öfter der Fall sein wird?
    Reul: Die Frage ist, ob das zur Regel wird, um es mal noch klarer zu sagen. Die Franzosen haben eine Verlängerung bekommen, haben nichts geändert an ihrem Kurs. Muss man dann als Dankeschön die Frist noch mal verlängern? Ist das richtig? Und noch mal und noch mal und noch mal und damit im Grunde das ganze Instrument aushebeln, die Gefahr besteht jetzt. Deswegen muss man jetzt sehr sorgfältig diskutieren und sehr sorgfältig klären: Wenn das dazu dient, wieder zurück, Marsch Marsch, zur Verschuldungspolitik von vor ein paar Jahren, dann wird das ein Drama, und deswegen bin ich da so störrisch. Ich finde und wir als EVP-Fraktion, auch als CDU/CSU-Gruppe haben dazu uns selber auch inhaltliche Positionierungen festgeschrieben, wir haben in den letzten Tagen zusammengesessen und haben versucht, einfach mal zu formulieren, was geht und was geht nicht, und genau das ist die Grenze. Wenn das dazu führt, diese Verabredung, die zwischen den Staaten getroffen worden ist, Griechenland, Spanien, die haben ja alle zugestimmt, die Franzosen haben doch zugestimmt, dann können sie sich jetzt nicht durch die Hintertür verabschieden.
    Heckmann: Inhaltlich wollen Sie den Sozialdemokraten auf diesem Gebiet nicht entgegenkommen und personell sieht es auch nach einem Durchmarsch eher der Konservativen, der Christdemokraten aus: Juncker als Kommissionspräsident, dann Günther Oettinger als deutscher Kommissar in der Kommission. Jetzt gibt sich Martin Schulz wie erwähnt mit dem Amt des Parlamentspräsidenten zufrieden. Er will dann aber die vollen fünf Jahre machen, wie Sie es gerade auch schon angesprochen haben. Ist das nicht das Mindeste, was Sie dann den Sozialdemokraten zugestehen müssen?
    Reul: Sie irren! Entschuldigung! Ich habe nicht gesagt, Durchmarsch. Ich habe gesagt, bei den europäischen Aufgaben, Ratspräsident oder Hoher Kommissar gehört in die Hand der Sozialisten, das ist vollkommen klar. Da habe ich mich nie gesperrt.
    Zweitens: Beim Parlamentspräsidenten gelten die alten Regeln. Wenn man Zusammenarbeit der großen Fraktionen organisiert, wird die Amtszeit geteilt. Das heißt, natürlich können die Sozialisten Herrn Schulz für zweieinhalb Jahre vorschlagen. Aber warum müssen wir eigentlich für Herrn Schulz Sonderregeln schaffen? Was ist das denn für ein Zustand? Das war bisher eine vernünftige und kluge Regel, das war eine faire Regel und die gilt auch in Zukunft. Ich habe auch nicht den Eindruck, dass die jetzt noch infrage gestellt wird. Das ist vor ein paar Wochen mal infrage gestellt worden. Wir haben ja überhaupt seit vielen Wochen in Europa nur über die Frage diskutiert, was wird aus Herrn Schulz.
    Heckmann: Wir werden sehen, was aus Herrn Schulz wird und wie die ganze Sache weitergeht. – Herbert Reul war das, der Chef der CDU/CSU-Gruppe im Europaparlament. Herr Reul, danke Ihnen für das Gespräch.
    Reul: Bitte sehr!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.